Endlich im Kino: Koproduzent Österreichs Oscar-Beitrag „Quo vadis, Aida?“
Juli 13, 2021 in Film
VON MICHAELA MOTTINGER
Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagic sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann und ihre beiden Söhne: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih
Für einen Oscar 2021 hat’s zwar nicht gereicht, der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ war in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, dafür gab’s bisher 16 andere internationale Auszeichnungen. An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere
Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – COV19-, heißt: Lockdown-bedingt immer wieder verschoben, ist das Drama über das Massaker von Srebrenica nun endlich in den heimischen Kinos zu sehen. Hier noch einmal die Filmrezension vom März: Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?
„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.
Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt hätte.
Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.
Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende suchen im UNO-Gelände in in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih
Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.
Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.
Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.
Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der niederländischen Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?
Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als Major Beli Mutter Aida nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.
Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt. Bild: © Polyfilm Verleih
Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt
einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.
Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie.
Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).
Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.
Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=45395
www.facebook.com/quovadisaida Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ Original-Trailer – unbedingt ansehen: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY
13. 7. 2021