Der Mann, der seine Haut verkaufte

März 4, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Syrien-Krieg und die Wimmerl-Katastrophe

Trägt das für ihn unerreichbar gewesene Schengen-Visum als Tattoo-Kunstwerk: Yahya Mahayni als Sam Ali. Bild: © Filmladen Filmverleih

Die Welt huldigt dem Mammon, die Kunstwelt errichtet ihm Altäre, und dies System als wertschöpfend statt schöpferisch bloßzustellen, geht selbst für die Großen unter den Kritikerinnen und Kritikern meist in die Binsen. Ein Beispiel: Als der Street Artist Banksy sein bei Sotheby’s London zur Versteigerung freigegebenes „The Girl with Balloon“ schredderte, um ein Zeichen gegen den Kunst- kommerz zu setzen, hielt sich das Entsetzen der Bieterinnen und Bieter nur kurz.

Neu zusammengesetzt als „Love is in the Bin“ brachte das Werk nämlich 18,5 statt 1,04 Millionen Pfund ein. Tja. Der tunesischen Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania gelingt es mit ihrem Film „Der Mann, der seine Haut verkaufte“, derzeit im Kino, diese Realsatire mit bitterbösem Sarkasmus und einem Hauch Melancholie zu toppen. Sage keiner, die beiden Begriffe würden sich ausschließen, Ben Hania schafft den tragikomödiantischen Kniff, der ihr bereits den Friedenspreis des Deutschen Films, eine Auszeichnung bei den Prix Lumières, zwei in Venedig, eine davon der Darstellerpreis für Yahya Mahayni, und – als erstem tunesischen – eine Oscar-Nominierung als Bester internationaler Film einbrachte.

Die Story basiert auf der Geschichte eines menschlichen Kunstwerks namens „Tim“ des belgischen Konzeptkünstlers Wim Delvoye, der 2008 eine aufwendige Punk-Kreuzigungsszene auf den Rücken des Zürcher Tattoo-Studio-Besitzers Tim Steiner tätowierte. Der sich gegen Bezahlung dazu bereit erklärte, sich in Galerien zu präsentieren und nach seinem Tod die tätowierte Haut entfernen und ausstellen zu lassen. „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ erzählt nun von einem faustischen Pakt, der Delvoyes umstrittene Arbeit um eine politische Dimension erweitert, verwebt Ben Hania für ihren Film doch den Syrien-Krieg mit den Fallstricken der europäischen Migrationspolitik.

Weil der Syrer Sam Ali im Zug beim spontanen Verlobungstanz mit seiner Geliebten Abeer ruft: „Ich bin die Revolution, wir wollen Freiheit!“, wird er verhaftet und kann nur mit knapper Not nach Beirut entkommen. Dort sitzt er fest, während Abeer (zart und grazil, aber ein wenig zu passiv angelegt: die französische Theaterschauspielerin Dea Liane) von ihrer Familie gezwungen wird, den in sie verliebten Botschaftsangestellten Zaid zu heiraten und mit ihm nach Brüssel zu gehen. Klar, dass auch Sam nach Belgien will, aber vorerst schmuggelt er sich in Vernissagen ein, um ein Abendessen in Form von Häppchen und ja, auch Champagner, zu stibitzen.

Sam und Abeer feiern Verlobung im Zug: Yahya Mahayni und Dea Liane. Bild: © Filmladen Filmverleih

Fotosession mit Künstler Jeffrey Godefroi: Yahya Mahayni und Koen De Bouw. Bild: © Filmladen Filmverleih

Ausstellungsobjekt in den Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique: Yahya Mahayni als Sam. Bild: © Filmladen Filmverleih

Sam wird versteigert und geht für fünf Millionen Pfund an einen Kunstsammler: Yahya Mahayni. Bild: © Filmladen Filmverleih

Da entdeckt ihn am „Gratisbuffet“ die Händlerin des ausstellenden Künstlers, Soraya Waldy, Monica Bellucci bravourös als manipulativer, aalglatter Kultursnob, und erkennt Sams Notlage – die sie und ihren Konzeptkünstler Jeffrey Godefroi auf eine Idee bringt: Sie offerieren Sam einen „fliegenden Teppich“, das unerreichbare Schengen-Visum, an, so er sich ein solches von Godefroi auf den Rücken tätowieren und sich als Kunstobjekt auf einer Museumstour durch Europa ausstellen lässt, Start in Godefrois Heimatstadt Brüssel. Als „Leinwand“, so die zwei mit diabolischem Charme, könne Sam problemlos durch die Welt reisen. Waren und Kunstobjekte, sagt Godefroi, bewegen sich heutzutage freier als das Subjekt Mensch.

Belgiens Film- und Fernsehstar Koen De Bouw gibt Jeffrey Godefroi, den „teuersten lebenden Künstler“, mit Kajal und schwarzlackierten Fingernägeln als charismatischen, exaltierten Businessman, der den Markt, den er bedient, genau kennt und daher weiß, wie er mit Provokationen für Aufruhr und Einnahmen sorgt. Ihm gegenüber steht der syrische Schauspieler und Schriftsteller Yahya Mahayni, als Sam Ali ein muslimischer Schmerzensmann, in dessen sensiblem, ausdrucksstarkem Gesicht sich tausend Emotionen spiegeln.

Zum Unmut der Museumsdirektoren, denn ein selbstständig denkendes Ausstellungsstück war nach deren spätkolonialistischem Ansinnen nicht gewünscht, erweist sich Sam alsbald als äußerst eigensinniges, auch zorniges Artefakt, das sich nicht widerstandslos zum Objekt degradieren lässt. Mahayni gelingt es, Sam einen Panzer aus trotziger und impulsiver Sturheit anzulegen, unter dem Ohnmacht und Hilflosigkeit trotzdem erkennbar bleiben. Er will die Frau, die er liebt, vorm ungeliebten Ehemann retten, und verzettelt sich nicht besonders sympathisch in nebensächlichen Scharmützeln. Mahayni spielt das mit einer sehr eigenen Maskulinität, die dem Klischee vom arabischen Männlichkeitskult zuwiderläuft.

Ben Hanias parabelhafte Erzählung, die Christopher Aouns Kamera in teils gemäldeartigen Kompositionen festhält – etwa, wenn Sam im seidenblauen Morgenmantel durchs Museum eilt, vorbei an den Alten Meistern, bis er selbst auf seinem Sockel und auf seinen Rücken reduziert von den Betrachtenden fotografiert und von Schulklassen analysiert wird -, trifft zielsicher manch gesellschaftspolitische Schieflage dieser Tage. Pointiert ist besonders Ben Hanias Blick auf den westlichen Kunstmarkt, den die Virtuosen der Selbstinszenierung regieren und Aufmerksamkeit dem zuteilwird, der sich am lautesten geriert.

Muslimischer Schmerzensmann: Yahya Mahayni spiegelt 1000 Emotionen in seinem ausdrucksstarken Gesicht. Bild: © Filmladen Filmverleih

Im Kontrast zu dieser im Wortsinn Kunstwelt zeigen Ben Hania und Aoun um nichts weniger symbolische Bilder: Sam, der sich auf der Flucht in den Libanon auf einem Pickup versteckt, getarnt mit einem Hemd im gleichen Muster wie die ihn umringenden Ikea-Tragetaschen. Sam, der in Beirut in einer Hühnerfabrik die männlichen Küken aussortiert und per Stromschlag tötet – kaum etwas wirkt erbarmungswürdiger als ein gerupfter

Hühnertorso auf dem Förderband. Schließlich die syrische Hilfsorganisation in Brüssel, deren Leiter Sam vorwirft, er führe sich auf wie im Zoo oder Zirkus – und der wegen Sams „Verletzung der Würde und Menschenrechte des syrischen Volks“ einen Shitstorm im Internet entfacht. Und apropos, Zirkus: Einen solchen veranstaltet Godefroi als sich in seinem Kunstwerk aka Sams Rücken ein Pickel bildet – was ist ein Bürgerkrieg gegen eine Wimmerlkatastrophe? Ein Spezialist für das konservatorische Problem muss her! – dies gleichsam der Höhepunkt des Affentanzes rund um Sam. Im Museum entschuldigt derweil ein Schild seine Abwesenheit: „Wegen Restaurierung geschlossen“.

Ben Hanias Verzicht auf den moralischen Zeigefinger zugunsten von Zwischentönen und einer wohldosierten Prise Humor machen „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ zu einer gelungenen Groteske an der verschwimmenden Grenze von Kunst- und Menschenhandel, die durch ihre Überspitzung einen seltsamen Sog entwickelt. Denn so absurd die vorgeführten Akte der Entmenschlichung auch seien mögen, die Realität liegt gleich ums Eck.

Wie nebenbei gelingt es der Filmemacherin die ernsten Themen einzubringen: die gesellschaftliche Verantwortung von Kunst und KünstlerInnen, die Ware Mensch, das elitäre Wort Freiheit, Sams Sorgen und Schuldgefühle, weil er Mutter und Geschwister in Syrien zurückgelassen hat. Zum Schluss wird Sam auf einer Auktion von einem Schweizer Kunstsammler ersteigert. Da macht er, wie man’s vom Syrer und Muslim erwartet, einen auf „Selbstmordattentäter“. Gekreische, Gerenne der Protz-Society aus dem Prunksaal. Immerhin: Danach ist Sam fünf Millionen Pfund wert. Was Wunder, dass sich darob sogar der IS einschaltet …

Trailer Englisch/Arabisch mit Untertiteln: www.youtube.com/watch?v=lZ2-d_cWVq0

4. 3.  2022

Neue Oper Wien: Death in Venice

Oktober 10, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Memento mori beim Strand-Dance-Battle

Alexander Kaimbacher als Gustav von Aschenbach, Ray Chenez als Apollo ad personam und Andreas Jankowitsch als mephistophelischer Dionysos. Bild: © Armin Bardel

„The Most Beautiful Boy in the World“, so der Titel des Dokumentarfilms, den Kristina Lindström und Kristian Petri just dieses Jahr beim Sundance Festival vorstellten, ein Biopic über den weiland Visconti-Auserwählten Björn Andrésen für die Rolle des Tadzio – dieser Rolle wird Rafael Lesage 50 Jahre später nicht mehr gerecht. Ein Glück. Der Sohn eines Tänzerpaars, der zunächst im Performing Center Austria HipHop-Klassen nahm, bevor er mit der Compagnie Diversity Queens und dem Studio Indeed Unique einige Preise gewann

(www.youtube.com/watch?v=KUSnQTYuIBc), ist längst kein schüchterner „Bub“ mehr. Sondern ein selbstbewusster junger Mann, der seinen Tadzio dementsprechend performt. Kraftstrotzend, arrogant, ein wenig aggressiv auch, sich seiner aufkeimenden Virilität und deren Wirkung auf dem ihm verfallenen, verfallenden Aschenbach bewusst. Mit dem er nonverbal sein homoerotisches Spielchen zu treiben scheint, sich sogar ein Buch des – heute würde man sagen – Bestsellerautors signieren lässt, ein Blick, ein lässig vom perfekten Body gestreiftes Handtuch, ein Beinah-Kuss. Als ob sich die morbide Schönheit Venedigs in ihm spiegeln würde …

Die Neue Oper Wien brachte im MuseumsQuartier Benjamin Brittens „Death in Venice“ zur dunkel-wuchtigen Premiere. Mit Intendant Walter Kobéra als Dirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, in einer Inszenierung von Christoph Zauner, Bühne und Kostüme von Christof Cremer, womit das eine Dreigestirn der Aufführung genannt wäre. Eine Trinität, die Brittens Thomas-Mann-Vertonung als Aschenbachs albtraumhafte Gedankenreise, anders gesagt: mit dem vielgestaltigen Andreas Jankowitsch und dem Wiener Kammerchor als Totentanz anlegt.

Brittens letzte ist sozusagen eine „Große Kammeroper“, für die Kobéra eine charismatische Klangwelt, einen emotionalen Sturm aus 49 Musikerinnen und Musikern, davon fünf am Schlagwerk plus ein Paukist, zu entfesseln, jedoch in den intimen Momenten von Aschenbachs Innenschau zu bändigen versteht. In Brittens Kompositionsthriller mit Sog Richtung letalem Finale, dirigiert Kobéra Aschenbachs Gefangenschaft im Gefühlschaos, dessen Leidenschaft, Verwirrung und Verlust der Würde gleich einem fortwährenden Subtext.

Kaimbacher und Chenez als Lookalike-Apollo. Bild: © Armin Bardel

Rafael Lesage adoleszenter Tadio. Bild: © Armin Bardel

Countertenor Ray Chenez als Apollo. Bild: © Armin Bardel

Um diesen „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“-Zweikampf zwischen Ratio und Passio Gestalt zu verleihen, gesellt Regisseur Zauner Andreas Jankowitsch als Geck, Gondoliere, Hotelier, Coiffeur und Dionysos Countertenor Ray Chenez als Apollo bei – er optisch ein jüngeres Alter Ego des alternden Literaten, dem er in Permanenz und mit Drohgebärde die Schreibmaschine auf den Knien platziert. Zu alldem, der feinziselierten Charakterführung Kobéras wie Zauners, ihrer Achtsamkeit auf Gesten und den durchdachten Details, hat Cremer ein Setting erdacht, ein Labyrinth aus Venedigs Brücken und Badestegen, schmale Grate, auf denen es die Balance zu halten gibt, inmitten eines Meers aus Sand ist gleich Asche, umringt von den rostigen Wänden eines Schiffsbauchs, als hätte Aschenbach die „Esmeralda“ nie verlassen.

Derart als Memento mori, oder: eine Morbidezza nicht der Malerei, sondern der Morschheit der Moral, entspinnt sich ein Licht- und Schattenspiel. Fabelhaft Andreas Jankowitsch, der vom Gondoliere-Charon an Aschenbachs diabolischer Gegenspieler ist, der sich im Chor zu einem „Mein Name ist Legion!“ steigert. Diese Gesellschaft am Lido gehüllt ins Graublau der Serenissima-Tauben und umringt von grotesk-grausamen Gauklern und Schreckgespenstern wie Catalina Paz als Erdbeerverkäuferin oder Elisabeth Kirchner als Bettlerin im Namen ihrer verhungernden Kinder.

Die Cholera, Seuche das Bühnenthema 2021, sie klopft schon an die Tore der Lagunenstadt. Die Seemöwen die anfangs durchs Video segelten, sind längst deren wurmartigem Erreger gewichen, unter den Stegen wabern tödliche Dämpfe – die Cholera, sie ist gelb. Symbolik und Farbantagonismen als Metaphern für einen drangsalierten Geist, sie sind bei Zauner und Cremer großgeschrieben. Doch noch steht die Schlacht zwischen dem apollinischem und dem dionysischen Prinzip an, und an dieser Stelle gilt es endlich zu sagen:

Dies ist der Abend des Alexander Kaimbacher, der als Gustav von Aschenbach drei Stunden lang sängerisch höchstpräzise und schauspielerisch höchstpräsent mal mit metalischem, mal fragilem Timbre alles gibt. Sich in der Britten seinem Lebensgefährten Peter Pears auf den Leib geschneiderten Rolle entäußert, entleibt, sich von Zweifel über Verzweiflung zu Selbstzerfleischung aller darstellerischen Schranken entledigt, die Kalvarienberg-Stationen der Figur durchwandert, durchleidet, ein Faust auf der Suche nach und in ständiger Begegnung mit seinem Mephisto-Jankowitsch – selten ward psychische Zerrissenheit so nobel über die Rampe gebracht.

Wr. Kammerchor als Matrosen. Bild: © Armin Bardel

Lesage und Kaimbacher. Bild: © Armin Bardel

Die Straßensänger. Bild: © Armin Bardel

Und überall der schöne Jüngling. Bild © Armin Bardel

Fulminant! Kaimbacher mit Jankowitsch und Chenez das andere Dreigestirn der Aufführung, wenn die Götter um den Sterblichen ringen, dessen Bedenken ob seiner „ungesunden“ Begierde austricksen, wobei es – in dieser Interpretation wenig überraschend – der ewig strahlende Delpher sein wird, der seinem Schützling in den Schritt greift, eine orgasmische Petite-Mort-Szene, Aschenbach bald so kreidebleich wie des Dionysos‘ geisterhafte Gefolgschaft …

Viel gibt es bei dieser Arbeit der Neuen Oper Wien zu interpretieren und zu überlegen, etliche Einfälle gilt es noch zu würdigen. Etwa das Kräftemessen von „Tadzio“ Rafael Lesage und seinem besten Freund Jaschu aka der Latino-Wiener Luis Rivera Arias, das als Dance-Battle am Lido-Strand ausgetragen wird, als Trainerin und Trainer die Tänzerin Leonie Wahl (www.mottingers-meinung.at/?p=36197) und Tänzer Ardan Hussain, die Choreografie für Brittens konzertante Zwischenspiele, ein Sonnenbad, ein Wasserballmatch, ein Flanieren auf der Promenade, das Champagnisieren angesichts der Katastrophe: Saskia Hölbling.

Oder Kaimbacher-Aschenbachs Besuch bei Coiffeur-Jankowitsch, dessen schwarzer Frisiermantel sich mittels zweier Chormitglieder zur Tracht eines Pestdoktors, ja, zu einer bewegten Version von Rodins Höllentor steigert. Zum Schluss zieht der junge Apoll-Aschenbach gegen Tadzio eine Pistole, das stumme Objekt der Begierde, meint der vorherige, muss zur Beendigung der Qualen des derzeitigen Aschenbach weg … zu spät fürs Entkommen des Abyssos‘ und ergo keinesfalls mehr dazu. Außer einem: So steht’s im Libretto nicht. Und einem Bravissimo sowie der Empfehlung, sich diese bemerkenswerte Produktion anzuschauen.

neueoperwien.at          Video: www.youtube.com/watch?v=zAZIsnvhM-k

  1. 10. 2021

Liao Yiwu: Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand. Texte aus der chinesischen Wirklichkeit

Juli 7, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Vier Jahre Haft und Folter für ein Gedicht

„Am Vormittag des 5. Juni 1989, Ströme von Blut waren geflossen und die Luft knisterte, stellte er sich allein den Panzern entgegen – ein Niemand, ein Mann wie du und ich, stand in der Mitte des breiten Chang’an-Boulevards, vor sich mehr als 18 Panzer vom Typ 59. Der vorderste Panzer versuchte, an ihm vorbeizukommen, aber er wusste das zu verhindern, indem er hin und her sprang – und als die Panzer erneut vorrückten, stellte er sich ihnen erneut in den Weg …“

Mit der Erinnerung an dieses Foto, das um die Welt ging, westliche Journalisten, die aufgrund des verhängten Kriegsrechts im Beijing-Hotel festgehalten wurden, hatten den „Tank Man“ mit Teleobjektiven heimlich aufgenommen, beginnt Liao Yiwu sein jüngstes Buch „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand“, dem er den Untertitel „Texte aus der chinesischen Wirklichkeit“ gegeben hat und mit dem sich der Dichter, Dissident und Friedensaktivist einmal mehr gegen das in China staatlich verordnete Vergessen der Geschehnisse rund um das von der Volksbefreiungsarmee angerichtete Blutbad auf dem Tian’anmen-Platz stemmt.

Auch für Liao Yiwu bedeutete dieser 4. Juni vor dreißig Jahren eine grauenhafte Zäsur. Für „Massaker“, sein Protestgedicht im Gedenken an die Opfer (hier nachzulesen: www.amnesty.de/journal/2012/oktober/massaker), wurde er der „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe“ angeklagt; es folgten vier Jahre Haft und Folter. Erst 2011 gelang es Liao Yiwu aus China zu fliehen, seither lebt er in Berlin. „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand“ ist vielleicht Liao Yiwus verstörendstens Projekt wider jene Amnesie, die westliche Politik und Wirtschaft befällt, sobald Menschenrechte den Marktinteressen im Wege stehen.

So hat er etwa für das Kapitel „Aus dem Leben meiner Gefängnisbrüder“ Porträts seiner ehemaligen Mithäftlinge verfasst, Zeilen von einer Intensität und Heftigkeit, die schwer auszuhalten sind, wenn er von Denunziation, öffentlich abzuhaltender Selbst- und Kampfkritik und dem „kleinen, hundehüttenähnlichen Raum“ berichtet, in den „die Politischen“ oft für Monate gesperrt wurden. Er beschreibt deren Angst vor den Gewaltverbrechern, und wie die beiden Gruppen von den Wärtern gegeneinander ausgespielt wurden, „als die politischen Gefangenen einen Hungerstreik durchführten, wurden sie von einer zehnfachen Übermacht von Kriminellen umzingelt …“.

Er erzählt vom „Tierbändiger“ genannten Chen Yunfei, der sich lieber prügeln ließ, „bis seine Schnauze  geschwollen war wie ein Schweinerüssel“, als klein beizugeben, von Hou Duoshu, der eine 80 Kilo schwere Fußfessel tragen musste, weil er in der Bibel las, schildert unfassbare Methoden, einen Menschen zu brechen, Hocken unter einem Stacheldrahtnetz, Tod durch Arbeit, sieht Männer bei lebendigem Leib verfaulen – und die häufigste Sterbeursache hinter Gittern: Krebs.

Bild: pixabay.com

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Dass der Westen vieles wusste, aber wenig tat, erschließt sich auf bestürzende Weise im Kapitel „Die letzten Augenblicke im Leben Liu Xiaobos“, der todkranke Literaturnobelpreisträger (Leberkrebs), für dessen Enthaftung und Ausreise nach Deutschland Liao Yiwu alle Hebel in Bewegung setzte, heißt: seine Schriftstellerkollegen Herta Müller und Wolf Biermann, Harry Goldstein, Peter Sillem, selbst Joachim Gauck und Angela Merkel. Ein brisanter Briefwechsel, der Liu Xiaobo zwar nicht mehr retten konnte, er starb am 13. Juli 2017, immerhin aber seiner gesundheitlich ebenfalls schwer angeschlagenen Witwe Liu Xia den Weg in die Freiheit ebnete.

Das Buch schließt mit Briefen und Gedichten, die Liao Yiwu im Untersuchungsgefängnis von Chongqing-Stadt gekritzelt hat – mit Bambussplittern und einer violetten medizinischen Tinktur. Die Wolken, ach, brennende Bananenblätter, / die sich schrecklich rollen! / Die Felsen eine Herde hungriger Löwen, Sterne, / die Steinen von der Zungenspitze schnellen / Der Mond, ach, der kreischende Affe, / der über den Horizont springt / und haarige Strahlen schickt / Starr umklammere ich die Finger des Abends …“, liest sich eines mit dem Titel „Die Sonne, dieser Löwe einer elektrischen Entladung, sticht in die geheimen Akupunkturpunkte der Erde“. – „Ich habe wegen meines Geschmiers schon jede Menge Unannehmlichkeiten gehabt“, schreibt er am 30. 7. 1991 an seine „liebe Niaoyu“. „Ich trage das Brandzeichen eines Elektroknüppels auf der Zunge, mir wurden die Hände auf den Rücken gebunden, ich wurde zur Strafe der Sonne ausgesetzt, musste zur Strafe singen, musste zur Strafe auf nassem Boden schlafen, ganz zu schweigen von den Tritten und Faustschlägen, die ich abbekam.“

„Ich war in diesem Sarg über zwei Jahre lebendig begraben und habe es überstanden“, so Liao Yiwu. „Herr Wang“, im britischen Sunday Express erschien eines Tages der Name des 19-jährigen Studenten Wang Weilin für den „Tank Man“, wurde von drei Geheimdienstagenten vom Chang’an-Boulevard samt seinen beiden Einkaufstaschen entfernt. Es wird angenommen, dass er in aller Stille exekutiert wurde, obwohl die chinesische Staatsspitze dies entschieden dementiert. In einer schöneren Fassung der Geschichte soll Wang Weilin nach einer mysteriösen Überfahrt in Taiwan gesehen worden sein, wo er angeblich als Archäologe arbeitet. Wer weiß? Vielleicht schreibt Liao Yiwu nach all seinen Zeitzeugenberichten darüber einmal einen romantischen Roman.

Über den Autor: Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht „Massaker“, wofür er für vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis „Freiheit zum Schreiben“ ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. 2011, als „Für ein Lied und hundert Lieder“ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. 2012 erschien „Die Kugel und das Opium“, 2013 „Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“ sowie 2014 „Gott ist rot“. Liao Yiwu wurde unter anderem mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

S. Fischer, Liao Yiwu: „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand. Texte aus der chinesischen Wirklichkeit“, 144 Seiten. Übersetzt aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann.

www.fischerverlage.de

7. 7. 2019

Werk X-Petersplatz: Zum Wilden Mann

Dezember 5, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Blitzkrieg mit Bierdeckeln

Die Burschenschaft „Dekadenzia zu Wien“: Bernhard Georg Rusch, Sören Kneidl, Martin Purth, Matthias Tuzar, J-D Schwarzmann; vorne: Sebastian von Malfér. Bild: © Alexander Gotter

Kein Schmäh. Gerade als man das Theater verließ, lief einer im Elitenstechschritt vorbei. An der Hand die Freundin, die Couleur hellbraun. Sage noch einer, Kunst sei kein Spiegel der Sachlage im Lande. Einen solchen halten Regisseurin Ursula Leitner und die handikapped unicorns nun im Werk X-Petersplatz der Pandorabüchse Burschenschaften vor. Sören Kneidl, Sebastian von Malfèr, Martin Purth, Bernhard Georg Rusch, J-D Schwarzmann und Matthias Tuzar agieren als „Dekadenzia zu Wien“.

Diese zwar fiktiv, doch der Text zu „Zum Wilden Mann“ auf Grundlage von Dokumaterial und mit Beratung des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands entstanden. Eine bissige Farce auf die Vollwichsträger ist diese Uraufführung geworden. Vom Fuxmajor über den Cantusmagister bis zum Fuxe, die Hackordnung wie in einem Hühnerstall, sind alle vorhanden, die sich der Männlichkeit ihres Bierzipfels versichern müssen. Und so übt sich das rechtsakademische Personalreservoir Vielmann, Neumann, Hartmann, Bergmann, Baumann und Trautmann in den entsprechenden Ritualen – saufen, singen, über Sex reden. Das alles tun sie in der Wirtschaft „Zum Wilden Mann“, wo die Truppe knapp vor Sperrstunde kornblumenblau von einem Bezirksfest kommend einfällt. Für eine letzte Runde.

Dem linksgemütlichen Hausherrn Johnny, Régis Mainka, und seiner Kellnerin/Verlobten Tajana, Aleksandra Corovic, helfen ihre freundliche Art wenig. Die Nacht wird aus dem Ruder laufen, die Situation eskalieren. Immer wieder nämlich wird der Fortlauf der Ereignisse gestoppt, treten einzelne Mitglieder der Dekadenzia wie zur Aussage fürs Polizeiprotokoll an, Tenor natürlich: wir immer die Sündenböcke – lächerliche Vorwürfe – an den Pressesprecher wenden, da weiß man bereits, es wird nicht gut enden.

Der Wirt und seine Verlobte bemühen sich um Freundlichkeit: Aleksandra Corovic und Régis Mainka; hinten: Bernhard Georg Rusch, Sören Kneidl und Martin Purth. Bild: © Alexander Gotter

Doch die Stimmung wird dank Alkohol immer aggressiver: Bernhard Georg Rusch, Sören Kneidl, Martin Purth und J-D Schwarzmann; hinten: Aleksandra Corovic und Régis Mainka. Bild: © Alexander Gotter

Bis die Situation eskaliert: Martin Purth, Bernhard Georg Rusch, Matthias Tuzar, J-D Schwarzmann, Sören Kneidl (hinten) und Aleksandra Corovic. Bild: © Alexander Gotter

Schwarzweiße Maskengesichter hat Leitner den Burschenschaft-Darstellern verpasst, kennzeichnet sie so als untote Wiedergänger, doch je mehr die Schminke verrinnt oder verwischt wird, werden die Menschen darunter zur Kenntlichkeit entstellt. Bald schon werden nicht nur Bettgeschichten und Fußballergebnisse diskutiert, werden nicht mehr Blitzkrieg mit Bierdeckeln und andere Trink- und Demütigungsspielchen gespielt, sondern bricht sich der Hass Bahn. Der rechte Arm schnell hoch, Parolen werden gebrüllt, dass der Spielraum erbebt.

Es geht um Ehre, Treue, Vaterland, um urdeutsch vs. ostmärkisch, darum, das kulturelle Erbe wehrhaft zu verteidigen, gegen die Gutmensch-Propaganda, gegen toleranzbesoffene Armleuchter, Asylanten, Andersdenkende. Als die Liedzeile vom Schaffen der siebenten Million angestimmt wird, und der Wirt darob dem Treiben Einhalt gebieten will, wird die Bemerkung „Wir werden uns um die Wirtschaft kümmern“ zur unverhohlenen Drohung. Umso mehr, als sich herausstellt, dass Tajana aus dem Montenegro stammt …

Die Schauspieler spielen mit viel Schmiss. Zwar sind ihre Herrenmenschen ziemlich holzschnittartig angelegt, doch dient vielleicht gerade dies als Instrument für die Beunruhigung, die dieser mit Testosteron aufgeladene Theaterabend beim Betrachter auslöst.

Zum Schluss eine choreografiert ästhetische Gewaltszene. Dazwischen aber wendet Ursula Leitner ihren Gesellschaftsspiegel immer wieder auch Richtung Publikum. Wenn Sätze fallen wie „Ich bin wirklich die letzte, die etwas gegen Ausländer hat …“, und darauf ein kollektives „Aber …“ folgt. So wird „Zum Wilden Mann“ auch Aufforderung zur Selbstüberprüfung. Sehenswert! Noch bis 8. Dezember.

werk-x.at

  1. 12. 2018

Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand

November 22, 2018 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Wie „Humbug!“ zum Weltbestseller wurde

Christopher Plummer als Scrooge, dahinter Dan Stevens als Charles Dickens. Bild: © Bah Humbug Films Inc & Parallel Films (TMWIC) Ltd 2017

Adaptionen gibt es unzählige, selbst die Muppets, Micky Maus und Bill Murray kamen daran nicht vorbei, eine Folge „Doctor Who“ befasst sich damit, auch eine von „Blackadder“, sogar Onkel Dagobert heißt im englischen Original Scrooge McDuck. „A Christmas Carol“ nicht zu kennen, ist so unmöglich wie „Stille Nacht“ nicht zu können. Wie die Feiertagsgeschichte entstand, erzählt ab Freitag im Kino „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand“.

Basierend auf dem Buch von Les Standiford ist Regisseur Bharat Nalluri ein hinreißender, auf very britische Weise verschroben schrulliger Film gelungen, opulente, starbesetzte Bilder von einer pittoresken Schmuddeligkeit – wobei Nalluri trotz schwelgerischer Optik nie auf die Dickens’sche Sozialkritik vergisst. Was der Autor in „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festhielt, die Armut der Arbeiterklasse, das Ausbeuten von Kindern als billige Arbeitskräfte, rührt aus der eigenen Vergangenheit, erfährt man, ein Kindheitstrauma, dem der Film ebenso viel Raum widmet, wie der Geburt des Literatur-Klassikers. Und so wird man, während Dickens im Winter 1843 von Flops, auf welche beinah die Pleite folgte, aus der Kurve getragen wird, und in den sechs Wochen bis zum Christfest einen Erfolg nicht nur schreiben, sondern, weil die renommierten Häuser alle abwinken, auch selbst verlegen und ergo neue Kredite aufnehmen muss, immer wieder in jene Fabrikshalle zurückgeworfen, in der der elfjährige Charles seinen Lebensunterhalt verdienen musste.

Ein schmutzstarrendes, rattenbefallenes Loch ist das, in dem Buben mit rußverschmierten Gesichtern Etiketten auf Glasflaschen kleben, hustend, hinter ihnen der riesige Kessel, in dem die Schuhpolitur brodelt, die Warren’s Blacking Warehouse herstellt. Sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag schuftete das Kind Dickens hier, während Vater und Mutter in Schuldhaft saßen, und diese Schmach und Scham und der Schmerz darüber, von den Eltern so fahrlässig verlassen worden zu sein, wird den Schriftsteller ein Leben lang begleiten. Kaum jemandem hat er sich über diese Erfahrungen anvertraut, und so verwebt der Film das Gespenst der Vergangenheit, dem Dickens Herr zu werden versucht, mit den Geistern, die er ruft, damit sie sein neues Buch bevölkern.

Pittoreskes London. Bild: © Bah Humbug Films Inc & Parallel Films (TMWIC) Ltd 2017

Der Schreibprozess wird zur Seelenreinigung. Dies alles serviert Nalluri nicht auf dem Silbertablett, sondern entdeckt er dem Zuschauer erst nach und nach. Das macht „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand“ über die Buchstory hinaus zum spannenden Psychogramm des Schreibstars. Dass die Übung gelingt, ist in hohem Maße dem als „Downton Abbey“/„Matthew Crawley“ bekannten Dan Stevens zu danken.

Er macht aus dem 31-jährigen Dickens einen kauzigen Unruhegeist, der mal vor Zorn, mal vor Enthusiasmus mit wehenden Rockschößen durchs viktorianische London wirbelt, um sein Projekt voranzutreiben. Wenn die Kamera auf Stevens‘ Gesicht zoomt, die Augen darin mitunter von durchaus berechtigtem Wahnsinn umflort, ist alles abzulesen, was diesen Mann an- und umtreibt: Die Aufwendungen für sein Dandy-Dasein, das Haus zwecks Renovierung eine kostspielige Baustelle, bei der Frau das fünfte von zehn Kindern unterwegs – und ante portas der nach wie vor verschwenderische Vater samt Mutter, um beim Sohn einmal mehr zu schmarotzen.

Diesen John Dickens spielt der grandiose Jonathan Pryce changierend zwischen der Grandezza eines Lebemanns und eines vom Leben gebeutelten, ewigen Verlierers. Wie ihm für seine Enkelkinder – selbstverständlich auf Charles‘ Kosten – nichts zu teuer ist, wie er für sie spontan Märchen erfindet und erzählt, da erkennt man den Ursprung von Charles‘ Genie, dann wieder ertappt ihn dieser im Mistkübel nach seinen weggeworfenen Entwürfen stöbern – ein Autograph des berühmten Autors brächte John eine Menge Geld ein.

Der zweite (Vater-)Charakter, mit der sich Dickens herumschlagen muss, ist natürlich Ebenezer Scrooge, eine Rolle, die für Christopher Plummer, der mit Süffisanz und Sarkasmus brilliert, erschaffen worden zu sein scheint. Wie Nalluri Leben und Werk verknüpft, so fällt auch für Dickens die Fiktion in den Alltag ein, seine Figuren findet er in seinem Umfeld, seinen Rechtsanwalt und einen Kellner mischt er zu Marleys Geist, und Tiny Tim, dessen Vorbild Dickens‘ gehbehinderter Neffe ist, darf nur überleben, weil das irische Kindermädchen Tara für ein Happy End plädiert. So entdeckt er schließlich seinen Scrooge bei einem nächtlichen Friedhofsspaziergang, wo dieser alles, was mit Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe zu tun hat, mit dem Wort „Humbug!“ abtut. Das ist für Dickens zu schön, um daran vorbei zu gehen.

Charles Dickens (Dan Stevens in der Mitte) wird von seinen Figuren verfolgt. Bild: © Bah Humbug Films Inc & Parallel Films (TMWIC) Ltd 2017

Mit den Figuren kommt zum Aberwitz auch ein gewisser Gruselfaktor ins Spiel. Wunderbar, wie sie es sich im Arbeits-, manchmal sogar im Schlafzimmer bequem machen, zu Geschäftsessen und anderen Gelegenheit mitgehen, immer um Dickens herum sind, und vor allem Mitspracherecht über ihre Gestaltung einfordern. Geizhals und Fiesling Scrooge findet sich als zu einseitig dargestellt, „Meine Figur hat keine Gelegenheit, ihre Seite zu erklären“, beschwert er sich.

Bis Dickens sich endlich mit einem irritierten „Ich bin hier der Autor!“ die Autorität über sein Schaffen zurückerobert. In einer Schlüsselszene erscheint, nebelumwabert und von Blitzen begleitet, Marleys Geist nicht um Scrooge, sondern dessen Schöpfer seine Ketten aufzuzeigen. Und so muss Charles Dickens den Scrooge in sich erkennen und sich um nichts weniger läutern als sein Antiheld … „Charles Dickens: Der Mann der Weihnachten erfand“ ist von einer Warmherzigkeit, die selbst den größten Weihnachtsmuffel in X-Mas-Laune versetzen muss. Ein Film, so herbsüß wie Lebkuchen, so süffig wie der dazu gehörende Punsch, so dass einem jetzt schon die Christbaumsterne in den Augen glänzen.

www.bleeckerstreetmedia.com/themanwhoinventedchristmas

  1. 11. 2018