Endlich im Kino: Koproduzent Österreichs Oscar-Beitrag „Quo vadis, Aida?“

Juli 13, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagic sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann und ihre beiden Söhne: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Für einen Oscar 2021 hat’s zwar nicht gereicht, der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ war in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, dafür gab’s bisher 16 andere internationale Auszeichnungen. An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere

Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – COV19-, heißt: Lockdown-bedingt immer wieder verschoben, ist das Drama über das Massaker von Srebrenica nun endlich in den heimischen Kinos zu sehen. Hier noch einmal die Filmrezension vom März: Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?

„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.

Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt hätte.

Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.

Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende suchen im UNO-Gelände in in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.

Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.

Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.

Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der niederländischen Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?

Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als Major Beli Mutter Aida nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.

Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt

einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.

Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie.

Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).

Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.

Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=45395

www.facebook.com/quovadisaida       Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ       Original-Trailer – unbedingt ansehen: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY

13. 7. 2021

Academy Awards – „Quo vadis, Aida?“ ist auch für Österreich im Rennen um den Auslands-Oscar

März 24, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagić sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann Nihad und ihre beiden Söhne Hamdija und Sejo: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Mit etwas Glück, kann auch Österreich an den diesjährigen Academy Awards teilhaben: Der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ ist in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, zusammen mit Einreichungen aus Hongkong, Rumänien, Tunesien – und Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ als dänischem Beitrag.

An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – die bereits vielfach ausgezeichnete Arbeit, die am 7. Mai in den heimischen Kinos anlaufen soll, hätte sich den Auslands-Oscar mehr als verdient; in Venedig musste man den Goldenen Löwen knapp an Chloé Zhaos „Nomadland“ abtreten … Hier die Filmrezension:

Jasna Đuričić wäre eine Nominierung wert gewesen

Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?

„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa, tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.

Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient hätte.

Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.

Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende landen im UNO-Gelände in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.

Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.

Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.

Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?

Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als der Major nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.

Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić auch eine Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt

einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.

Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie. Nur eine angesichts dieser Konflikte feige Academy-Awards-Jury kann „Quo vadis, Aida?“ den Auslands-Oscar vorenthalten.

Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).

Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.

Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance …

www.facebook.com/quovadisaida           Trailer: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY          Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ           Streaming: www.curzonhomecinema.com/film/watch-quo-vadis-aida-film-online

  1. 3. 2021

Das brut geht online: Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien. Artist-Talk & Filmscreening

November 17, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Nur mal kurz ganz Wien retten

Die Rabtaldirndln: Vier steirische Actionheldinnen retten in der Bundeshauptstadt, was an der noch zu retten ist. Screenshot: Trailer „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

James wer? Ethan wie? Die einzigen, die Wien vor den Machenschaften von vier Bösewichtinnen retten können, sind doch eindeutig die Rabtaldirndln! Das hat die performative Viererformation schon erfolgreich mit Graz getan, wo’s darum ging, das Herz der Grünen Mark vorm Dasein als Disney-Waterpark samt ganzjährigem Aufsteirern zu bewahren. Nun setzen sie ihre Superheldinnenkräfte für die Bundeshauptstadt ein.

Deren erster Bezirk erst warm abgetragen, dann geflutet werden soll, auf dass ein „Dubai an der Donau“ entstünde, eine Oligarchinnen-Insel der Seligen mit dem Burgtheater als Indoorsportpalast und Albertina-Ambiente für die Luxusappartements … Noch Anfang Oktober haben Barbara Carli, Rosa Degen-Faschinger, Bea Dermond und Gudrun Maier ihre Koproduktion mit brut Wien live am Schwendermarkt gezeigt, das nervenzerfetzende Action-Movie-Spektakel getarnt als Filmdreh in und um die VHS Rudolfsheim-Fünfhaus mit dem Publikum als Komparsinnen und Komparsen. Doch die seit „Live and please die“ Spionagefall-erfahren Frauen erlebten mit „#Corona never dies“ sozusagen ihr „Octoberpussy“ – weshalb sie nun zum Online-Artist-Talk & Filmscreening von „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“ luden, der Film nach wie vor zu sehen auf brut-wien.at.

Mit famosem Humor arbeitet sich das Frauenkollektiv am Bond-Mythos samt dessen Klischees von Männlichkeit ab. Die muss nicht unbedingt gleich „toxisch“ sein, wie eine Diskussionsteilnehmerin im „Wie konntet ihr nur?“-Tonfall nicht aufhört zu fragen. Nein, sagen die Rabtaldirndln, this is a Women’s World, und Frauen treten im Gegensatz zum Loner Spy als Kollektiv an, aber: Die Rabtaldirndln seien als Kunstfiguren ebenso gewaltbereite, die ethisch außerhalb jeder Grenze agieren – und in diesem speziellen Setting neben ihren Superheldinnenrollen außerdem als Schurkinnen eingesetzt.

Helene hält die Cue Cards hoch. Bild: © Franzi Kreis

War Room. Screenshot: „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

Control Room. Screenshot: „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

Action Room. Bild: © Franzi Kreis

Und so landet man via Video ebendort, beim Making-of, für das kein Geringerer als toxic-dreams-Mastermind Yosi Wanunu als Regisseur fungiert, und Gerda Saiko als Outside Eye, der Parcours voll aberwitziger Ideen gestaltet von Ausstatter Georg Klüver-Pfandtner. „Wir tun jetzt so, als würdet ihr glauben, dass wir einen Film drehen“, empfiehlt Gudrun Maier dem Publikum, und dieser Selbstbetrug wird nun hundert Minuten lang durchgezogen. Die Handlung, teilweise durchspickt mit Original-Floskeln, ist eine soziale Dystopie über Turbokapitalismus und Demokratieversagen, Kagran eine Sondermülldeponie, auf der Flüchtlingskinder nach Seltenen Erden graben, die Lobau Malaria-verseucht, der Fluss gefährdet von suizidalen Reichsbrücken-Befahrern.

Einzig der erste Bezirk ist eine Schutzzone, vor der bewaffnete Sicherheitskräfte Ausweise und Bankomatkarten kontrollieren. Welch ein Uschi-Stenzel-Traum! 184 Minikameras, versteckt in – no na – Armbanduhren, Blumenkästen und einem Dirndl-Schneidezahn drohnen durch die totale Paranoia, jene dunkelwindige Atmosphäre, in der Assistent Director Helene die Cue Cards für die Komparserie im doppelten Wortsinn hochhält. Derart versteckt sich im spaßigen Spiel die Dirndl-typische Gesellschaftskritik, nach Landflucht und Pflegenotstand ist’s nun die über Gentrifizierung und Kommerzialisierung; die Frage, die sie diesmal stellen, so die Performerinnen im Talk, ist: Wem gehört die Innere Stadt und ihre Kultur?

Welch ein Theater-Film-Experiment im, darauf wird wert gelegt, Olivier-Assayas-Stil. In einer geheimen Mission stürmt das #Corona-Masken-vermummte Komparserie-Publikum die als Headquarter auserkorene VHS, um dort vom War Room in den Control Room in den Action Room geleitet zu werden. In ersterem wird man top secret darüber informiert, wie sich die Bürgermeisterin in die Hände eines kriminellen Konsortiums begab, in zweiterem hat man als Geheimdiensthacker endlich die ebenfalls mit besonderen Begabungen ausgestattete Kanaille auf dem Schirm, eine Feuerteufelin, eine Cyborg, eine Banshee und eine niederträchtige Wassernixe.

In Bond-Pose: Barbara Carli, Rosa Degen-Faschinger, Gudrun Maier und Bea Dermond. Screenshot: „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

Im dritten folgen spektakuläre Verfolgungsjagden auf dem Snowboard vor hochalpiner Kulisse auf solche mittels Paraglider auf Motoryacht und Edelkarosse, augenzwinkernde Zitate aus Pappendeckel und Faschingsseide. Und während das Publikum mit Windmachen und Knöpfe-Drücken beschäftigt ist, wird Agentin X der berüchtigte, von den anderen als antifeministisch, von ihr aber als weibliche Selbstermächtigung gelesene „Buchtel-Satz“ aus dem Skript gestrichen, verschwimmt Fakt mit Fiktion, wenn Agentin Y Dreh mit Diskurs

verbindet und mit den Zuschauerinnen und Zuschauern in einen Dialog ums Wiener Wohnen, hohe Mieten und das Klima in der Stadt tritt. Die schönsten Sequenzen, leider, fanden bereits im Verborgenen statt. Das Bad in einem Martiniglas vor vierzig Bond-Boys, die Sexszene … Dafür darf die Komparserie aus roter Wolle ein Lasernetz spannen, durch das eifrig gerobbt wird, gilt es doch die Bombe zu entschärfen. Welchen Draht durchschneiden – rot oder grün? Die Frage hat sich in Wien erledigt. Doch auf die, was man als Statistin, als Statist in dieser Stadt tun kann, ist die Antwort ein eindeutiges: „Und: Action!“ der Rabtaldirndln.

„Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“ ist höchst amüsanter Nonsens mit ganz viel Hintersinn, bei dem nicht nur ein Kinogenre, sondern selbstverständlich eine Geisteshaltung in ihre Bestandteile gesprengt wird. Die Lockdown-Pause will das Performancekollektiv für ein „Die Stadt der …“-Comicheft nutzen, das im Frühjahr 2021 erscheinen soll, danach warten aufs Format Einladungen in andere europäische Städte. Schlusssatz Yosi Wanunu beim Online-Artist-Talk: Er hoffe, dass die #Corona-Lehre eine „Culture-Diet“ sei, „und die Kulturverantwortlichen nicht länger die Big Events und die Festivals abfeiern, sondern endlich die vorhandenen, das ganze Jahr über arbeitenden Künstlerinnen und Künstler entsprechend fördern“.

brut-wien.at           dierabtaldirndln.wordpress.com

Trailer: vimeo.com/452533536           Film: vimeo.com/479300245

  1. 11. 2020

Theater in der Josefstadt: Der deutsche Mittagstisch

Oktober 29, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

In Höchstgeschwindigkeit durchs Jauchefass

Das Dramolette „Freispruch“: Traute Hoess, Bernhard Schir, Michael König, Lore Stefanek, Sandra Cervik und André Pohl. Bild: Philine Hofmann

Der Vergleich mit dem Vaudeville ist zulässig. Nicht nur, was das Bühnenbild von Achim Freyer betrifft, Prospekte, wie von Hand gemalt, Rampenlicht aus Muschelleuchten, und über allem schwebend des Gutbürgers Gottseibeiuns mit teuflisch blinkenden Rotaugen und zwei Putten blutig quetschend. Gottseibeiuns, doch, denn noch immer raunt’s im Publikum: Naja, das ist halt typisch Thomas Bernhard. Des Autors unter dem Titel „Der deutsche Mittagstisch“

zusammengefasste Dramolette hat Claus Peymann zum Saisonauftakt des Theaters in der Josefstadt inszeniert. Jenem Haus, dessen Publikum er, als noch Burgherr und lange vor #Corona, eine Staubmaske empfahl. Jenem Haus, dem Bernhard via „Heldenplatz“ ausrichten ließ, dass dort selbst die allerernstesten Tragödien als Operetten gespielt“ würden. Und durchaus …

… passt Bernhards Mittagstisch-Revue und Peymanns Schaubuden-Inszenierung, apropos: Vaudeville, ins Bild. Im Programmheft wird der Wienerinnen und Wiener ehemalige Hassliebe zum „Piefke“ genussvoll ausgewalzt, nun applaudiert man angetan und artig, ach, waren das noch Zeiten, als am Burgtheater … und der Skandal damals, das hatte seither keine/r mehr zu bieten … und wie leicht überhört es sich dabei, dass die – © bisher erschienene Rezensionen – „Praterkasperlszenen gegens Nazikrokodil“ zwar weiland zwischen 1977 und 1981 aus tagesaktuellem Anlass geschrieben wurden.

Doch die Wiedergänger der „aus grobem Puppenholz geschnitzten“ Spukgestalten immer noch und schon wieder und längst nicht mehr nächstens, sondern von der selbst ernannten Mitte der Gesellschaft abgenickt bei grellem Tageslicht unterwegs sind. Ihr ewiggestriger Widerhall dröhnt von den Wänden der Republik retour als gäb’s keine Morgenröte. Eine in die Jahre gekommene Mentalität kommt grad wieder auf, das merkt vielleicht besser, wer aus einer Jugendzeit stammt, in der „bis zur Vergasung“ noch ein geflügeltes Wort war, und einer Studentenbude, deren Nachbar, wenn besoffen, per Schallplatte durch den ganzen Gemeindebau ungestraft das Horst-Wessel-Lied erschallen ließ.

Die Liederbücher sind längst nicht leergesungen. Bei Bernhard wird „Die Fahne hoch“ am Ende der Szene „Freispruch“ angestimmt, einer von sieben, in denen er Künstler- und Großbürgergrotesken ebenso virtuos entwirft wie die politische Farce oder die Volksstück-Parodie. Peymann weiß Bernhard auf diesem Weg naturgemäß zu folgen – bis hin zur Clownerie als die er die Szene „Alles oder Nichts“ enttarnt. Peymann zelebriert ein höllisch hämisches Thomas-Bernhard-Hochamt, dessen liturgische Litaneien er ohne Punkt und Komma ausspielen lässt.

Dies eine Anmerkung, weil ab und an ein Strich gut getan hätte, doch das zehnköpfige Ensemble, wie wunderbar das Wiedersehen mit der sehr vermissten Traute Hoess und der von Peymann aus Berlin mitgebrachten Lore Stepanek, wirft sich mit Verve in die Schlacht um Bernards Suder-Suaden. Wobei das Ressentiment-Räsonieren, das Banalitäten-Palaver vom Feinsten gelingt, wenn die Damen Hoess und Stefanek in Verbund mit Ulli Maier auf Freyers in politische Schieflage geratener Weltenscheibe stehen.

A Doda: Lore Stefanek und Ulli Maier. Bild: Philine Hofmann

Eis: Maier, Bartl, König und Hoess. Bild: Philine Hofmann

Thomas Bernhard schau oba: Freispruch. Bild: Philine Hofmann

Peymann hat ein Händchen, heißt: eine Regiepratzn, für die Nieder-Tracht. In „A Doda“ finden Ulli Maier und Lore Stefanek in Steirermontur ein Bündel, das sie für einen in Packpapier eingeschlagenen Leichnam halten. Ein herrliches Stück Mundarttheater, in dem zwei skurrile Schreckschrauben mit bigotter Bäuerinnenschläue à la „Landkrimi“ ermitteln, die Maier eine furios kombinierende Detektivin unter deren Fuchtel Assistenz-Angsthäsin Stefanek sichtbar steht – bis sich herausstellt, in der Rolle sind die dem Ehemann vom Moped gefallenen Hakenkreuzplakate.

Mehr noch verbeißt sich Maier ins Bernhard’sche Bitterböse mit Traute Hoess in „Maiandacht“. Dirndlbewehrt, die Kostüme sind von Margit Koppendorfer, beweinen sie auf dem Friedhof das Ableben eines Dorfhonoratioren, der in einen tödlichen Verkehrsunfall mit einem Türken verwickelt ward. Großartig sind diese beiden Tratschtanten, die Tod und Teufel fürchten, und beim Anblick des Pfarrers nicht nur feuchte Augen bekommen. Wie gern die Leut‘ über Krankheit und Sterben anderer reden, und wie Maier und Hoess diese Stammtisch-Sätze sagen.

Von Neid und Enttäuschung geht’s zu Frustration und Hass, gleich Grabkerzen blinkt auf, dass der niedergeführte Wohltäter ein übler Geschäftemacher und wohl auch Spendenbetrüger war, wie nah am Heute das ist, und dass der „Ausländer“ mit dem Fahrrad unterwegs war, in das der Verstorbene blindlings gelaufen ist. Und dennoch befindet der Untersuchungsausschuss der Nachbarinnen „Vagast ghörns alle!“, die Gastarbeiter, nunmehr „Migranten“ genannt. Wenn die Hoess mit tobender Inbrunst in die Blutgesinnung entgleist, schaudert’s einen vor Bernhards Sprachwitz.

Um nichts weniger bei Sandra Cervik in „Match“, in dem die Gemeinplätze der Intoleranz, der Xenophobie, des Ekels vor allem „Linken“ und des faschistoiden Gedankenguts ebenso ihre giftigen Blüten treiben, Cervik als Polizistengattin, Robert Joseph Bartl, der vor Röhrender-Hirsch-Tapete in Ruhe ein Fußballspiel sehen möchte. Während sein Heimchen am Herd ob eines ihm bei einer Demonstration geschehenen Risses in der Uniformjacke zur schießwütigen Amokläuferin mutiert – „Da schiaßad i eine“, „Gsindl“, „Unterm Hitler hätt’s des ned gebn“, „Arbeiten solln’s ned Demonstrieren“ –, bevor sie ihn im Wortsinn übermannt. Cerviks Figur dabei in den Bernhard’schen Wortwiederholungen wie in ihrem Leben gefangen, gackernd wie das Huhn auf dessen Denkschleifen-Möbiusband.

Maiandacht: Robert Joseph Bartl, Ulli Maier, Traute Hoess und André Pohl. Bild: Philine Hofmann

Match: Sandra Cervik als rabiate Polizistinnengattin und Robert Joseph Bartl. Bild: Philine Hofmann

Alles oder Nichts: André Pohl, Sandra Cervik, Marcus Bluhm, Raphael von Bargen und Bernhard Schir. Bild: Philine Hofmann

Der deutsche Mittagstisch: „Bernhard“ Michael König und Traute Hoess am Nazi-Suppentopf. Bild: Philine Hofmann

Weitere Dramolette wenden sich den Machenschaften von Justiz und Politik zu, am erschreckendsten „Freispruch“, ein Abendessen in affektierter Großbürgerlichkeit, bei der NS-Massenmörder nebst Ehefrauen bei Kriegs- und KZ-Anekdoten ihre Nichtverurteilung feiern. Michael König, Bernhard Schir, André Pohl mit Stefanek, Hoess und Cervik mittels abgestorben schwarzer Lippen als die Untoten klassifiziert, die sie sind. Beim Champagnisieren sehen sich die Täter als Opfer der linken, landesverräterischen Lügenpresse und deren Fake News. Ein „Sketch“, der einem Unwohlsein verursacht, wenn nach dem „O Freunde, nicht diese Töne“ „die Reihen dicht geschlossen“ werden. Und zwar nicht als Zitat, sondern Strophe für Strophe ausgesungen: „Die Straße frei / Den braunen Bataillonen …“

Als kabarettistische Einlage präsentieren König, ein zweites Mal als zur beinah Unkenntlichkeit maskierter Popanz, Hoess, Bartl und Maier das Dramolette „Eis“, zwei ebenfalls NS-angepatzte Ehepaare am Nordseestrand, die Maier als Sonnenschutz-Gespenst, konsumsüchtige Globetrotter, die die Menschen in den Ländern, die sie bereisen, allerdings zutiefst verachten, und über die Sinnlosigkeit von Entwicklungshilfe/Hilfe vor Ort und übers „politisch wieder so hart durchgreifen wie damals“ schwadronieren, bis ihnen ein Eisverkäufer-Attentäter, Raphael von Bargen mit schnauzbärtigem Migrationshintergrund, den Garaus macht.

Einen Zirkus mit Politclowns macht Peymann schließlich aus „Alles oder Nichts“, Premiere seiner Arbeit war ja vor der Wien-Wahl, in dem sich von Bargen, Pohl und Marcus Bluhm als Staatsspitzen in einer von Bernhard Schir geleiteten Show für eine WählerInnenstimme jeder Demütigung unterwerfen. Das alles entrollt sich nach der Pause enervierend langsam, was hier als Kalkül gedeutet wird, von Bargen die am besten stammelnde Knallcharge in dieser schwächsten Versuchsanordnung, die schon Siegfried Unseld „zu billig“ zum Drucken war – aber lachen muss man doch, wenn die Herren Politiker in Höchstgeschwindigkeit durchs Jauchefass kriechen.

Zum Schluss die absurde titelgebende „Mittagstisch“-Miniatur, Familie Bernhard vollzählig versammelt, Michael König ein Lookalike des Öbersten Konterfeis, alle anderen per ebenfalls charakteristischer Nase als seine Nachkommen ausgewiesen, Traute Hoess, die diesen nun statt jedweder Weisheit den Nationalsozialismus mit dem Löffel eingeben muss, weil kein Nahrungsmittel aus Deutschland „nazifrei“ sei. Aus dem Topf quillt statt Nudeln Hakenkreuz-Pasta. Basta, brüllt König Bernhard: „Nazisuppe! In jeder Suppe findet ihr die Nazis!“

Welch ein abschließendes Bild – und selbstverständlich lassen sich die 1940-Jahre mit den späten Siebzigern mit 2020 nicht vergleichen. Doch ist sich der „Freispruch“-Diagnose des Standard anzuschließen, wenn dort über die Rechtsschaffenden steht, sie reichten „ihren schauerlichen Gesinnungskitsch sauber abgeschmeckt an die heutige Generation Slim Fit weiter.“ Oder um es mit Brecht zu sagen: „Der Schoß ist fruchtbar noch …“ Ui!

Video: www.youtube.com/watch?v=gx9B4rfS2R8           www.josefstadt.org

  1. 10. 2020

Kammerspiele: Mord im Orientexpress

November 23, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Hercule Poirot und die Frauenpower

Der berühmte Detektiv vor dem ebensolchen Zug: Siegfried Walther als Hercule Poirot und Markus Kofler als Schaffner Michel; hinten: Martin Niedermair und Paul Matić. Bild: Astrid Knie

Einen Whodunit, bei dem mutmaßlich jeder weiß, wer’s war, auf die Bühne zu bringen, ist ein beachtliches Wagnis. Nach der Romanveröffent- lichung vor nunmehr 85 Jahren und diversen Verfilmungen, darunter die Oscar-prämierte All-Star-Produktion von Sidney Lumet und ein nicht weniger prominent besetztes, von Kenneth Branagh mittels eigener Eitelkeit dennoch gemeucheltes Remake, ist Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ nun als deutschsprachige Erstaufführung an den

Kammerspielen der Josefstadt zu sehen. Als Premierenfrage stellte sich die, da sich die Spannung hinsichtlich Tätersuche in Grenzen hält, wie es Regisseur Werner Sobotka und Ensemble gelingen kann, den Luxuszug Fahrt aufnehmen zu lassen; nach erfolgter Ermittlung zwischen Schlaf- und Salonwagen lässt sich ein Teilerfolg festhalten, erzielt durch Coupé-weises glänzendes Schauspiel, doch ist die Inszenierung insgesamt eine recht altbackene, besser als verstaubt passt wohl: verschneite Adaption des Krimiklassikers, optisch mit Eisenbahndampf, Schneegestöber und vorbeiziehender Landschaft als Hommage an die Kinovorbilder umgesetzt.

Kein Geringerer als US-Dramatiker Ken Ludwig, dessen Komödie „Othello darf nicht platzen“ dem Haus beinah 20 Jahre lang einen Kassenschlager bescherte, hat das Buch für die Bühne bearbeitet, und dabei die Zahl der Verdächtigen wie die der Messerstiche auf acht geschrumpft. Aber – die Figuren fehlen einem nicht nur, weil Fan, sondern auch dem Fortgang und der Folgerichtigkeit der Geschichte, die hantige Prinzessinnen-Zofe Hildegard Schmidt, der agile Geschäftsmann Antonio Foscarelli, der vornehme Graf Rudolph Andrenyi, der Arzt Dr. Stavros Constantine – wegen dessen Streichung die Gräfin Andrenyi brevi manu zur Medizinerin upgegradet wird …

Man entdeckt das Mordopfer: Lohner, Matić, Kofler, Nentwich und Niedermair. Bild: Astrid Knie

Poirot bei seiner typischen Abendtoilette mit Haarnetz und Bartbinde: Siegfried Walther. Bild: Astrid Knie

Mary wird verarztet: Krismer und Klamminger, Lohner, Nentwich, Matić, Walther und Maier. Bild: Astrid Knie

Umso absonderlicher ist, dass trotz Personalkürzung und einer Spieldauer von mehr als zwei Stunden, den Charakteren kaum Kontur verliehen wird, und die vielfach gebrochenen und ineinander verstrickten Biografien der Figuren nicht näher untersucht werden. Bis auf Ulli Maiers hinreißend nervtötende Mrs. Hubbard bleibt die illustre Gesellschaft ziemlich eindimensional und allzu oft dort auf lautstarken Klamauk eingeschworen, wo die Verschwörer durch ihre Spleens und Schrullen auf sich aufmerksam machen sollten. Simpel ersetzt subtil, auch am Ausdruck hapert’s, von Agatha Christies köstlich-kühler Stiff-Upper-Lip-Sprache bleibt zumindest in der deutschen Übersetzung nicht viel, und auffallen Sätze wie, Hercule Poirot zu Miss Debenham: „Sie hat recht …“, wo der belgische Meisterdetektiv bestimmt „Mademoiselle hat recht …“ formuliert hätte.

Als dieser erforscht Siegfried Walther den Mord am zwielichtigen Samuel Ratchett, und er tut das auf seine sympathische, liebenswürdige Weise, indem er das mitunter hochnäsig näselnde Auftreten seiner Rolle einfach mit Charme und ein wenig Tapsigkeit unterwandert, um mit derart Noblesse die noble Bande in die Enge zu treiben. Angetan mit den historisch korrekten Kostümen von Elisabeth Gressel und unterwegs im Nostalgiebühnenbild von Walter Vogelweider, beide von den obligaten Bartbinde und Haarnetz bis zum filigranen Jugendstildekor detailverliebt, zweiteres per 180-Grad-Wende vom Speise- zum Wag(g)on-Lits wechselnd, sind:

Johannes Seilern als galgenhumoriger Eisenbahndirektor Monsieur Bouc, Paul Matić als erst mafiös brummelnder Samuel Ratchett, nach dessen Ableben als militärisch stoischer Oberst Arbuthnot, Martin Niedermair als hektisch-ängstlicher Ratchett-Sekretär Hector MacQueen und Markus Kofler als so undurchsichtiger wie diensteifriger Schaffner Michel. Womit es Walthers Poirot aber tatsächlich zu tun bekommt, ist geballte Frauenpower. Allen voran Ulli Maier, deren wohldosiert ordinäre Mrs. Hubbard das Highlight des Abends ist, eine reiche, ergo resolute Amerikanerin auf Männerfang, wie sie durch anzügliches Gesichter-Schneiden Richtung Michel immer wieder verdeutlicht, aber auch die anderen Mesdames begnadete Künstlerinnen im Intrigenspiel.

Eine hinreißend nervtötende Mrs. Hubbard: Ulli Maier mit Markus Kofler, Siegfried Walther und Johannes Seilern. Bild: Astrid Knie

Tätersuche im Salonwagen: Therese Lohner, Marianne Nentwich, Siegfried Walther und Ulli Maier. Bild: Astrid Knie

Marianne Nentwich ist als Prinzessin Dragomiroff nie verlegen um markige Sprüche, die die Blaublütige knochentrocken zum Besten gibt. Michaela Klamminger, die bereits bei ihrem „Der Vorname“-Debüt positiv auffiel, macht aus der Gräfin Andrenyi keine Riechfläschchen-Nervöse, sondern eine patente junge Frau mit Hang zum Zupacken, ebenso Alexandra Krismer, die die Mary Debenham als kecke, selbstbewusste Britin spielt. Therese Lohner hat im Gegensatz dazu als Greta Ohlsson die Lacher auf ihrer Seite; mit der grotesken Ausgestaltung der bigott-verhuschten Missionarin gelingt ihr ein vor schriller Hysterie schillernder Spaß jenseits der Erinnerung an die brillante Ingrid Bergman.

Fazit: Werner Sobotka hat seinen „Mord im Orientexpress“ mit großen Stricknadeln gestrickt, er bevorzugt Amüsement vor Suspense, die Darstellerinnen und Darsteller dabei allzeit bereit zu boulevardbetriebenem Powerplay. Während also alle miteinander den Fahrhebel bis zum Anschlag hochkurbeln, hat sich Knall auf Fall der Fall auch schon erledigt. Die Aufklärung des Verbrechens passiert auf Video. Die Lösung ist eine einfache, nämlich dass dieses Agatha-Christie-Stück den Kammerspielen den nächsten Publikumserfolg bescheren wird. Der Applaus und der Vorverkauf lassen jedenfalls darauf schließen.

Video: www.youtube.com/watch?v=eW5H70YWqMs           www.josefstadt.org

  1. 11. 2019