Theater an der Wien auf ORF III: Le Nozze di Figaro

Dezember 1, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Nur die Commedia ist Alfred Dorfer abhandengekommen

Johannes Bamberger, Maurizio Muraro, Enkelejda Shkosa, Cristina Pasaroiu, F. Boesch, Giulia Semenzato, Robert Gleadow, Patricia Nolz, Ekin Su Paker, Ivan Zinoview. Bild: © Moritz Schell

In seinem aktuellen Programm „und …“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=26914), für das er dieser Tage schon Spieltermine im kommenden März/April ausgibt, diagnostiziert Alfred Dorfer die Herzenszartheit eines jeden Zynikers, wie auch die seine. Nun hat der Kabarettist seine erste Operninszenierung absolviert, „Le Nozze di Figaro“ am Theater an der Wien, die Premiere #Corona-bedingt allerdings nicht im Haus, sondern als ORF III

Liveübertragung aus ebendiesem und weiterhin in der ORF-Mediathek und auf der Klassikplattform fidelio abzurufen. Was Dorfer aus dem Werk destilliert, ist eher Beaumarchais als da Ponte, klar, dass einer wie er, das Politische im Privaten betont. Seine Interpretation ist ein Mozart der subtil düsteren Zwischentöne, ist Dorfer doch auch mit seinen eigenen Texten und bei Auftritten nicht als Abfackler greller Comedy-Pointen bekannt. Sein Schmäh feuert vielmehr aus dem Hinterhalt, lässt sich Zeit, bis er weiß, dass er ins Ziel trifft, dann aber: Bumm!

Ein Understatement, für das er bei dieser Arbeit kongeniale Partner vom Concentus Musicus Wien unter der Leitung von Stefan Gottfried über Co-Regisseurin Kateryna Sokolova und Ausstatter Christian Tabakoff bis zur erlesenen Besetzung zur Seite hat. Kurz, diese en détail durchdachte „Hochzeit“ und ihre rundum exzellente musikalische Deutung sind gelungen, allein, der Commedia per musica ist erstere abhandengekommen. Die flotte Verwechslungskomödie mit ihren Liebesirrungen und -wirrungen hat bei Dorfer keinen doppelten Boden dunkler Andeutungen, nein, da tun sich wahre Abgründe auf.

Und so, wie die auf der Bühne nichts zu lachen haben, kommt einem auch vor dem Bildschirm kaum ein Lächeln aus. So viel zur Zartheit von Zynismus, Dorfer bevölkert das Schloss des Grafen Almaviva mit Sehnsüchtlern, Eifersüchtlern, denen auch die Laster Hab- und Selbstsucht eigen sind. Das nicht vollständig möblierte Zimmer des ersten Aktes bleibt ein solches, als wolle Tabakoff mit der Leere die Einsamkeit dieser Menschen bebildern, Aguasfrescas als „Hotel Sevilla“ für geschundene Herzen – und allein im weiten Flur, so beginnt das Ganze, Florian Boesch als Conte.

Boesch, dem Dorfer jede figurenzeichnerische Komfortzone verwehrt, optisch weniger lustig als Luising’erisch, von Gutsherrenrock bis Haartracht einem bekannten Lobbyisten verwandt, und längst kein Schürzen-Jäger mehr. Sondern ein alternder, gefährlicher, weil seine Hilflosigkeit in Aggression auslebender, wie Susanna singt, „Wüterich“, der von seinen Dämonen gejagt wird. Den Namen „Cherubino“ hat jemand wie zum Hohn und wie den Teufel an die Wand gemalt, schlagartig wird’s finster, im Hintergrund ein sich umschlingendes Liebespaar, doch wer ist’s?, ein Fenster zur Seele des paranoiden Grafen.

Giulia Semenzato und Robert Gleadow. Bild: © Moritz Schell

Robert Gleadow. Bild: © Moritz Schell

Giulia Semenzato und Robert Gleadow. Bild: © Moritz Schell

Ein Schattenspiel, ein angstvoller, apathischer Moment, wie ihn Dorfer des Öfteren einsetzen wird. Etwa in jener Albtraumsequenz, in der Almaviva die anderen wie Schachfiguren und Susanna, dies Sinnbild seiner mannhafterer Tage, auf seinem Schoß arrangiert, doch auch, wenn die Rollen von Macht und Ohnmacht getauscht werden. Ein Innehalten, in dem Mozarts Töne wie zum Trotz tanzen. Dass die Feudalherrschaft wie ihr Herrensitz hier zum schäbigen Abglanz ihrer selbst verfallen sind, beweist niemand besser als der Hipster-Figaro des Robert Gleadow und dessen frühemanzipierte Susanna von Giulia Semenzato. Beide, wie selbstverständlich Boesch, sängerisch makellos, und Gleadow im gewohnt spielfreudigen Ensemble, an dem man via Fernsehen Operngucker-nah dran ist, das hochenergetische Zentrum.

Wie sich Dorfer der Tändelei und etwaigem Slapstick, bis auf ein Eisbärenfell-Versteck und Maurizio Muraros im Aufzug steckenbleibenden Bartolo, verweigert – wiewohl die Drei-Räume-Drehbühne den Klipp-Klapp hergegeben hätte, so hat Gleadows aufsässiger Figaro nichts Schelmisches mehr an sich. Er ist ein stürmischer Liebhaber, dessen Sturm im Zorn zum Orkan wird, sein Man-Bun dann in Auflösung begriffen, was den Rebellen gegens Recht primae noctis windstärkenmäßig dem Wüterich Almaviva ebenbürtig macht. Verabschiedet er Cherubino, Non più andrai, farfallone amoroso, trieft ihm der Sarkasmus sichtlich aus den schiefen Wundwinkeln. Und siehe: Gleadow kann sogar Apfelessen beim Singen.

Fast scheint’s, als hätte Tabakoff mit seinem Peter-Brook’schen Empty Space Platz für Dorfers hervorragende Personenführung schaffen wollen, denn die Solistinnen und Solisten füllen die Bühne mit ihren vielschichtig changierenden Charakteren und einer Präsenz, die sich bis aufs Wohnzimmersofa überträgt, nichts außer des Ambientes ist hier schwarz-weiß, gut oder böse, Schurke oder Seelchen. Und, apropos: Cristina Pasaroiu singt ihre Contessa Almaviva berückend schön, das warme, samtige Timbre der Hausdebütantin nimmt einen in gleicher Weise ein, wie ihre mädchenhafte Erscheinung.

Da hat eine blutjunge Rosina sich einem angegrauten, griesgrämigen Blaublut angetraut, dies der erste Höhepunkt: Terzett Graf, Gräfin, Susanna, or via, sortite, gerade noch rotiert Almaviva vor der Tür der Gattin, als treibe ihn eine noch nicht erloschene Zuneigung im Kreis, da verpasst ihm die Gräfin eine schallende Ohrfeige, und er fordert mit einer beinah Vergewaltigung seine ehelichen Rechte ein, die Pasaroiu mit Boesch im Infight auf nacktem Boden – Szenen einer scheiternden Ehe. Was Wunder willigt die Gräfin in die Kabale und Liebe ein.

Der Aufzug steckt fest: Enkelejda Shkosa als Marcellina und Maurizio Muraro als Bartolo. Bild: © Moritz Schell

Arrangierter Albtraum: Boesch, Semenzato, Andrew Owens, Gleadow, Muraro und Shkosa: Bild: © Moritz Schell

Aufritt des betrunkenen Antonio: Semenzato, Ivan Zinoviev, Pasaroiu, Gleadow und Boesch. Bild: © Moritz Schell

Die beiden Hausdebütantinnen Cristina Pasaroiu als Gräfin und Patricia Nolz als Cherubino. Bild: © Moritz Schell

Die erst 25-jährige niederösterreichische Mezzosopranistin Patricia Nolz, seit der aktuellen Saison Mitglied des Opernstudios der Wiener Staatsoper, debütiert an der Wien als Cherubino mit frischem, frechem Maturantencharme und in Hochwasserhose, als wäre der Knabe zu schnell in die Höhe geschossen – und wie sie singt: Voi che sapete che cosa è amor, strahlend, brillant, betörend! Patricia Nolz ist ein Name, eine Stimme, den zu merken sich lohnen wird.

Der bereits erwähnte Maurizio Muraro als Rollator bewehrter Bartolo samt Enkelejda Shkosa als Marcellina im rosafarbenen „Chanel“-Kostüm, La vendetta, oh, la vendetta / Via, resti servita, Madama brillante, Andrew Owens als intrigant-schmieriger Basilio, Johannes Bamberger als tölpeliger Don Curzio, Ekin Su Paker als neckische Barbarina und Ivan Zinoviev als vom Wein illuminierter Antonio geben ihr Bestes, um auch dem Begriff Opera buffa alle Ehre zu machen.

Mit allem Drum und Dran macht der TV-Abend Vorfreude auf ein mögliches künftiges Vorort-Erlebnis, dem man am Theater noch ein Mehr an Differenzierung zutrauen darf, den Solistinnen und Solisten wie dem Concentus Musicus, dessen präzise Begleitung, manch unheilvolles Donnergrollen, die drängende Spiellust und die Hand in Hand mit der Regie ausgelotete Partitur durchaus Erinnerungen an den großen Nikolaus Harnoncourt wachrufen, dessen Nachfolger Stefan Gottfried sich einmal mehr als umsichtiger Mann am Pult erweist.

Mit einer #Lockdown-Premiere hat Alfred Dorfer kein leichter Start im Operngenre ereilt. Dass ihn dies nicht abschreckt, ist zu hoffen. Denn es gibt genug Stoffe, bei denen Dorfers Talent zur eleganten Satire eine Wohltat wäre. Das spürt man vielleicht am stärksten am Ende. Nachdem alle Verkleidungen, Verstellungen und ein Witz von Entschuldigung gefallen sind, rockt man mitsammen in einer alten Straßenbahnremise ab, Endstation! also, und in grotesker Ausgelassenheit Almaviva, der sich hüpfend und die Arme in Siegerpose hochgerissen aus der Schlussbild-Idylle verabschiedet. Womöglich fantasiert er wieder, womöglich hegt er schon neue Verführungspläne? Ah! Tutti contenti!? Das Publikum auf alle Fälle!

Die TV-Premiere von „Le nozze di Figaro“ ist noch bis 5. Dezember in der ORF-Mediathek und bis Dezember 2021 auf der Klassikplattform fidelio abrufbar.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=CbWXaEdRBxw           www.theater-wien.at

  1. 11. 2020

Kammerspiele: Ladykillers

Januar 26, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Mörderisch ist nur die Langeweile

André Pohl und Marianne Nentwich. Bild: Erich Reismann

Natürlich erklingt das Menuett von Boccherini, ist das Musikstück doch durch die „Ladykillers“ Alec Guinness, Herbert Lom und Peter Sellers zum Welthit geworden. Das ist aber auch schon alles, was der Filmklassiker und die nun an den Kammerspielen der Josefstadt zu sehende Theaterfassung miteinander gemein haben. Denn nicht nur die Textbearbeiterinnen Elke Körver und Maria Caleita, auch Regisseur Cesare Lievi hat der Kriminalkomödie, dieser Perle des britischen Black Humor, schweren Schaden zugefügt.

Weder zündet hier irgendein Wortwitz, noch stimmen Tempo und Timing, das Fehlen dieser drei steht jedoch gleichbedeutend für den Tod des Boulevards, und so ist das einzig Mörderische an dieser Inszenierung die Langeweile, die ganze Aufführung beinah so blutleer wie eine Leiche. Dabei böte die Groteske um ein Grüppchen sich als Streicherensemble ausgebender Gangster ausreichend Raum für die Art makaberen Jux, für absurde Situationskomik und verbale Missverständnisse, versehen mit jenem wohldosierten Schuss Spleen, den man an den Engländern so schätzt.

Nun ist es nicht so, dass sich die Schauspieler, allesamt erste Kräfte des Hauses, nicht um ihre Figuren bemühten. Marianne Nentwich ringt darum, ihre Mrs. Wilberforce mit Leben zu füllen, doch bleibt die schrullige Vermieterin, die sich als weniger weltfremd und verwirrt denn angenommen entpuppen wird, in Lievis arg konservativer Sichtweise eine mit Spitzenkragen bewehrte Schablone. Nicht besser ergeht es der auf Stereotype reduzierten Verbrechertruppe, deren Darsteller ihre Rolle auf jeweils einen Wesenszug – exzentrisch bis einfältig bis leicht erregbar – beschränkt spielen müssen.

André Pohl hat als Professor Marcus von Anfang an den Irrsinn im Blick, Siegfried Walther ist der nervös-magenleidende Major Courtney, Martin Zauner der joviale Harry Robinson, Wojo van Brouwer gibt das gutmütig-dämliche Riesenbaby One-Round und Markus Kofler, den Geigenkasten unterm Arm, als wäre er unterwegs zum Valentinstag-Massaker, den sinistren Louis Harvey. Was das Quintett plant, ist nicht weniger als ein Raubüberfall auf einen Geldtransporter, doch offenbart sich die Straftat der Mrs. Wilberforce, und im Bestreben die Alte loszuwerden, eliminieren sich die Komplizen gegenseitig. Der Güterzug nach Liverpool hilft dabei wesentlich mit.

Statt der Geigen spielt ein Grammophon: Siegfried Walther, Martin Zauner, Wojo van Brouwer und André Pohl. Bild: Erich Reismann

Marianne Nentwich, Siegfried Walther, Martin Zauner, Markus Kofler und Wojo van Brouwer. Bild: Erich Reismann

Lievi, der zuletzt an den Kammerspielen mit „Der Garderober“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=28855) so viel Freude bereitete, sitzt diesmal dem Irrtum auf, man könne das Bissig-Böse von Originalautor William Roses Pointen mit derart viel Bedacht angehen – dass es letztlich gar nichts mehr zu lachen gibt. Die fehlende Dynamik des Abends ist nicht einmal mehr als Slow-Burn zu rechtfertigen, das Vintagebordüren-Bühnenbild von Maurizio Balò verstärkt die Anmutung von altbacken noch.

Nur selten gelingt ein Ausbruch. Etwa, wenn Siegfried Walther in einer Szene tänzelnd seinen Hang zu Mrs. Wilberforces Abendgarderobe auslebt. Wenn sich auf Martin Zauners Gesicht ob deren ins Haus einfallender Freundinnen die Panik spiegelt. Die Damen freuen sich auf einen Musikgenuss, und so knarzen und sägen die Schurken eine Kakophonie vom Feinsten. Schließlich zum Schluss, wenn André Pohl sein gescheitertes Genie mit einer gerüttelten Dosis Verfolgungswahn versieht.

Der knapp bemessene Applaus am Ende war gerade mal für drei Verbeugungsrunden gut, nur eine davon absolvierte das Leading Team.

Auch von daher muss „Ladykillers“, so kurz nach Herbert Föttingers formidablen, im Februar wieder zu sehenden „Acht Frauen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=30371) als vergebene Chance verbucht werden, was umso mehr schmerzt, als man sich eigentlich potenzielle Paraderollen für alle Beteiligten erwartet hätte.

Video: www.youtube.com/watch?time_continue=1&v=GDOOfwkbz50

www.josefstadt.org

  1. 1. 2019

Kammerspiele: Menschen im Hotel

März 18, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Nur ein Glühwürmchen in der Dunkelheit

Siegfried Walther, Silvia Meisterle und Raphael von Bargen Bild: Herwig Prammer

Der großartige Siegfried Walther, Silvia Meisterle und Raphael von Bargen
Bild: Herwig Prammer

Es fehlt an Prunk und Pomp. An diesem Marmor, der doch nur falsch und Stuck ist. An der Behauptung etwas großes und dabei letztlich Kulisse zu sein, die die Grandhotels einer längst verwehten Zeit ausmacht. Wie die Figuren in Vicki Baums „Menschen im Hotel“. 1928 entwarf die österreichische Autorin ihr Panorama Fleisch gewordener Trompe-l’œils, Cesare Lievi hat nun an den Kammerspielen eine Bühnenfassung in Szene gesetzt – und ist dabei einen Schritt weiter, vielleicht einen zu weit gegangen.

Der italienische Regisseur hat sich einer Art Neorealismo verpflichtet, und, als wolle er im Sinne Roland Barthes‘ „als Wirklichkeit darstellen, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen“, von Anfang an die klappernden Skelette unter den mühsam aufgerichteten Fassaden freigelegt. Das ist im Baum’schen Kosmos zwar an späterer Stelle korrekt, doch so raubt es dem Abend vom Fleck weg die Elegance, das Geheimnis, die Ambivalenz. Bis hin zum mit Schiebetüren für den schnellen Szenenwechsel überaus funktionalen Bühnenbild von Maurizio Balò glaubt man sich in einem strengen, spröden Schwarzweißfilm, in dem die Schauspieler ihren Text herstelzen. Anna Bergmann, von der die Buchbearbeitung stammt, erlaubt kaleidoskopartige Einblicke in das Panoptikum der Vicki Baum. Sie hat die Reisenden, die sich durchs Hotel wie Dantes Ovid durch den Orkus bewegen, auf eine Handvoll reduziert. Eine alternde Primaballerina verliebt sich in einen nicht ganz ehrenwerten jungen Baron, der es auf ihren Schmuck abgesehen hatte. Ein kleiner Angestellter, den nahen Tod vor Augen, beginnt das Leben in vollen Zügen zu genießen. Ein Generaldirektor zockt um die Zukunft seiner Firma und bedrängt eine Sekretärin, die doch eigentlich zum Film möchte. Sie alle beobachtet ein Arzt, ein Dauergast der Hölle, dem dieser Nicht-Ort zum Abbild des Lebens geworden ist.

Die Hölle. Zehn Jahre ist es her, dass die eine vorüber rauschte, zehn Jahre wird es in Österreich noch dauern, bis die nächste kommt. Vicki Baum erkannte früh die Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging. Aber davon wissen ihre Figuren noch nichts, diese Pechvögel und Glücksritter, diese Blender und Betrüger größeren und kleineren Ausmaßes. Sie laborieren noch an ihren Erste-Weltkriegsnarben, während schon die Weltwirtschaftskrise und der Zweite neue Wunden schlagen wollen. Keiner ist hier, was er vorgibt, ja nicht einmal, was er selber glaubt, zu sein. Alle suchen. Und währenddessen findet das Eigentliche anderswo statt.

Lievi hat das firnissfrei inszeniert, hat versucht, die vordergründige Krimihandlung und die tiefgründige Liebesgeschichte als Gesellschaftspanorama der „Goldenen“ Zwanzigerjahre zu entwerfen. Mit „Filmscheinwerfern“ und „Dolby Surround“, sogar mit einem automatischen Klavier, setzt er auf den Kinoeffekt, schön auch die Idee, das Publikum quasi in der Portiersloge zu platzieren, aber seine Gesellschaft, sie schillert zu wenig. Die Geschäftemacher und Gschaftlhuber, die Lobbyisten in der Lobby, die durch riskante Affären verbundenen Zwangs- und Zweckgemeinschaften sind allesamt als Scherenschnitte angelegt. Wo sich die Figuren Maske um Maske um Maske abreißen lassen sollten, enttarnen sie sich flink, freiwillig, allzu friktionsfrei. Als hätten sie sich bei ihrem Tanz auf dem Vulkan die Fersen schon verbrannt, bevor der Vorhang überhaupt aufging, und wollten nun nur noch ins rettende Fußbad. Es ist seltsam, wie eine Sache gefühlt zu kurz geraten und trotzdem langatmig sein kann.

Raphael von Bargen legt den Baron von Gaigern als leutseligen Lebemann an. Zwar erschließt sich nicht wirklich, warum er sich Hals über Kopf in die von Sona MacDonald als exaltierte Hysterikerin gespielte Grusinskaya verliebt, aber immerhin kommt es ihm zu, durch ihr Leid sein Menschsein zu finden. Silvia Meisterle ist als Stenotypistin Flämmchen verhalten sexy, Marianne Nentwich eine dauerbesorgte Suzette, Alexander Absenger ein Raubtier als Chauffeur. Alexander Waechter hat als Arzt Dr. Otternschlag immerhin die besten Sätze. Wie ein schwarzes Gewissen wacht er, der vom Leben nichts mehr erwartet und ergo nicht enttäuscht werden kann, über die anderen. Die Drehtür muss immer offenstehen, sagt er, und meint damit den Ausgang in den Selbstmord. „Man kommt an, man bleibt ein bisschen, man reist ab … hundert Türen auf dem Gang, und keiner weiß was von dem Menschen, der nebenan wohnt. Und wenn Sie abreisen, kommt ein anderer an und legt sich in Ihr Bett, Schluss.“ Welch ein Resümee über die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz. Ansonsten bleibt auch Waechter unauffällig.

Während die Kollegen sich um Typgestaltung bemühen, sind da zwei, die aus ihren Figuren Charaktere formen. Und zwar solche von Fallada-Format. Vor allem Siegfried Walther ist großartig als sterbenskranker Kringelein, der brave Buchhalter, der verzweifelte „kleine Mann“, der den Rücken durchstreckt und, ein erstes und letztes Mal, sich aufbäumt. „Und wenn ich ein Dreck bin, dann sind Sie ein viel größerer Dreck, Herr Generaldirektor“, haucht er atemlos über seinen neuen Mut. Und das macht Walther ganz fabelhaft. Er verkörpert ein Zeitsymptom, er und der von Heribert Sasse dargestellte Generaldirektor Preysing, zwei unterschiedliche Systeme. Das untergehende und ein aufkeimendes Europa, und wenn Lievis Arbeit dieser Tage etwas zu sagen hat, dann an dieser Stelle. Die Wirtschaft hat moralisch wieder abgewirtschaftet. Und der Angestellte sieht sich beraubt um die Stelle, mit der er sich gern identifizieren konnte. Befristung und schnell-schnell heißen die neuen Schlagworte. Coupon schneiden siegt über Arbeitsplätze sichern.

Sasse selbst überzeugt als Turbokapitalist, der glaubt, sich mit Geld alles nehmen zu können. Wenig erinnert noch an den Original-Preysing, der zu ehrlich für die neuen Regeln der Börse war. Dieser hier ist skrupellos und schmierig und wird in seiner Ekelhaftigkeit die Rechnung präsentiert bekommen. Am Ende, wenn sich die Szenen in einem Kunstgriff ineinander schieben und alle Schauspieler gleichzeitig auf der Bühne sind, wird Kringelein auf- und Preysing zusammenbrechen. Vicki Baum sagte einmal, sie gebe sich keinen „Glühwürmchenillusionen“ über die Zukunft hin. Ein Glück. Cesare Lievi lässt in der Dunkelheit zumindest eins leuchten.

Diese Rezension bezieht sich auf die Vorpremiere am 16. März.

Raphael von Bargen im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=18096

www.josefstadt.org

Wien, 17. 3. 2016

Schauspielhaus Wien Die Wohlgesinnten

Oktober 7, 2013 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Willkommen im Auenland

Thiemo Strutzenberger, Steffen Höld, Maurizio Rippa Bild © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus

Thiemo Strutzenberger, Steffen Höld, Maurizio Rippa
Bild © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus

Das Schauspielhaus Wien brachte Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten in einer von Antonio Latella, der auch als Regisseur am Werk ist, und Federico Bellini dramatisierten Fassung zur Urauffuhrung. Littell, Amerikaner mit französischem Pass, verfasste im Jahr 2006 dieses heiss diskutierte, 1400 Seiten lange Buch, dessen Titel von Aischylos Eumeniden entliehen ist, und das mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Seit Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker hat kein Buch, das sich mit der Shoa beschäftigt, für so viel Aufsehen gesorgt wie Littells. Hymnischer Beifall begleiten das Erscheinen des Werks  ebenso wie vernichtende Kritik. Was die Gemuter so erregte … Littell schrieb seinen Roman über den deutschen Vernichtungsfeldzug in Osteuropa aus der Sicht eines Täters. Es ist der zynische Jurist Dr. Max Aue, der als Mitglied des Sicherheitsdienstes und SS-Offizier bei den schlimmsten Verbrechen des Nationalsozialismus zusieht. Littell mixt Fakt und Fiktion. „Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.“ So beginnt der Prolog („Toccata“) des Autors, der zugleich den antik/philosophischen Anspruch des Werkes definiert – bereits mit diesem ersten Satz hat sich Littell den Vorwurf der Hybris strenger Kritiker eingehandelt. Der Erzahler selbst nennt sich  „Erinnerungsfabrik“. Er beteuert, dass die Aufzeichnungen „frei von jeglicher Reue sein werden … Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht“ – ein Schlag in die Magengrube anderer Rezensenten. Akribisch flicht Littell die organisatorischen Strukturen von Wehrmacht, Reichssicherheitshauptamt, KZ-Lagerverwaltungen, Befehlsketten der SS und vieles mehr in sein Epos ein.  „…ihr seid nicht besser“, deklamiert schließlich der spätere Spitzen-Fabrikant Aue. Aua.

Die szenische Erfassung dieses Monstrums kann nun als Vieles bezeichnet werden. Als mutiges Unterfangen. Als Neu/Andersinterpretation. Als Missverstandnis. Dies alles beginnt beim Hintergrundvideo. Eine Auenlandschaft. Die Banalitat des Buhnenbilds. Drei Schauspieler, Thiemo Strutzenberger als Max Aue, Steffen Hold als Thomas Hauser, Barbara Horvath als Una und in anderen Rollen, spielen um ihr Leben. Seltsam. Noch nie hat man die fabelhaften Darsteller Strutzenberger und Horvath so wortundeutlich erlebt. Wer uber den Roman nicht dissertiert hat, bleibt auf der Strecke. Wer ist jetzt wann genau wo … „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“, der Satz aus Dantes Inferno passt zum Buch wie zur Aufführung, er wird auch zitiert wie vieles andere … Dazu begleitet der italienische Countertenor Maurizio Rippa das Spiel mit einer Art barockem Psychogesang – und hat seinen unheimlichsten Moment, als er leise ins Mikro zischt: Gas. Ausserdem schiebt er einen Scheinwerfer kreuz und quer uber die Buhne. Auch das wird seinen Grund haben. Ein bisschen Verhorlampe, um das Publikum zu blenden, muss schon sein.

Strutzenberger, dessen Theaterstuck Queen Recluse uber die Schriftstellerin Emily Dickinson im November am Haus uraufgefuhrt wird, und Hold spielen Aue und Hauser wie Faust und Mephisto. Wie Wladimir und Estragon des Grauens. In ubergrossen Sakkos. Warten auf Wolf. Hold, wie immer punktgenau, ist ein begnadeter Pragmatiker, verkorpert die zynische Beamtenmentalitat des Dritten Reichs. Tanzelnd unterstreicht er die Kunstlichkeit des Buches. Fabelhaft sein Temperamentsausbruch, als sich die Wehrmacht verbietet an den SS/Totungsaktionen teilzunehmen. Da will sich wer jetzt schon reinwaschen und ihn am Schluss im Regen stehen lassen … Gottes einzige Entschuldigung ist, dass er nicht existiert. Fur Strutzenbergers uber weite Strecken des dreieinhalbstundigen Abends regungs/teilnahmslos sitzenden Aue, diese nicht anders als allegorisch zu verstehende Figur, hat sich die Regie was einfallen lassen. Und das kann bekanntlich gefahrlich sein. Weshalb Strutzenberger mit Fieberblick, am Rande des Wahnsinns, den Moralisten gibt. Und genau das ist Aue nicht. Er ist ein Philosoph des Bosen, Fleisch gewordenes Zitatenschatzkastlein, ein belesener Pseudointellektueller, ein Feigling, ein Raushalter, ein Bonvivant. Kein Humanist. Nicht einmal, als er vorschlagt, die Essensrationen in den KZs zu verbessern, tut er das aus Menschlichkeit, sondern, um die Arbeitsleistung der Geschundenen zu erhohen. Und wenn er bei Massenexekutionen wegschaut, dann nicht aus Mitleid, sondern, weil ihm graust. Warum mussen die sich auch anscheissen, bevor sie gemeuchelt werden.

Pfui, also wirklich. Ob diese Auffuhrung zum Aushalten ist, muss jeder Zuschauer fur sich entscheiden. Klingt jetzt nach Ausrede ist aber so. War auch beim Roman nicht anders. Ein Experiment ist auf alle Falle zu erleben. Ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ausser in der Pause zu gehen, was der eine oder andere tut. Eine Grenzerfahrung. Und eine solche sollte man sich ab und zu vielleicht gonnen.

www.schauspielhaus.at

Wien, 6. 10. 2013

Salzburger Pfingstfestspiele

Mai 14, 2013 in Tipps

Cecilia Bartolis Thema ist „das Opfer“

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Cecilia Bartoli und John Osborn
Bild: © Hans Jörg Michel

Von 17. bis 20. Mai finden die diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele statt. Die beherrschende Thematik im neuen Programm ist der Begriff des „Opfers“. Besonderes Interesse hat Cecilia Bartoli, die Künstlerische Leiterin der Pfingstfestspiele, an der Doppeldeutigkeit, die sichtbar wird, wenn man das deutsche Wort „Opfer“ übersetzt: „So bedeutet es zum Beispiel im Englischen ebenso ,sacrifice‘ wie ,victim‘. Doch ist der Unterschied in Tat und Wahrheit nicht in den meisten Fällen einer der Perspektive? Schließlich gibt es kein Opfer ohne Geopfertes, ohne Opfergabe – die Frage ist nur, auf welcher Seite man sich wiederfindet“, so die Bartoli. Die Begriffe umfassen die unterschiedlichen Aspekte von Opferung, Opfersein und Hingabe und spiegeln sich in den verschiedenartigen Veranstaltungen der Pfingstfestspiele wider. Unter dem Übertitel LiebesOPFER singt Bartoli selbst die Titelheldin in der Oper „Norma von Vincenzo Bellini, die erstmals szenisch auf historischen Instrumenten und in einer neuen kritischen Edition von Riccardo Minasi und Maurizio Biondi in Salzburg aufgeführt wird. Giovanni Antonini übernimmt die musikalische Leitung. Moshe Leiser und Patrice Caurier werden die Oper inszenieren. Mit ihrer Stückauswahl wollte Cecilia Bartoli den grundlegenden Konflikt zwischen Pflicht und Herzenswünschen einer jeden Person zum Thema machen. Die Hauptfigur befindet sich genau in diesem Zwiespalt und entscheidet sich letztlich für die Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen. Mit Bartoli auf der Bühne: Rebeca Olvera, John Osborn, Michele Pertusi, Liliana Nikiteanu und Reinaldo Macias.

In sechs weiteren Programmen unter den Titeln MusikalischesOPFER, FrühlingsOPFER, BiblischesOPFER, PolitischesOPFER, ReligiösesOPFER und VersöhnungsOPFER sind als Mitwirkende unter anderem András Schiff, Valery Gergiev mit dem Ballett, Chor und Orchester des Mariinski-Theaters aus St. Petersburg, Diego Fasolis, Franco Fagioli, Javier Camarena, Roberta Invernizzi, I Barocchisti, Vadim Repin, Ildar Abdrazakov, das Hagen Quartett und Alfred Brendel, René Pape, den Wiener Singverein, Daniel Barenboim und sein West-Eastern Divan Orchestra zu erleben. Zum ersten Mal wird bei den Salzburger Pfingstfestspielen ein zweites Werk szenisch aufgeführt: Igor Strawinskys Ballett „Le Sacre du printemps“ ist genau 100 Jahre nach seiner skandalträchtigen Uraufführung in der rekonstruierten Originalfassung von Vaslav Nijinskys Choreografie und in der archaischen, von fauvistischen Farbkombinationen beherrschten Ausstattung von Nicholas Roerich, vereint mit weiteren Meisterwerken aus dem Erbe der Ballets Russes mit Künstlern des Mariinski-Theaters, St. Petersburg, zu erleben.

Begleitend zeigt DAS KINO den Film „Offret“ (Opfer) von Andrei Tarkowski, dessen Filmstills die Bildsprache des Pfingstprogrammes prägen. In der Rauchmühle wird als VisuellesOPFER zudem eine multimediale Ausstellung des Philharmonia Orchestra und Esa-Pekka Salonen präsentiert.

www.salzburgerfestspiele.at

www.salzburgerfestspiele.at/spielplan-pfingsten

http://salzburgerfestspiele.at/Portals/0/Pfingsten_2013_Programm_Web.pdf

Von Michaela Mottinger

Wien, 14. 5. 2013