Burgtheater: Zdeněk Adamec

September 19, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Frank Castorfs grausiges Grand Guignol

Ein Mann in brennendem Mantel geht stoisch, schweigsam, schaurig über die Bühne: Marcel Heuperman, Mavie Hörbiger, Franz Pätzold und Hanna Hilsdorf. Bild: © Matthias Horn

Nach dem „Faust“ an der Staatsoper und Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=47456) schloss Frank Castorf gestern Abend am Burgtheater seinen Wien-Hattrick mit der Inszenierung von Peter Handkes „Zdeněk Adamec“ ab. Dass der Autor ein Meister der leisen Zwischentöne ist, der seinen Text demgemäß auch „eine Skizze“ nennt, kränkelte Polter-Geist Castorf nicht eine der 255 Minuten Spieldauer an.

Auf des einen feinnervige Reserviertheit antwortet der andere mit nervösem Rambazamba. Ein wilder Widerspruch der beiden das Schützenswerte im Menschen hochhaltenden Wut-Verwandten, der störrisch-spröde Literaturnobelpreisträger und der sture Bühnenexpressionist, was sich mit Blitz und Theaterdonner höchst erfrischend entlädt. Was sich auf der Bühne ereignet, ist extrem, exzentrisch, exaltiert. „Bitte macht mich nicht zum Narren“, schrieb Zdeněk Adamec als letzten Satz in seinem Abschiedsbrief. Dafür hält Castorf jetzt ein grausiges Grand Guignol ab, dies, weiß der frankophile Frank, nicht nur das gallisch-gallige Pendant zum Kasperl, sondern auch Gattungsbezeichnung für grotesk-triviales Gruseltheater.

Handkes titelgebende Figur ist ein real existiert habender Mensch. Am Abend des 5. März 2003 fuhr der 18-jährige Schüler Adamec mit einem Überlandbus von seiner Heimatgemeinde Humpolec nach Prag, um sich dort auf den Stufen des tschechischen Nationalmuseums auf dem Wenzelsplatz mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Zdeněk ist ein Selbstmörder, der um den historischen Bezug seiner Tat weiß: 1968 verbrannte sich ebendort der Student Jan Palach als „Fackel No.1“ aus Protest gegen die Okkupation durch sowjetische Truppen.

Adamec hingegen adressiert als „Fackel 2003“ die „lieben Bewohner der ganzen Welt“, plädiert für die „totale Demokratie“, ruft auf mit Kriegen, Kapitalismus und Korruption, heißt: sozialen Ungerechtigkeiten, der Umweltzerstörung, der Macht des Geldes Schluss zu machen … Bald ist der Fall vergessen. Bis ihn Peter Handke 2017 in seinem Roman „Die Obstdiebin“ erstmals aufgreift. Adamec ist ihm kein „verstörter Jugendlicher“, wie Vaclav Klaus versuchte, die Selbsttötung kleinzureden, kein von existentiellem Ekel befallener Unzurechnungsfähiger – doch wer dann?

Marcel Heuperman und Franz Pätzold. Bild: © Matthias Horn

Liebling, hältst du mal die Axt? Mavie Hörbiger. Bild: © Matthias Horn

Mehmet Ateşçi und Marcel Heuperman. Bild: © Matthias Horn

In seiner bei Suhrkamp erschienenen 71-Seiten-Albtraumballade sucht Handke dies nur bedingt zu ergründen, und Castorf gesteht ihm im Interview – befragt nach Handkes proserbischem Engagement, in Stück schreibt er: „Zeige niemandem deine Heimat!“ – zu, dass ein Dichter andere Tatsächlichkeiten, Ansichten und Ansätze haben dürfe als Otto Normalo. Sieben Spielerinnen und Spieler, Mehmet Ateşçi̇, Marcel Heuperman, Hanna Hilsdorf, Mavie Hörbiger, Franz Pätzold, Marie-Luise Stockinger und Florian Teichtmeister, schickt er los auf die Pirsch nach einer Geschichte, sie sind Beobachtende, Erzählende, Gestrandete im Mentalitätskaff Humpolec, Sich-ihren-Teil-von-der-Story-Nehmende – und letztlich per Rollennamen auch sie selbst.

„Eine Inszenierung von Frank ist nie kurz“, bescheidet Franz dem Florian. Gelächter. „Wo bleibt denn die Requisite?“, fragt Marcel besorgt, als der volltrunkenen Marie-Luise der Sprit – eine Plastikkalaschnikow voll Schnaps – ausgeht. „Jetzt müssen wir einmal den roten Faden wieder finden“, fordert Mavie die anderen auf. Denn Kernthema ist, besungen von Georg Danzer: „Die Freiheit“, auch die, sich das Leben zu nehmen, der Kernsatz zu Adamec‘ medialem Verschwinden: „Es scheint, als würde es nur um Aktualität gehen und hinter der Aktualität keine Welt.“ Ihrer auf Spekulationen und Mutmaßungen basierenden Aufführung des Ewig-Unbegreifbaren misstrauen sie selbst: „Woher weißt du das?“ fragen sie einander immer wieder skeptisch.

Auf die Drehbühne hat Castorfs Longtime Companion Aleksandar Denić, die mal königlichen, mal klobigen Kostüme sind von Adriana Braga Peretzki, Handkes „Feierabendleuten“ diverse Spielorte gestellt. Unorte an der städtischen Peripherie, eine Autobushaltestelle, eine grün gestrichene Baracke mit Hinterhof-Ausschank und Außendusche, eine Deponie voller Benzinfässer. Darüber große Werbetafeln für bosnische und serbische Zigaretten, wo viel Rauch, da auch viel Feuer, und Handke erinnert in seinem Text an die großen Leuchtreklamen internationaler Konzerne am Wenzelsplatz, die den jungen Mann im letzten Augenblick darin bestärkten, das ihm richtig erscheinende zu tun.

Florian Teichtmeister, Hanna Hilsdorf, Mavie Hörbiger und Marie-Luise Stockinger. Bild: © Matthias Horn

Mehmet mit den Scherenhänden: Florian Teichtmeister und Mehmet Ateşçi. Bild: © Matthias Horn

Im Chaos gleich einem klassischen Calderón-Helden: Marcel Heuperman und Franz Pätzold. Bild: © Matthias Horn

Bude zerlegt: Hilsdorf, Hörbiger, Stockinger, Heuperman, Teichtmeister, Ateşçi und Pätzold. Bild: © Matthias Horn

Castorf setzt darüber als ohnmächtige Verhöhnung des unantastbaren Systems ein riesiges Billboard: „Let’s Start Burning“, womit die in Flammen stehende Sportlerin allerdings die Fettverbrennung beim Workout meint. Trostlosigkeit also in Humpolec, auf der Leinwand das „berühmte“ Autocrossrennen des Ortes samt ohrenbetäubendem Heavy Metal, jede verständliche Bemerkung die eine oder einer macht, kommentieren, relativieren die anderen als „… oder auch nicht!“-Chor. Ein derartiges Textkaleidoskop über die Rampe zu bringen, gelingt nur mit einem großartigen Ensemble wie diesem.

Hanna Hilsdorf etwa, die Castorf von der Volksbühne mitgebracht hat, worüber sie auch ein reminiszentes Tränlein vergießen darf, Castorf, der Feminist anorektischer Frauenfiguren, der den Damen hier inhaltlich mehr zu spielen gibt, als den Herren. Nach der Pause gesellt sich zum lakonisch vorgetragenen Nonsens-Hintersinn eine häppchenweise Adamec-Abhandlung, Mavie gebiert unter Schmerzen das Baby Zdeněk, das als Spielzeugpuppe gespenstisch auf und davon krabbelt, Franz macht sich zum Alter Ego punkto der Angelegenheit „sich selbst abzuschaffen“, schön und gut, dass Castorf Handkes Hang zum Pathos plattgemacht hat, doch er tut’s an dieser Stelle auch mit dem Performer.

Ziehen doch die rätselhaften Bilder einer Postapokalypse aus Jan Schmidts tschechischem 1967er-Schwarzweiß-Spielfilm „Ende August im Hotel Ozon“ die Aufmerksamkeit auf sich. Ansonsten ist Castorf um Ideen nie verlegen. Ein Mann in brennendem Mantel geht stoisch, schweigsam, schaurig über die Bühne. Im Inneren des grünen Häuschens, Wohnküche und Stockbetten-Schlafzimmer, und für seine Begriffe setzt Castorf Andreas Deinerts Live-Kameras diesmal relativ spät ein, kocht Florian ein Karottensüppchen, das ihm Mehmet mit den Scheren- händen später, da ersterer auf der Toilette sitzt, über den Unterleib kippt. Auch dies wohl eine Art Metapher fürs Brennen, wie Castorf überhaupt einmal mehr klar macht, woraus der Mensch besteht: Blut und Scheiße.

Marie-Luise Stockinger und Ensemble. Bild: © Matthias Horn

Mehmet Ateşçi und Ensemble. Bild: © Matthias Horn

Hilsdorf und Hörbiger, auf der Leinwand: Pätzold und Heuperman. Bild: © M. Horn

Ebenfalls ungewöhnlich für den Godfather des deutschsprachigen Diskurstheaters ist der sparsame Einsatz von Fremdtexten. Castorf unterfüttert Handke mit Handke, ein wenig Céline kommt vor, Schillers ästhetische Briefe, das Darker Manifest, Adam Smiths „mitten im Schoße der Gefühligkeit hat der Egoismus sein Sein begründet“. Ivo Robic singt „Morgen“, Hans Albers „La Paloma“ und Karel Gott „… oder auch nicht“ die Modřanská Polka „Škoda lásky“ aka „Rosamunde“. Am Ende erklingt das ursprünglich russische Arbeiterlied, später NSDAP-Propagandalied, früher und später der Hit der sozialistischen Bewegung: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, verfasst 1895 von Leonid Petrowitsch Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis. Dies für alle, die sich nach der Beschaffenheit des Castorf’schen Humors fragen.

Und apropos, Ende: Es gibt jede Menge schöner Schlussbilder. Pätzold spielt das nunmehrige Chaos allüberall wie einen Klassiker. „Das Leben ein Traum“, hänselt ihn darob Heuperman (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41295). Auf ein Leintuch schreibt die Hörbiger wie einen Demoslogan auf Tschechisch „Bitte mach‘ mich nicht verrückt“ – und wird anschließend mit dem Rest des Ensembles im Regen stehen gelassen. Ein Video zeigt das reale Humpolec von heute als nettes Provinz-Städtchen, doch Mehmet Ateşçi̇ reagiert hysterisch schreiend: „Neiiiin!! Ich will nicht aufhören! Ich spiele weiter!“ Ein Lacher angesichts von Castorfs Endlos-Arbeiten, aber auch ein Appell ans Niemals-Vergessen. Dazu skandiert das Ensemble gemeinsam den Zungenbrecher „strc prst skrz krk“/Steck deinen Finger in den Hals.

Fazit: Grandseigneur Frank Castorf, früher standfest in Buh-Orkanen, nun im elegant-dunklen Anzug von Bravorufen begleiteten Applaus entgegennehmend, entfesselt ein Ensemble wie kein zweiter. Wie sie alle x-e Male die Masken wechseln, ihre Haltungen und Tics, das ist großes Kino. Am Burgtheater scheint sich dafür bereits eine Stammcrew herauszukristallisieren, samt Florian Teichtmeister, den man selten so brillant expressiv gesehen hat wie hier. Und weil eingangs vom Gruseltheater die Rede war: Für seine Darstellerinnen und Darsteller wandelte sich der Frank im Jubel gar zum Kuss-Monster. Und was das enthusiasmierte Publikum betrifft: Der Gemeinschaft der Unzufriedenen und nach Veränderung Strebenden gab die Aufführung ganz castorfesk in jedem Augenblick die Wahrnehmung dazuzugehören. Merci beaucoup et plus encore.

www.burgtheater.at           Teaser: www.youtube.com/watch?v=zAb-FXICTGw          Probeneinblicke: www.youtube.com/watch?v=7w76t1xcjM8

  1. 9. 2021

Akademietheater: Frank Castorf inszeniert Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“

September 7, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Nur das Schwein war nicht in Spiellaune

Marie-Luise Stockinger, Andrea Wenzl und Dörte Lyssewski. Bild: © Matthias Horn

Schweinereien ortet Elfriede Jelinek in Pandemie-Zeiten allüberall. Welch ein Symbol, das Borstenvieh – von Homer zu Jesus‘ Wundertaten, von Glücks- zu Sparschwein, „Männer sind Schweine“ von Die Ärzte, von Poe zu Hofmannsthal zu Orwell und dessen „alle sind gleich, aber manche sind gleicher“. Ein Blick. From pig to man, and from man to pig, but already it was impossible to say which was which. Hier knüpft die Jelinek mit ihrer am

Akademietheater als Höllenritt vorgetragener Textkaskade an, Frank Castorf hat die österreichische Erstaufführung inszeniert, und Mehmet Ateşçi, Marcel Heuperman, Dörte Lyssewski, Branko Samarovski, Marie-Luise Stockinger und Andrea Wenzl agieren, agitieren in dieser Tour de Farce dreieinhalb Stunden lang, als ginge es um ihr Leben. Die Jelinek’sche Assoziationsmatrix clustert diesmal Kirke, Zauberin der griechischen Mythologie und Verwandlerin von Odysseus‘ Gefährten in einen Stall voll Eber, mit Covidleugnern, Lockdown-Lagerkoller, Impfparanoia, Gerüchteköchen und anderweitigen Quer“denkern“, mit den Beschwichtigungs- und Vertuschungsversuchen der Politik.

Sebastian „Für jeden, der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei“ Kurz kommt nicht zu … kurz, ebenso wenig wie der Superspreader-Après-Skiort Ischgl, und zum Schluss der wortgewaltigen Perlen-vor-die-Säue-Reihe kriegt auch noch die tierquälerische Fleischindustrie ihr Fett weg. Derart mäandert der 80-Seiter von den Mächtigen zu den Mitläufern zu den Ohnmächtigen. Aleksandar Denić hat dazu neben Geldausgabe- und Cola-Automat eine raumfüllende Eisenmaske auf die Bühne gestellt, die sowohl die eines antiken Kriegers als auch jene von Ludwig XIV. geheimnisvollem Staatsgefangenen sein könnte. „Un pour tous, tous pour un“ dreht sich in Leuchtschrift ums eherne Haupt, womit in diesem Fall wohl die 99,4%-Parteitags-Musketiere gemeint sind.

Marie-Luise Stockinger vor der eisernen Maske. Bild: © Matthias Horn

Watschenmann-Bumsti, Mehmet Ateşçi̇ und Andrea Wenzl. Bild: © Matthias Horn

Marie-Luise Stockinger und Marcel Heuperman. Bild: © Matthias Horn

Adriana Braga Peretzki kleidet das Ensemble in allerlei ikonische Kostüme, von der katholischen Jungfrau Maria/Andrea Wenzl bis zum afrikanischen Voodoo-Wächter Zangbeto/Mehmet Ateşçi. Marcel Heuperman erscheint mal als Monsterhand, die Lyssewski weist sich mit blonder Haartolle und leuchtendem Lippenrot als Autorin-Alter-Ego aus und ist auf der Suche nach denen, Achtung: Kalauer, „die sich auseinandersetzen“. Anhebt ein Versteckspiel in einem Labyrinth misszudeutender Sinnbilder und Nonsens-Sprüche, und glaubt man den Code endlich entschlüsselt zu haben, ist der längst ums nächste Satzzeichen gebogen, um sich dort in seine Gegenaussage zu verkehren. Eine Irrfahrt, wie weiland die der Ithaker.

Wie stets bei Frank Castorf ist das Wesentliche nur durchs Live-Kameraauge von Videodesigner Andreas Deinert sichtbar, ein Folter-/Kerker im Keller, ein prunkvolles Boudoir oder die Schaukel im Fleur-de-Lys-tapezierten Eisenschädel, allesamt sind sie Schau-Plätze für die lautstark lärmenden Wortgefechte, und als wäre Jelinek allein nicht genug Denksport, schleust der Großmeister des deutschsprachigen Diskurstheaters wie selbstverständlich wieder Fremdtexte ein. Die Schweinereien der Fleischindustrie werden mit Fahim Amirs kontraromantischem Karl-Marx-Preis-Bestseller „Schwein und Zeit“ zur Pein und Hierarchien durch Philosoph Max Horkheimers gesellschaftlichen Querschnitt „Der Wolkenkratzer“ zur Wesensschau. Via Daniel Defoes fiktiven Dokumentarberichts „Die Pest zu London“ geht’s ebendorthin, und – apropos, Folter: durch Auguste Villiers de L’Isle-Adam grausame Novelle „Die Marter der Hoffnung“ nach Saragossa.

Tatsächlich ist die häppchenweise von der Wenzl erzählte Parabel eines Rabbis, den der spanische Großinquisitor nach einem Jahr der Qualen mittels Gluteisen langsam zu Tode befördern will, und den kurz vorm Ende ein Lichtstrahl des Entkommens blendet, eines der spannendsten Momente des Abends, eine Folie für vieles: fürs Konstrukt Wahrheit, die diverse divergierende Meinungskreise jeder für sich gepachtet haben wollen, für alternative Realitäten, Parallelwelten ohne Berührungspunkte, für die trügerische Chance auf Befreiung, Freiheit, Impf-Freispruch. Zu den Stoßgebeten der Verschwörungstheoretiker „Herr, lass‘ uns von der Spritze nicht chipen“ erscheint Sebastian Kurz, mal als Riesen-Pappmaché-Kopf ein Watschenmann-Lookalike, mal in vervielfachter Videoform, um die Erlöserworte zu sprechen.

Marie-Luise Stockinger. Bild: © Matthias Horn

Lyssewski, Ateşçi̇, Stockinger, Heuperman. Bild: © M. Horn

Mehmet Ateşçi̇ und Dörte Lyssewski. Bild: © Matthias Horn

Marie-Luise Stockinger und Edmund. Bild: © Matthias Horn

Castorf fokussiert aufs Österreichertum, er nimmt den „Menschenblock in Türkis“ (Ateşçi sagt: Türk-is) und dessen Messias-Medienstar mit Hang zu Un-/Heilsbotschaften aufs Korn, verknüpft seine Regie-Einfälle zum Gordischen Knoten, und so deichselt er’s, dass es dem – nebenbei bemerkt – hochamüsierten Publikum überlassen ist, den Splint aus der Deichsel zu ziehen. Wie Odysseus von Aiolos mit einem Schlauch heißer Luft getäuscht wurde, so lässt nun Kirke Wenzl Branko Samarovski an der Sauerstoffmaske zappeln. Die Atmosphäre ist aufgescheucht und aufgeregt, eine fiebrige Meute tummelt sich da auf der Bühne, Stockinger stöckelt über diese, skandiert immer wieder „ORF III“.

„So sind wir. Wir spielen für Österreich“, tönt’s aus dem Ensemble, „Fahren Sie her, sobald Sie es dürfen!“, „Habt’s scho Mittag g’essen?“, „Sind’S schon geimpft“, fährt Wenzl die erste Reihe an, und spätestens als das Wort vom Jung-Schar-Führer fällt, kippt die Satire in den Sarkasmus. Castorf, ein Schelm! Seine Inszenierung ist Schmierentheater auf allerhöchstem Niveau, in vielerlei Hinsicht eine Peepshow, in der die Darstellerinnen und Darsteller zwischendurch auch aus der Rolle platzen, um sich gegenseitig anzugiften, Mehmet die Marie-Luise wegen ihrer oberflächlichen Art, Dörte den Branko wegen einer längst verwehten Liebesgeschichte an der Schaubühne: „Du hast mir sooo auf die Beine gestarrt“ – „Das stimmt nicht, da hast du mir aufs falsche Auge geguckt!“ Tschingderassabum, was ein Lacher!

Im Schweinsgalopp geht es von Szene zu Szene. Jelinek-Lyssewski als blinde Seherin, die statt von falscher Kunde betrogen zu werden, empfiehlt sich selber kundig zu machen, Odysseus Samarovski als Seuchenbekämpfer, die drei Damen mit tollkühnem Kopfputz, darunter Wenzl im Mutter-Gottes-blauen EU-Umhang, von dem die güldene Mammonin Stockinger die Sterne reißt. Grandios ist diese Ischgl-Szene, in der diese versucht-feministische Dreifaltigkeit fassungslos die dokumentarischen Fotografien von Lois Hechenblaikner studiert. Hütten-Porn-Gaudi, Alkohol und andere schweinische Exzesse, Wenzl kippt Wodka, Stockinger Bier, Lyssewski peitscht den mit einem Hammer alles zu Brei schlagenden Ateşçi zwischen ihre Schenkel. Vulgär ist das, wie das Virus. Castorf stellt die Verrohung als autoaggressiven Akt, die sich steigernde Mitgefühllosigkeit als die schlimmste Menschenseuche aus.

Branko Samarovski und Andrea Wenzl. Bild: © Matthias Horn

Dörte Lyssewski und Brank Samarovski. Bild: © Matthias Horn

Branko Samarovski und Mehmet Ateşçi̇. Bild: © Matthias Horn

Wuchtiger geht es nach der Pause weiter, wenn Castorf zu den wohlfeilen Witzen die Assoziationsstränge zu einer groß angelegten Zivilisationskritik bündelt. Marcel Heuperman holt als menschliche Hand zum kapitalismuskritischen Monolog aus, das Schwein vorm Bolzenschussgerät ist ein Opfer dieses schlachtreifen Ausbeutersystem. Zwischen Strohballen kauert er im Schweinekoben, die arme Sau, und wettert gegen die Gier nach unendlichem Wirtschaftswachstum und die Schönschreibung schlechter Arbeitsbedingungen. Der Bankomat wird geschlachtet, man mästet sich am Geld. Sie trifft ins Schwarze, diese Sauerei. Castorf kann’s eben.

Und weil Österreich bekanntlich zwei Höchstgeehrte anzubieten hat, ist diesen Herbst ein Castorf-Doppel in Sachen Literaturnobelpreisträger angesagt: In seiner Inszenierung hat am 18. September Peter Handkes „Zdeněk Adamec“ am Burgtheater Premiere … Ach ja, das echte Schwein. Es heißt laut Programmheft Edmund und ist ein vietnamesisches mit Hängebauch, war aber am Premierenabend als einziges nicht spielfreudig, blieb, statt zum Bankomaten links zu laufen, rechts grunzend und im Stroh rüsselnd stehen, und trat alsbald wieder ab. Von wegen – Rampensau! Trotzdem: Szenenapplaus.

www.burgtheater.at           Teaser: www.youtube.com/watch?v=G1NrIC-caX8

  1. 9. 2021

Akademietheater: antigone. ein requiem

September 13, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Wertfrei hinter Werten stehen

Sarah Viktoria Frick als Antigone; der Chor: Mavie Hörbiger, Branko Samarovski, Dorothee Hartinger, Mehmet Ateşçi, Deleila Piasko und Markus Scheumann. Bild: Matthias Horn

„etwas weniger starres vielleicht nicht ein / klein wenig dynamischer oder ein / maßgeschneidertes slimfit system für / alle schön anpassungsfähig flexibel aber / streng in der form hart im urteil / wertebeständig wertneutral aktien / für alle statt staatlicher fürsorge die / doch nur zu abhängigkeit führt“

Unmöglich scheint’s, eine Thomas-Köck-Inszenierung zu beschreiben, ohne auch dessen Textzeilen niederzuschreiben, so ging’s bei „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ –

Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27228, das hier auf wundersame Weise wachgerufen wird, so geht’s bei diesem Gedankenentwurf über ein „politisches System das mehr auf / unsere bedürfnisse hier zugeschnitten ist“. Kreon, König von Theben, sagt diese Worte, am Akademietheater hat Regisseur Lars-Ole Walburg Köcks „antigone. ein requiem“ zur österreichischen Erstaufführung gebracht, nach dem gestrigen Kušej-Calderón-Abend (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41295) die zweite heftig akklamierte Premiere der #Corona-Saison, empfiehlt sich doch der oberösterreichische Dramatiker einmal mehr als Autor der Stunde.

Köck hat Sophokles‘ Tragödie rekomponiert, da ist er von den Jeans Racine, Cocteau bis Anouilh nicht der erste, Bert Brecht nicht zu vergessen, doch Köck versetzt das antike Drama nicht nur in die Gegenwart, er irritiert mit jenem Brechreiz erregenden Politsound der Jetztzeit, den er auf derart grandiose Weise imitiert, persifliert, interpretiert, dass es einem auch an der Bühnenübersetzung ganz schlecht wird. Köck hat sich von seiner Lieblingsdisziplin Diskurstheater nicht wegbewegt, und doch ist diese Arbeit emotional bewegender als sonst, vielleicht weil wegen der aktuellen Moria-Meldungen unter-die-Haut-nah dran.

Was Köck in schlimmsten Albträumen nicht erahnen konnte. Und ob der Treffsicherheit ins Bull’s Eye der unsäglichen Reaktionen – bei Köck: „das geschrei nach verteilung kann nicht die lösung sein“, „wir sind nicht der friedhof der welt“ und am schönsten Kreon: „ich rase nicht, ich regiere nur“ oder „manchmal gehören grundwerte aktualisiert“ – doch tat. Der Meister im Verfassen von poetisch-bedeutungsvoll raunenden Satzkaskaden bleibt dem attischen Vorbild jedenfalls nichts schuldig.

Kreon also, sich erneut ins Amt gesetzt habender und nun unterm Druck seine politische Durchsetzungskraft zu beweisender Machthaber, verbietet eine Bestattung. Antigone stemmt sich dagegen, fordert eine angemessene Betrauerung und Beisetzung, wird verraten, verhört, leugnet nicht – doch ist es nicht Bruder Polyneikes, dessen Leichnam sie mit Sand bedeckt hat, es sind namenlose Tote, in unüberschaubarer Zahl an den Strand gespült, der mythologische Familienkonflikt nun erweitert auf die Bootsflüchtlinge des Mittelmeers, die ihre Passage in die wohlhabende und ob der zu erwartenden Ankunft der „Migranten“* um Reichtum und Privilegien bangende Stadt mit dem Leben bezahlt haben.

*“Migranten“ hier in Anführungszeichen wegen der schändlichen Benutzung des Wortes zur Splittung von Menschen in „aus politischen“ und „aus wirtschaftlichen Gründen“ Flüchtende.

Branko Samarovski als Teiresias und Markus Scheumann als Kreon. Bild: Matthias Horn

Dorothee Hartinger, Branko Samarovski, Sarah Viktoria Frick, Mehmet Ateşçi, Deleila Piasko, Markus Scheumann und Mavie Hörbiger. Bild: Matthias Horn

Mavie Hörbiger als Botin; der Chor: Sarah Viktoria Frick, Branko Samarovski, Dorothee Hartinger, Mehmet Ateşçi, und Deleila Piasko. Bild: Matthias Horn

„es sind unsere toten“, sagt Antigone. Und auftritt der Chor, Sarah Viktoria Frick, Deleila Piasko, Markus Scheumann, Mavie Hörbiger, Mehmet Ateşçi, Dorothee Hartinger und Branko Samarovski, die Darsteller sowohl Protagonisten und Antagonisten als auch der Pulk einer Überforderungs-Überschuss-Überfluss-Gesellschaft, der über die aufgeschwemmten, schon stinkenden Leiber an der Küste klagt. Sie nicht beklagt. Denn der Fluch dieses unerwünschten Erbes von Kapitalismus, Kolonialismus und Klimaschäden – siehe Köcks „Klimatrilogie“, die Opfer im Meer des Verbrechens, gemahnen nicht nur an die eigene Schuld, sie scheinen auch späte Gerechtigkeit zu fordern.

Dem „thebanischeuropäischen“ Staat ist nichts ungeheurer und ungeheuerlicher als die leeren Blicke, vor denen es Augen wie Grenzen zu schließen gilt. Und wie der Chor auf der finsteren Rampe steht, hinter sich Videos von Unter-dem-Wasser-Oberflächen, das Lamento im Echo-lot ersterbend, da wird klar, dass sich der europäisch-demokratische Gedanke mit seiner flexibel solidarischen Flüchtlingspolitik gerade selbst ersäuft. Köcks spitzfindige Boshaftigkeiten arrangiert Walburg zu tableaux vivants, zum Sittenbild mit Menschenrechtsverweigerern, in dem die spärlich gesetzten Gesten choreografiert, ritualisiert sind.

Ein intensiver Abend, und in einigen Momenten so richtig! Sarah Viktoria Frick spielt eine Antigone, die sich von lyrisch-jambisch in den Furor einer Ra(c)kete steigern kann, die einzelne gegen den Staat, und wäre sie Schiffskapitänin, man würde ihr mit Freude raus auf See und in die Schlacht um Europas Friedensnobelpreis folgen. Markus Scheumann gibt den Kreon als fleischgewordene Festung Europa, als teflonbeschichteten, mansplainenden Herrscher, großartig, wenn er dem Volk verkündet, dass er wertfrei hinter den Werten steht, oder erklärt, wie Wert das Gesetz macht, damit das Gesetz den Wert schützt.

Wobei er sich die Definition des- oder derselben selbstverständlich spart, der selbsternannte Alles-hat-Grenzen-Humanist, und im Wortsinn irre gut wird Scheumann in der Konfrontation mit Frick, wenn seinem mit süffisantem Lächeln beim Publikum Einverständnis einfordernden Kreon die Contenance abhandenkommt, und Scheumann seine Phrasendrescherei ins Falsett verschärft. Natürlich ist der Postideologe für „post / demokratische message control damit / die bevölkerung nicht mit allen infos news / images geplagt wird sondern nur von denen / die für die öffentlichkeit sinn ergeben“. Herrlich, es ist zum Lachen, weil’s so traurig ist.

Markus Scheumann als Kreon, Mehmet Ateşçi als Haimon; der Chor: Mavie Hörbiger, Deleila Piasko, verdeckt: Dorothee Hartinger und Branko Samarovski. Bild: Matthias Horn

Zum Bühnenbild von Peta Schickart und den Videos von Bert Zander hat Hanna Peter die Kostüme entworfen: Antigone mit Medusenhaupt-auf-Pallas-Athenes-Schild-Shirt, Ismene im dazu passenden Parthenon-Kleidchen, alle mit einem Helden, Heerführer oder Sophokles himself auf Hausjacken und Röcken, weiß gewandet nur die Botin und der Seher Teiresias, als der Branko Samarovski seinen hinreißenden Monolog hat, als Nattern suchender Narr, der vom Männer- zurück will in den Frauenkörper, ist doch ersterer „ein tristes verlies ein abgrund emotionaler kälte traurigkeit und kümmernis gemessen an dem einer frau“, bis er von der aufkommenden Wahrheit kündet.

Stark die Botin von Mavie Hörbiger, eine tragikomische Gestalt, eifrige Wächterin und Berichterstatterin, die alles sieht und alles weiß, Lebensnot und Sterbeumstände, und doch am liebsten nichts sehen und nichts wissen, das Grauenhafte mit Anbiederung bemänteln will, doch ist ihr das Kopf-in-den-Sand-stecken – pardon fürs Wortspiel – durch die Leichensäcke in ebendiesem verwehrt.

Deleila Piaskos Ismene ist der Typ Sich-aus-allem-raushalten-und-mit-nichts-zu-tun-haben-Wollen, die die Toten in erster Linie als Spaßbremsen ihres luftig-leichten Lifestyles bemäkelt, bis ihr hysterisch bewusst wird, das der angesichts der Situation nicht mehr funktioniert, Mehmet Ateşçi ein aufrichtiger, Antigones moralischem Leitfaden bis in den Tod folgender Haimon. Dorothee Hartinger lebt das Leid der Eurydike als Posttraumatische Belastungsstörung aus. Auch sie brilliert in diesem ihr gewidmeten Augenblick.

Einen „lebendigen Toten“ nennt sich der Bote bei Sophokles, als er von all dem Schrecklichen Zeugnis ablegen muss, dieser Tenor durchzieht Köcks Text. „wer einen toten in kauf nimmt / zieht schon die nächsten an“, lässt er Kreon den sogenannten Pull-Effekt zitieren. Die „schuldenlast die ihr verursacht“ wird wiederkehren, prophezeit Antigone. Das tut sie dann auch. Vorm Tor die nächsten Toten, das Ensemble als rotbeleuchtete Gestrandete – von denen sich nur Ismene noch einmal erhebt, die Stimme, die so gern die des Volkes genannt wird, erhebt, die Stimme, in der Europa so geübt ist – Verdrängen, Vergessen, Verleugnen.

„wegen der paar Toten hier“ beginnt sie ihren Schlussmonolog, und endet ihn mit „wollen wir doch jetzt nicht wollen wir doch wollen wir doch wollen wir doch wollen wir …“ Merke: Auf die Betonung kommt es an, oft auf die Weglassung eines einzigen Wortes.

Teaser: www.youtube.com/watch?v=l_Kbtj5X68U           www.burgtheater.at

  1. 9. 2020

Kosmos Theater online: Schwieriges Thema

April 9, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Pubertät ist eine Baustelle

Erst knebelt der Elternchor den verstockten Sohnemann, dann fordert er eine Aussprache: Claudia Kainberger, Anne Kulbatzki, Mehmet Sözer und Lukas Gander. Bild: Bettina Frenzel

Derzeit alles under construction, unfertig, erst im Werden, das Bühnenbild ein Baugerüst, so wie jenes knochige, das sich erst allmählich mit dem Fleisch der Volljährigkeit füllen wird. Bis dahin haben die Abdeckplanen noch allerhand zu verbergen, lästige Pickel und deren Luftpolster-Ausdrücken, knospende Busen, nicht steuerbare Beulen an anderer Stelle. Die Pubertät ist eine Baustelle, da sind sich Regisseurin Milena Michalek und Ausstatter Jonathan Penca sicher.

Gemeinsam mit dem Ensemble Claudia Kainberger, Anne Kulbatzki, Lukas Gander und Mehmet Sözer haben sie das Stück „Schwieriges Thema“ entwickelt, die Eigenproduktion des Wiener Kosmos Theater nun bis 9. April, 18 Uhr, auf nachtkritik.de zu streamen – und keine Angst vor etwaigen Altersgrenzen: Die Pubertät ist eine universelle Erfahrung des Peinlichen, Ermahnungen, wie sie auf der im Wortsinn zum Spielplatz gewordenen -fläche fallen, klingeln einem heut‘ noch als elterlicher O-Ton-Tinnitus in den Ohren.

Mit Wortgewitztheit und Satzgliedschmäh macht sich die ironiebewehrte Viererbande über den Text her, macht ihn zur Sprechopernpartitur, in der Sprache mal musikalisch mäandert, mal zum Stakkato wird. Derart wechseln sie in Windeseile zwischen grad-noch-kindlich-naiv und altklug, von der Erwachsenenpersiflage zur Teenagerparodie, Prototypen allesamt, und wie sie da in kollektiven Gefühlsausbrüchen wegen falscher Körperproportionen aufheulen, den Beziehungsstatus Schon-wieder-Single als Lebensstil tarnen, Dissen und Tuscheln oder beim Abhängen über Abwesende ablästern, das ist immer genau auf Kurs gebracht.

Das Pubertier mutiert im Zimmerarrest … Bild: Bettina Frenzel

… zur Cronenberg’schen Stubenfliege: Lukas Gander … Bild: Bettina Frenzel

… und bleibt mit dieser kafkaesken Verwandlung nicht allein: Mehmet Sözer. Bild: Bettina Frenzel

Michalek und Team umschiffen mit Bravour die peinsame Klippe, auf welcher einen Teen-Slang im Erziehungsberechtigtenstatus gemeinhin auflaufen lässt, sie versuchen gar nicht, da was nachzuahmen, sondern finden zu einem eigenen, eigenwillig poetischen Ausdruck, der die Skurrilität der wie Sketche aneinandergereihten Situationen unterstreicht.

Schönste diesbezügliche Szene: Claudia Kainberger, Anne Kulbatzki und Mehmet Sözer als elterliche Dreieinigkeit, die ganz griechischer Tragödienchor über Zimmerzusammenräumen und die dortige Zigarettensuche bei angedrohtem Strafmaß Handy-Entzug klagt –  οἴμοι!, “ich mach’ alles für dich und du bist nur undankbar”, “glaubst du, für mich ist es einfach”, “kannst du dich nicht zusammenreißen?” – “einmal!” – der immergleiche, ewig währende Konflikt, der erst in einem Nie-sprichst-du-mit-mir, Lass-uns-darüber-reden gipfelt, als Sohnemann Lukas Gander längst gefesselt und geknebelt ist. Zimmerarrest!

„Es ist schon eklig, aber man gewöhnt sich daran“: Erziehungsberechtigte Anne Kulbatzki und Lukas Gander. Bild: Bettina Frenzel

„Man muss jeden Tag ein, zwei Gedanken haben, die niemandem nützen“: Mehmet Sözer und Claudia Kainberger. Bild: Bettina Frenzel

Der mutiert darauf mit allerlei Haushalts- und Baumarktkram zur Cronenberg’schen Stubenfliege samt Atemgerät-Saugrüssel als wär‘ die seine eine Prophetie der derzeitigen Körperkrise. „Es ist schon eklig, aber man gewöhnt sich daran“, erklärt er der fassungs- losen Mutter Kulbatzki sein Lieber-Insektoid-als-Schneebrunzer-Konzept, sein Flügge-Bleiben statt Hingesetzt-Haben, und seine kafkaeske Verwandlung bleibt nicht die einzige: Bald verwendet auch Claudia Kainberger Props fürs Puppenstadium, steht als Fabelwesen aus Plastik und Pappendeckel auf der Bühne,

Mehmet Sözer als bizarre Buckelzirpe mit ausladenden Kinderschi-Fortsätzen. Von Kopf bis Fuß insectum, ins Trash-Kostüm eingeschnitten, ist das Pubertier nun als Bug klassifiziert – im Sinne von Programmierfehler und des berühmten gleichnamigen Horrorfilms. In Rebel-without-a-cause-Attitüde geht’s ins Finale, ins anrührend zaghafte Einander-sexuell-Erforschen – „Wie sich ein echter Busen angreift? Warm und wabbelig“ -, durch einen Diffusheitsdschungel schwefelgelber Nebelschwaden und apokalyptisch dröhnender Rave-Musik, von der Teenie-Depri als gesamtgesellschaftliches Leiden über eine Beschimpfungsrunde auf die Kleinhäusler-

mentalität vieler Millenials zum abschließend lapidaren „Gemma zum Mäcki“. „Man muss jeden Tag ein, zwei Gedanken haben, die niemandem nützen“, philosophiert Sözer über den dargebotenen Nonsens mit Tief- und Hintersinn. Bevor er seine Assoziationsperlenkette „Der Narziss schaut die ganze Zeit in den See und denkt sich, what the fuck, ich weiß auch nicht“ mit einem Schlussstein verziert. Die Pubertät, sagt er nämlich, sei ein dunkles Kapitel gleich dem Mittelalter, „alles ist so bäh, jeder ist so lost, alles ist so rough und überall zieht’s, danach aber kommt die Renaissance“. Und das einer, die schon im Post-Post-Zeitalter ist!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=LwIEL8BXAPw

Zu sehen bis 9. April, 18 Uhr, auf: www.nachtkritik.de           kosmostheater.at

8. 4. 2020

Akademietheater: Meister und Margarita

Oktober 18, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Du saugst hinweg die Sünde der Welt

In der Redaktion ist wieder einmal ist der Teufel los: Johannes Zirner trifft als angsterfüllter Sokow auf Norman Hacker als Woland, Stefanie Dvorak als Hella und Felix Kammerer als Behemoth. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Aus dem Haus Sadowaja 302b, in dessen Wohnung Nr. 50 der Autor selbst für vier Jahre Unterkunft nahm, ist also ein Großraumbüro geworden. Graue, von gläsernen Wänden getrennte Officekojen, zwischen denen Sokow und Frieda, Poplawski und Iwan „Besdomny“ Ponyrew ihr Tagwerk vollbringen – und da dort auch Berlioz, laut Michail Bulgakow bekanntlich Vorsitzender der Moskauer Literaturvereinigung, zugegen ist, sind die Zimmer ziemlich sicher eine Zeitungsredaktion und die anwesenden Personen

die dort angestellten Redakteure. Das estnische Berufs- wie Privatpaar Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, Begründer und Auflöser des von den Wiener Festwochen bestens bekannten Tallinner Theatre NO99, zeigen am Akademietheater ihre Version von Bulgakows Opus magnum „Meister und Margarita“. Ein „gesellschaftliches Poem“ nennen die beiden ihre Inszenierung, bei der sie sich wie stets die Regiearbeit sowie die an Bühnenbild, Kostümen und Videos geteilt haben, und es ist von Vorteil, das Original des russischen Schriftstellers zu kennen, bevor’s zu deren Dreieinhalb-Stunden-Elaborat geht.

Bulgakow schrieb den Roman ab 1928. Erst kurz vor seinem Tod im März 1940 diktierte er seiner Frau Jelena eine mutmaßlich nur wegen seines Ablebens finale Fassung. Die darin verhandelten Themen reichen von der Hinrichtung einer Dichterkarriere über ein von den Daseinsstürmen gebeuteltes Liebespaar bis zu einem Alternativevangelium, und das alles ist immer auch autobiografisch, von Bulgakows prekärer Beziehung zu Stalin, der den Systemkritiker einerseits mit einem Veröffentlichungsverbot strafte, ihm aber andererseits eine Assistentenstelle am Moskauer Künstlertheater verschaffte, bis zum Meister und seiner verheirateten Geliebten Margarita, die gleichzusetzen sind mit Michail und der scheidungswilligen Jelena.

Semper und Ojasoo halten sich nicht mit Bulgakows groteskkomischer Sowjetschelte auf, sie wollen ihm auf anderweitig verschlungenen Wegen folgen, dorthin, wo’s ums ewig während Allzumenschliche geht, Neid, Gier, Hochmut, denen Bulgakow als größte Frevel, den Opportunismus, die Dummheit und die Feigheit beigesellt. Mit der lustvollen Verbitterung des zum Schweigen gezwungenen Genies trägt er seine Gedankenkämpfe aus, seine Waffe gegen die herrschenden Verhältnisse dabei geschmiedet aus heiter Anekdotischem. Wieder und wieder lässt sich „Meister und Margarita“ lesen, um Neues zu entdecken in den drei Handlungssträngen:

Der „Meister“ und seine Margarita: Rainer Galke und Annamáría Láng. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

And now, the end is near: Im Glitzeranzug singt Norman Hacker Sinatras „My Way“. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Als Berlioz landet Philipp Hauß samt Marcel Heupermans Iwan in der Irrenanstalt. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Jeschua reinigt Räume: Tim Werths mit Marcel Heuperman als Iwan unbehaust. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

1. Das Erscheinen des Teufels und seiner Gehilfen in Moskau, wo er als Zauberkünstler Woland jedermanns Wohl und Wehe verwirbelt. 2. Das Auftreten des „Meisters“, eines Literaten, der von der Presse so übel beschimpft wird, dass er in der Psychiatrie landet. Die andere Titelfigur, Margarita, wird einen Handel mit Woland eingehen, damit die zwei doch noch zusammen sein können. 3. Die Vorkommnisse rund um die Verurteilung von Jesus Christus, hier Jeschua, durch Pontius Pilatus, Berichte über den depressiv-migränegeplagten Prokurator, die sich später als der Roman des Meisters herausstellen.

Das Bonmot, man fände ins Buch „Meister und Margarita“ leicht hinein, aber niemals wieder heraus, trifft auf die Aufführung nun aber nicht zu. Semper und Ojasoo verweigern sich der Fantastik der Vorlage, kein schwarzer Riesenkater Behemoth treibt sein mörderisches Unwesen, niemand reitet auf einem Besen ein, es gibt keine verhexte Wohnung, kein plüschiges Varieté, kein furchteinflößendes Irrenhaus, sondern – siehe oben – das raumklimatisch bedenkliche Einheitsbüro unter freudlos flackernden LED-Lampen. Über den vier ident eingerichteten Schreibstuben und dem Flur prangt die Hauptsache des Ganzen, eine gigantische Leinwand, auf die beständig per Live-Kamera aufgenommene Bilder aus den nicht einsehbaren Bühnenteilen übertragen werden. Castorf schau oba, sozusagen.

Eine Zwangsjacke, ein bisschen rosa Licht und zwei Drehstühle machen allerdings keine Atmosphäre. Vom vergnüglichen Gänsehaut-Feeling des Romans, von seitenweise Schreck und Sarkasmus, von der Magie und der Wirkmacht des Buches bleibt auf der Bühne kaum etwas übrig. Wann, um Himmels willen, haben sich Semper und Ojasoo – man denkt da wehmütig an „Heiße estnische Männer“ oder „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ – dermaßen spaßbefreit? Eine der seltenen gewitzten Ideen ist die, Tim Werths als Jeschua in voller Golgatamontur, blutüberströmt und mit Dornenkrone, als Büroreinigungskraft zu zeigen. Lamm Gottes, du saugst hinweg die Sünde der Welt …

Die Live-Kamera übertragt das Geschehen von den Officekojen auf die Leinwand, hier folgt sie Hanna Binders Frieda. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Und apropos, Himmel: Als Höllenfürst hat Norman Hacker seine grandiosen Momente, ob im Punkoutfit mit fettigem Haar oder im teufelsroten Glitzeranzug Sinatras „My Way“ singend, sein Woland ist honigsüß ennuyiert, lasziv selbstverliebt und von bedrohlichem Charme. Allein seinetwegen schaut man bis zum Schluss gerne zu. Der Rest hat in diesem spröd‘-distanzierten, spannungsarmen Szenario nicht viel zu spielen. Philipp Hauß als Berlioz wie Pontius Pilatus und Johannes Zirner

als Sokow wie Kaiphas retten sich, so der Eindruck, mit ihrer Professionalität über die Runden, Mehmet Ateşçi, frisch vom Gorkitheater, setzt als Poplawski wie Afranius auf Geschmeidigkeit, der vom Resi mit nach Wien gekommene Marcel Heuperman macht als Iwan unbehaust auf wildwütig entschlossen. Stefanie Dvorak, als Hella Cheerleaderin im Team „666“, und Hanna Binder als Kindsmörderin Frieda haben’s in ihren kleinen grauen Zellen auch nicht leicht, genauso wie Felix Kammerer, den man als Behemoth zum goldgelockten Jüngling ausstaffiert hat. Falscher, heißt: weniger Bulgakow, geht’s nicht. Ihnen allen hätte man einen geglückteren Einstand an Martin Kušejs Burgtheater neu gewünscht. Immerhin Rainer Galke und Kornel-Mundruczó-Star Annamáría Láng gelingt es, die Amour fou von Meister und Margarita zu gestalten.

Sie wissen sowohl wie überbordende Emotion, als auch wie leise Zwischentöne gehen. Galke und Láng erzählen Liebe und von der Metaphysik der Liebe an einem Abend, der sich das Erzählen im Sinne von Story, Plot, Charakterzeichnung ansonsten anscheinend verboten hat. Irgendwann singen alle, derweil Jeschua im Hintergrund den Boden wischt, „Jesus‘ Blood Never Failed Me Yet“ und bewegen sich dazu wie Marionetten im Welttheater des Teufels – schließlich müht sich bei Bulgakow ja ausgerechnet der Böse, die Geschöpfe Gottes von dessen Existenz zu überzeugen. Das ist das schönste, das stimmungsvollste Scheitern an dieser von vornherein dazu verdammten Unternehmung, und die Gretchenfrage nach dem Halten mit der … xxx-rated … in der Semper-Ojasso-Interpretation der russischen Faust-Paraphrase augenscheinlich des Pudels Kern.

Es fällt, während sich Jeschua als seit mehr als 2000 Jahren missinterpretiert beklagt und ein erster Möchtegernjünger dessen Predigten in Fake-News-Form zu Ziegenpergament bringt, der bedenkenswerte Satz: „Damit ein guter Mensch Böses tut, dafür braucht es eine Religion …“ Das hat schon was. Der Applaus am Ende aber war so unentschlossen wie Ene-Liis Sempers und Tiit Ojasoos Inszenierung, Teile des Premierenpublikums hat der unterkühlte Abend deutlich ausgekühlt, andere, so an ihrem Abgang zu merken, auf einen erstaunlich hohen Aggressionslevel gehievt.

www.burgtheater.at           Mehr zu Michail Bulgakow: www.masterandmargarita.eu

  1. 10. 2019