Wiener Staatsoper streamt: La Traviata

März 9, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Influencerin Violetta verliert all ihre Follower

Violetta Valéry ist bei Simon Stone nicht länger Kurtisane, sondern Internet-Influencerin: Pretty Yende und Juan Diego Flórez als Alfredo Germont. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Ein Glück. Die in der per Video angebotenen „Einführungsmatinee“ mehrmals beschworene, nie konkret ausgesprochene Frage der Hautfarbe spielt denn doch keine Rolle. Die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende muss also nicht als die schwarze, sondern kann als eine gesanglich wie darstellerisch ausgezeichnete Violetta und ganz ohne Meghan-und-Harry-Vergleich in die Annalen der Wiener Staatsoper eingehen.

Von dort zeigte Regisseur Simon Stone via ORF III und Stream seine Inszenierung von Verdis „La Traviata“ – noch fünf Tage zu sehen in der tvthek.orf.at und am 12.März erneut auf play.wiener-staatsoper.at -, und was das Handvoll Rezensentinnen und Rezensenten vor Ort hie und da als Bilderflut, SMS-Wut, mit einem Wort: too much Emojis bemängelte, kann vorm Bildschirm nicht nachvollzogen werden. Die Kamera bleibt die meiste Zeit dicht an den Protagonistinnen und Protagonisten, man ist an deren Spiel gänsehautnah dran – und erlebt einen Opernabend erster Klasse.

Hausdebütant Stone, in Wien bisher bekannt vom Burgtheater, beispielsweise mit seiner „Medea“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=31048) oder „Hotel Strindberg“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=28131), versteht sich als Beauftragter in Sachen Neu- und Überschreibungen. Eine Kunst, die er zur Meisterschaft gebracht hat, derart gab’s natürlich auch kein Halten vor der Kameliendame: Violetta Valéry, die gewesene Kurtisane, ist nun eine Internet-Influencerin.

Schon zur Ouvertüre dreht sich auf der Bühne von Bob Cousins der Social-Media-Kubus, Violetta hat alle Kanäle offen für die Community, Kurznachrichten, Instagram, ein Mail von Mama: Bist du müde, trinke Selleriesaft!, wird sofort zur Werbebotschaft – und ist zugleich ein erster Hinweis auf Erkrankung. Per Messenger ersucht Doktor Grenvil, Violetta möge sich bitte dringend melden.

Doch vorm Club „Martina’s“, ja, mit Wermutstropfen-Schriftzug, steht die Jeunesse dorée in der Warteschlange, und Violetta mittendrin im Goldkleidchen, eine mondäne „Bitch“, wer’s Musikvideo kennt, Pretty Yende eine Beyoncé der Oper. Von den gutsituierten Spezis mitgeschleift, erscheint Alfredo auf der Bildfläche, und Juan Diego Flórez gestaltet ihn als an den Schläfen angegrauten Endvierziger, er wirkt wie ein Oberbuchhalter auf Sexurlaub, Typ hauptberuflicher Erbe, den der herrische Vater nicht mal in die Nähe eines Vorstandsposten lässt.

Man flirtet sich Richtung Liebe auf den ersten Blick, kaum im Home Office, und Alfredo hat einen Laptop! mit Birnenlogo!, wird gechattet, überhaupt haben hier alle ständig ihr Smartphone in der Hand. Violetta findet derweil ihren Weg durchs morgendliche Paris, vorbei am riesigen Leuchtplakat für ihr Parfüm „Villain“, an der Jeanne d’Arc auf der Place des Pyramides bis zum „Paristanul“-Kebabstand.

Violettas Salon ist nun ein hipper Club: Ensemble. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Beim Landleben ist Digital Detox angesagt: Pretty Yende. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Pretty Yende und Igor Golovatenko als Giorgio Germont. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

La Traviata – die Parfümwerbung: Pretty Yende im Plakatformat. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Ein Hinweis auf Banlieue-Herkunft, und auf Stones und Cousins‘ Schauplatzwechsel zwischen lärmend und leise, Überfrachtung und Weißtünchung, die Welt lebt nicht von Facebook allein – im zweiten Akt auf dem Lande genügen ein Traktor und eine Scheibtruhe zur Illustration. Digital Detox ist angesagt. Violetta in Gummistiefeln stemmt Heuballen, Alfredo im Holzfällerhemd hat den Bürohengst hinter sich gelassen, und Flórez singt so anrührend von der neuen Freiheit, die Freude darüber in jedem Ton, dass einem angesichts des Ausgangs der Geschichte klamm ums Herz wird.

Juan Diego Flórez, mit dieser gottgegebenen Stimme, ist wie für den Alfredo dieser Aufführung geboren. Feinnervig erspürt er dessen sympathisch schüchternen Charme, singt den Alfredo geschmeidig und mit Gefühl und stemmt das hohe C am Ende seiner Cabaletta mit einer Leichtigkeit, die ihn als herausragenden Verdi-Interpreten ausweist. Flórez ist in Höchstform. Liebe wie Leid vermittelt er ehrlich und tiefempfunden, dies nicht zuletzt auch dem hohen Niveau von Simon Stones Personenführung gedankt – und der Chemie, die zwischen Flórez und Pretty Yende knistert.

Auch die versteht, die Tonleiter der Emotionen zu erklimmen, brennend vor Leidenschaft präsentiert sie diese Figur, die ihr sozusagen auf den Leib geschneidert wurde. Ihre Violetta ist elegant wie expressiv, stark wie zerbrechlich, Yende findet immer die rechte Balance zwischen It-Girl und Lyrik. Ihr Sopran ist glockenhell, bei den Koloraturen brilliert sie, sie hat eine Einfachheit im Singen, dies als Kompliment gemeint, heißt: ohne Schnörkel und Chichi, die ergreift, und kommt’s ein, zwei Mal zum Distonieren, so sei dies als Aufflackern von Violettas Seelenqualen angenommen. Alles in allem: Welch ein Rollendebüt!

Nun kann der Verliebteste nicht in Frieden leben, wenn es der Bank – im Hintergrund der pastoralen Idylle laufen Kontoauszüge und Mahnschreiben – und dem bösen Papa nicht gefällt. Auftritt Igor Golovatenko, als Giorgio Germont, als dritter im Bunde der Solistinnen und Solisten zu nennen. Der Vater, der sich als gesellschaftlich installierte moralische Instanz geriert, und doch nur nach seinen eigenen Geschäftsinteressen schielt, Golovatenko, der seinen kräftigen, mehr bodenständigen als noblen Bariton dröhnen lässt.

Großartig gespielt ist des alten Germonts ekelhaft bedrückter Großmut, so klein sein Gewissen, wie die Kapelle, vor der sich das alles ereignet. Gelungen auch die szenische Umsetzung mittels Newsticker, über den, während Germont fürs Töchterchen bittet, Nachrichten von einem Firmenskandal – Verstrickungen in Saudi-Arabien, der Prinz zieht die Verlobung zurück, katastrophale Konsequenzen – laufen. Schade, dass in dieser Schlüsselszene die Bildregie bei ihrer Großaufnahmen-Taktik bleibt, hier hätte die Totale mehr Aufklärung gebracht.

Und apropos, kurze Kritik: Nicht erschließt sich das Kostüm, das Alice Babidge Igor Golovatenko angetan hat, und das so gar nicht den Machtmenschen verkörpert. Die knittrige Hose, das dazu weder in Farb- noch Stoffwahl passende Sakko und die Umhängetasche sehen eher nach abgehalftertem Aufdeckerjournalist denn nach Unternehmer aus. Mit Giacomo Sagripanti hat der Abend einen Dirigenten, der alles richtig macht, einen verlässlichen, einfühlsamen Begleiter der Sängerinnen und Sänger, der um deren große Momente weiß, präzise musizieren und kraftvoll Akzente setzen, bis er zur traurigsten aller traurigen Romanzen, „Addio, del passato“, die Geigen zartschmelzen lässt.

Igor Golovatenko als Giorgio Germont. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Attila Mokus als Baron Douphol (re.). Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Der Kameliendame Krebstod. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Nach einem Bruce-Nauman-Moment mit Margaret Plummer als Flora Bervoix und Attila Mokus als Baron Douphol, Motto: per SMS in die SM-Spaßgesellschaft, ist man nämlich im Sterbeakt, und da digitale Schwindsucht als tödliche Krankheit nicht durchgeht, hat Simon Stone seiner Online-Celebrity unheilbaren Krebs verschrieben. Chemotherapie-Raum, Krankenhausnachthemd, das Orchester, filigran, verzweifelt, folgt Violetta noch einmal durch Paris. Es ist jener Traum, von dem man sagt, mit ihm ziehe das ganze Leben an einem vorbei.

Dazu Selfies aus glücklichen Tagen, Violetta und Alfredo, Pretty Yende herzzerreißend, aber pathosbefreit, selten hat man sich am Ende von „La Traviata“ so sehr das unmögliche Happy End gewünscht. Donna Ellen als Annina fällt am Spitalsbett noch positiv auf, sie ist die letzte Vertraute, alle anderen Follower hat Violetta verloren …

Instagrammerin Josi Maria berichtete von ihrer Magersucht – bis zum Tod, Bloggerin Emily Mitchell über ihre Schwangerschaft – bis zum Tod, Influencerin Kasia Lenhardt über ihre Beziehung zu Fußballstar Jerome Boateng – bis zum Tod. Das moderne Gewand, in das Simon Stone seine „Traviata“ gehüllt hat, ist absolut stimmig. Verdi erschuf ein Geschöpf im Rausch der Geschwindigkeit und des Champagners, das die eigene Privatheit, sogar Intimität zu Markte trägt, um im Luxus schwelgen zu können. Auch die Standesdünkel des Kapitals gegen die Aufmerksamkeitsökonomin passen, bis heute heiraten Geld- wie Altadel bevorzugt untereinander. Was die Neuinterpretation der „Traviata“ angeht, kann man nur sagen: Mission completed.

Bleibt, allen Beteiligten an dieser Produktion den gebührenden Applaus zu spenden. Gespenstisch war er schon, dieser Abend ohne einmal Klatschen. Vielleicht, auf bald, live. Bis dahin ist die Aufführung, eine Koproduktion mit der Opéra national de Paris, noch fünf Tage in der ORF-TVthek zu sehen: tvthek.orf.at/profile/Erlebnis-Buehne/13869433/Erlebnis-Buehne-Wir-spielen-fuer-Oesterreich-La-Traviata-aus-der-Wiener-Staatsoper/14084437

Eine Wiederholung des „La traviata“-Streams gibt es am 12. März ab 19 Uhr auf play.wiener-staatsoper.at, kostenlos und für 24 Stunden abzurufen. Einführung zur Inszenierung von Simon Stone: www.youtube.com/watch?v=qC5nWgHjQPA          www.wiener-staatsoper.at

  1. 3. 2021

Protestlesung im Schauspielhaus Wien

März 22, 2013 in Tipps

Mit Julya Rabinovich und Susanne Scholl

Julya Rabinowich  Bild: © Margit Marnul

Julya Rabinowich
Bild: © Margit Marnul

Am  24. März, 11 Uhr, findet im Schauspielhaus Wien  die „Protestlesung.Von Tätern und Opfern. Wider die derzeitige Rechtssprechung bei Sexualdelikten.“ statt Es lesen: Andrea Maria Dusl, Sabine Gruber, Olga Flor, Sibylle Hamann, Elfriede Hammerl, Gabriele Kögl, Margaret Kreidl, Lydia Mischkulnig, Helga Christine Pregesbauer, Julya Rabinovich, Eva Rossmann, Susanne Scholl, Andrea Stift, Linda Stift und Cornelia Travnicek. Es moderiert Mercedes Echerer. Musik: Sormeh (Iran/Serbien) – zwischen Kagran und Teheran: Ein  Bogen von orientalischer zu balkanischer Musik.

facebook.com/Sormehmusic

Gesang, Daf, Berimbao: Golnar Shahyar
Klarinette: Mona Matbou Riahi
Gesang, Viola, Loops: Jelena Popržan

Sexueller Missbrauch einer Minderjährigen führt derzeit innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens zu 6 Monaten Fußfessel, von denen noch Monate nachgelassen werden sollen, obwohl das Opfer mehrfach angab, vom Täter weiterhin verfolgt worden zu sein. Eine Justiz, unter deren Wirken erwiesene sexuelle Gewalt an Frauen und Minderjährigen zu lächerlich geringen Strafen führt, signalisiert den Tätern freie Bahn. Ein sexueller Übergriff ist Gewalt. Delikte gegen Leib und Leben werden sanfter bestraft als Vermögensdelikte. Als Schriftstellerinnen erheben wir unsere Stimme stellvertretend für die Opfer und ihre Angehörigen. Ein Protest für alle – vorgetragen von vielen.

www.schauspielhaus.at

Von Michaela Mottinger

Wien, 22. 3. 2013