Seefestspiele Mörbisch: Der König und ich

Juli 27, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Et cetera, et cetera, et cetera …

Mehr als 100 Mitwirkende: Das Ensemble mit Leah Delos Santos, Milica Jovanovic, Finn Kossdorff, Vincent Bueno und Marides Lazo. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

„In a show with everything but Yul Brynner“ landete Murray Head 1984 in seinem von Björn Ulvaeus und Benny Andersson (apropos: INFO) geschriebenen Song „One Night in Bangkok“. Nun, bei den diesjährigen Seefestspielen Mörbisch hat man mehr als würdigen Ersatz für den berühmtesten Glatzkopf der Welt gefunden: den aus Amsterdam stammenden Musicalstar Kok-Hwa Lie, der die Rolle des Mongkut bereits mehr als hundert Mal verkörperte – unter

anderem im London Palladium, wo er Generalmusikintendant Alfons Haider prophezeite, selbst einmal den König von Siam zu spielen, was tatsächlich ab 1998 der Fall war. Zusammengefasst heißt das: „Der König und ich“ 2022 bei den Seefestspielen Mörbisch, wo zusammenkommt, was zusammengehört. Die Aufführung, die geboten wird, ist wahrlich eine der Superlative: Mehr als hundert Mitwirkende aus zwanzig Nationen, der opulent glitzernde 28-Meter-Turm von Walter Vogelweider, der den königlichen Palast krönt, bis dato das höchste Bühnenbild in Mörbisch, 200 neu geschneiderte Kostüme von Charles Quiggin und Aleš Valaṧek, darunter Anna’s mehr als zwei Meter breites Ballkleid mit vergoldeten Orchideen. Ein Monumentalmusical in Cinemaskop! Eine Symphonie in Purpur, Rot und Gold.

Und immer wieder hinreißende Wasserspiele statt des obligatorischen Feuerwerks, dass die einzigartige Seewinkel-Fauna ohnedies nur verschreckt haben kann … Ja, Simon Eichenbergers Inszenierung bleibt vom ersten bis zum letzten Takt (musikalische Leitung: Michael Schnack) auf höchstem Niveau unterhaltsam. Dass man derlei auch anders interpretieren könnte, die toxische Männlichkeit Mongkuts, die kolonialistisch-überheblichen Briten, schließlich das Schicksal des Liebespaares Tuptim und Lun Tha hat man andernorts schon zeitkritischer gesehen (letzteres von Auspeitschung Tuptims bis Hinrichtung Lun Thas selbst bei weiland König Alfons) – doch passt das offenbar nicht zur lauen pannonischen Sommernacht.

Was also? Beruhend auf einer wahren Begebenheit schickt das Werk aus der goldenen Ära des Musicals von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II die Engländerin Anna Leonowens nach Siam, um den zahlreichen Kindern des Königs sowie seinen ebenso zahlreichen Frauen die westliche Lebensart beizubringen. Freundschaft, aber auch Hürden tun sich zwischen Anna und dem König auf: Von Kok-Hwa Lie keineswegs unsympathisch, sondern in seinem Eitler-Pfau-Sein durchaus satirisch dargestellt, changiert dieser König fast kindisch rechthaberisch zwischen alter Tradition und neuen Sichtweisen. Er ringt mit sich für ein modernes Siam – Hauptsache: „wissenschaftlich“.

Milica Jovanovic zeigt Anna als resolute, romantische Britin, die sich auf die schier aussichtslose Mission begibt, zumindest die Grundwerte von Demokratie und einen Hauch von Gleichberechtigung am Königshof zu etablieren. Sich vor dem König zu Boden zu werfen, danach steht ihr nicht der Sinn, sie hat keine Angst vor dem Despoten, ist ihr doch klar, dass sich hinter seiner herrischen Art auch die Hilflosigkeit angesichts eines sich verändernden Weltbilds verbirgt.

Der stolze König von Siam: Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Marides Lazo und Robin Yujoong Kim, hi.: Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Bereiten den Ball vor: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Schnell gewinnt die verwitwete Lehrerin ihre Schüler lieb, was sie in einer deutschen Version von „Getting to Know You“ mit musicalheller Stimme besingt. Ihr Repertoire sowie ihr komödiantisches Talent kann Jovanovic ebenso zeigen, wenn sie ihrer Wut über den chauvinistischen König in „Shall I Tell You What I Think of You?“ freien Lauf lässt. Ein Temperamentsausbruch der Extraklasse. Worauf eine der schönsten Melodien des Musicals ertönt, „Something Wonderful“, interpretiert von der stimmstarken Leah Delos Santos als Hauptfrau Lady Thiang, die Anna weibliche Schläue im männlichen Absolutismus lehrt, nämlich den König zu belehren, indem aus einem Rat ein „Ich rate, was Eure Majestät planen“ wird. Emanzipierter Beschützerinneninstinkt par excellence.

Das eigentliche Liebespaar, die dem König vom Nachbarn Burma geschenkte Tuptim sowie deren Überbringer Prinz Lun Tha, besticht zwischen den Massenszenen rund um die königlichen Kinder (Rosemarie Nagl, Hana Amelie Hrdlicka, Lilya Aurora Gasoy, Liam Kiano Therrien, Ciannyn Therrien, Lennyn Therrien, Tamaki Uchida, Yukio Mori, Dina Le, Nio Le, Yimo Ding, Daniel Avutov, Maximilian Chen, David Chen und Ivan Ramon Jacques) mit schmerzhaft intimen Momenten: Marides Lazo und Robin Yujoong Kim reüssieren bei „We Kiss in a Shadow“ und „I Have Dreamed“ vom Feinsten.

Vor allem Kim, dem mit seinem fülligen Tenor wie bereits 2019 am Neusiedler See als Sou Chong deutlich anzuhören ist, dass er ansonsten in Opernhäusern von Zürich, Dresden, der Dänischen Nationaloper bis zur Carnegie Hall mit Partien von Don Ottavio, Tamino, Ruggero bis Maler in „Lulu“ zu Hause ist. Der König nimmt Annas Unterstützung im Umgang mit der britischen Diplomatie (Dominic Hees als Sir Edward Ramsey) schließlich an, will er sich doch der in den Zeitungen des United Kingdom verbreiteten Behauptung widersetzen, er sei ein Barbar.

Die könglichen Frauen und Kinder mit Vincent Bueno und Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Erste Unterrichtsstunde: Milica Jovanovic und die königlichen Kinder. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Yuko Mitani, Gemma Nha, Ayane Ishakawa und die hinreißende Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Kein Kopf höher als der des Königs: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Auch an dieser Stelle bleibt der Mörbischer „Der König und ich“ weit entfernt von einer Aufarbeitung komplexer weltpolitischer Beziehungen. Ein Spiel, das mit einer auf dem Boden liegenden Anna endet, weil deren Kopf sich nicht über den des Königs erheben darf, fußt auf der Annahme einer dem Kulturen-Clash immanenten Komik. Eben alles im Geiste von original 1951. Regisseur Eichenberger setzt auf Frohsinn und leichten Humor. „Et cetera, et cetera, et cetera …“ wiederholt der König das erste neugelernte Wort bei jeder Gelegenheit. Annas europäisch „geschwollener“ Rock bringt seine Frauen zu dem Schluss, dieser entspreche ihrer Figur.

„Western People Funny“ intonieren Leah Delos Santos sowie die Nebenfrauen Hanae Mori, Aloysia Astari, Ayane Ishikawa, Jadelene Arvie Panésa, Kun Jing, Angelika Studensky, Xiting Shan, Yuko Mitani, Gemma Nha und Minori Therrien beim Anprobieren der Knopfstiefelchen – und wer die Namen der Mütter mit denen der Kindern vergleicht: Alfons Haider ist besonders stolz darauf, solche in echt gecastet zu haben. (Was einen ebenso für den Generalmusikintendanten einnimmt, wie die Tatsache, dass er statt zu Beginn lange Reden zu schwingen, in der Pause lieber alle RollstuhlfahrerInnen in der ersten Reihe nacheinander persönlich begrüßt.)

„Shall We Dance?“, die große Nummer im ausladenden Ballkleid, führt zu einem durchwachsenen Happy End, denn es wird Vincent Bueno als Kronprinz Chulalongkorn überlassen sein, das Reich an neue Herausforderungen anzupassen. Es freut einen, den so überaus begabten Songcontest-Teilnehmer 2021 nach www.mottingers-meinung.at/?p=21953 www.mottingers-meinung.at/?p=29226 www.mottingers-meinung.at/?p=22489 (und als Thuy in „Miss Saigon“ im Raimund Theater) erneut auf der Bühne zu sehen. Ein Bravo auch für Bariton Jubin Amiri, der sein Sologesangsstudium an der MUK just dieses Jahr abschloss, als Minister Kralahome und Musical-Quereinsteiger Lukas Plöchl als Priester Lun Phra Alack.

Fazit: Wie auch der Protagonist im Jahr eins mit Alfons Haider zeigen sich die Seefestspiele Mörbisch reformwillig. Die Regie hat für die erwartete beschwingte Hochstimmung gesorgt (wer sich erinnert: 1998 war man angesichts von Tod und Todschlag eher betroppezt vom Stockerauer Rathausplatz geschlichen), die Ausstattung und auch Choreograf Alonso Barras konnten sich nach Herzenslust austoben. Der Wow-Effekt war gelungen. Dass man heutzutage die Diversität von Kulturen anders, heißt: auch ohne gehobenen Zeigefinger, postulieren könnte … naja. Anno 2023 ist man diesbezüglich immerhin auf der sicheren Seite. Mekka des Musicals: Wir kommen! Und das darf man durchaus wunderbar finden …

Besucht wurde die Vorpremiere am 12. 7. 2022.

Alfons Haider als der König von Siam 1998. Bild: Screenshot ORF „Der König und ich – 2022 Mörbisch – The making of“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=qNuLZYXvp94          The Making Of: www.youtube.com/watch?v=vwKHHlvwlQc&t=4s          www.seefestspiele-moerbisch.at

INFO: Für den Sommer 2023 plant Generalmusikintendant Alfons Haider die Aufführung des ABBA-Musicals „Mamma Mia!“ – von 13.Juli bis 19. August. Kartenvorverkauf ab 1. September 2022, Vorreservierungen sind per E-Mail unter tickets@seefestspiele.at möglich.

13. 7. 2022

Kunsthalle Wien – Gelatin & Liam Gillick: Stinking Dawn

Juli 3, 2019 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Schau, die Besucher zu Schauspielern macht

Gelatin: Stinking Dawn, 2019. Bild: © Gelatin, Courtesy Galerie Meyer Kainer, Wien

Am 4. Juli startet in der Kunsthalle Wien das jüngste Projekt von Gelatin und Liam Gillick. „Stinking Dawn“ ist eine Ausstellung, die den Produktionsprozess für einen abendfüllenden Spielfilm abbildet. Unter der Regie von Gillick und auf Basis seines Drehbuchs wird die Wiener Künstlergruppe die Hauptrolle in diesem Experiment spielen, das die Grenzen menschlicher Toleranz angesichts von Unterdrückung, politischen Krisen und überbordender Selbsttäuschung auslotet.

Sie sind die Hauptdarsteller – vier privilegierte junge Leute, die in einer Zeit der Krise aufwachsen und verschiedene Stadien der Entwicklung und Selbstreflexion durchlaufen bis zu einem endgültigen Moment des Zusammenbruchs, der Verschwörung und der gescheiterten Träume.

Während der Drehtage von 4. bis 13. Juli wird das gesamte Publikum zu potenziellen Akteurinnen und Akteuren im von Gelatin gestalteten, begeh- und veränderbaren Bühnenbild – einer monumentalen, scheinbar steinernen Bauklotz-Architektur aus Kolonnaden, Amphitheatern, Nachtclub-Interieurs und Gefängniszellen.

Permanente Akteure sind allein Gelatin, die in selbst gefertigten Kostümen jene „bedauernswerten jungen Snobs“ spielen, die, wie Gillick erläutert, „versuchen, sich in dem, was man schon jetzt als Post-Linksradikalismus bezeichnen könnte, über Wasser zu halten“. Was sich zunächst anhört wie die Verwirklichung eines sozialistischen Wunschtraums, wird rasch zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Idealen und Wertvorstellungen, die unter den aktuellen Bedingungen der „postutopischen Situation“ zusehends erodieren – jener sehr realen Ängste, Neidgefühle und Konformismen, die von der „neoliberalen Gegenreformation“ geschürt werden. Das Filmskript nimmt in Teilen Bezug auf das 1998 erschienene Buch „Vivre et penser comme des porcs. De l’incitation à l’envie et à l’ennui dans les démocraties-marchés“ des französischen Philosophen und Mathematikers Gilles Châtelet.

Gelatin in Schweden, 2009. Bild: © Gelatin

Gelatin Studio, 2008. Bild: © Maria Ziegelböck

Das „Schwein“ ist hier der neoliberale Egomane, dessen Begierden, Strategien und Projekte allein auf die Steigerung der Produktivität und Profitabilität des eigenen Humankapitals ausgerichtet sind. „Stinking Dawn“ bezieht auch die Lebensgeschichte des Verlegers und aktiven Kommunisten Giangiacomo Feltrinelli mit ein, der einer reichen italienischen Familie entstammte und 1972 unter umstrittenen Umständen ums Leben kam, nachdem er den Staat direkt attackiert hatte. Liam Gillick geht es in seiner künstlerischen Praxis seit den 1990er-Jahren darum, jede Art auktorialen Machtgebarens auszuschließen und ihm durch die eigene Praxis etwas qualitativ Neues entgegenzusetzen. Auch Gelatin haben immer wieder Alternativen zu herkömmlichen Kunstmodellen gesucht und neue Wege der Lebensgestaltung künstlerisch umgesetzt. Sie werden das Drehbuch kontinuierlich um parallele Erzählungen zu dessen Haupttext erweitern.

Gelatin & Liam Gillick: Stinking Dawn, 2019. Bild: Courtesy Galerie Meyer Kainer

Gelatin & Liam Gillick: Stinking Dawn, 2019. Bild: Courtesy Galerie Meyer Kainer

Nach den Drehtagen im Juli beginnt im Studio die Postproduktion des Films, wobei im Laufe der Ausstellung immer wieder neue – ganz oder teilweise fertig geschnittene – Sequenzen auf die Kulissen im Raum projiziert werden. Dem prozesshaften, nie stringent durchchoreografierten Charakter des Films entspricht somit auch die Ausstellung, die sich bis zum Ende laufend verändern wird. Deren „Ende“ ist zugleich der Auftakt zur Uraufführung des Films, die im Herbst an einem noch nicht genannten Ort außerhalb der Kunsthalle Wien stattfinden wird.

www.kunsthallewien.at           www.gelitin.net

3. 7. 2019