Leopold Museum: Emil Pirchan. Visuelle Revolution
Dezember 6, 2020 in Ausstellung
VON MICHAELA MOTTINGER
„Ich bin dem Theater verfallen mit Pinsel und Feder“

Emil Pirchan in seinem Münchner Atelier, um 1912. Bild: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich
Das Leopold Museum zeigt ab 8. Dezember mit der Ausstellung „Emil Pirchan. Visuelle Revolution“ die erste umfassende Retrospektive zum Werk des Künstlers in Österreich. Mehr als 200 Objekte geben Einblick in das Schaffen Pirchans, der als Gebrauchsgrafiker ebenso reüssierte wie als Pionier des expressionistischen Bühnenbildes. Zudem betätigte er sich als Designer, Architekt, Autor, Buchillustrator und Hochschullehrer. Seinen Einfallsreichtum konnte der
vielseitige Gestalter an den Wirkungsorten München, Berlin, Prag und Wien entfalten. Pirchan ist weitgehend unbekannt, doch in seiner Kreativität und Vielseitigkeit ist er mit den bekanntesten Vertretern der Wiener Moderne wie „Tausendkünstler“ Koloman Moser, Josef Hoffmann – Pirchans Cousin zweiten Grades –, Otto Prutscher oder Dagobert Peche vergleichbar. Erst vor wenigen Jahren sichtete Beat Steffan, der Enkel des Künstlers, jene im Besitz der Familie verbliebenen Kisten auf dem Dachboden des Elternhauses, die die reiche Hinterlassenschaft Pirchans enthielten. Die Wiederentdeckung dieses Schatzes führte zur Aufarbeitung des Nachlasses.
Dem aus Brünn stammenden Emil Pirchan wurde die Kunst gleichsam in die Wiege gelegt. Sein Vater Emil Pirchan der Ältere, letzter Schüler des historistischen Malers Carl Rahl, war in der Hauptstadt Mährens ein gefragter Porträtist des Adels und des Großbürgertums. Nach seinem Architekturstudium bei Otto Wagner in Wien und einem kurzen Intermezzo in seiner Heimatstadt zog Emil Pirchan 1908 nach München, wo er ein „Atelier für Graphik, Bühnenkunst, Hausbau, Raumkunst und Kunstgewerbe“ eröffnete.

Emil Pirchan: Plakat, 1915. Bild: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich

Emil Pirchan: Gustav Klimt – Ein Künstler aus Wien, Wien – Leipzig 1942. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich

Emil Pirchan: Plakat, 1913. Bild: KHM-Museumsverband, Theatermuseum, Wien. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich
Seine Architekturentwürfe waren auf der Höhe der Zeit, doch sie blieben bis auf jene für das 1912 fertiggestellte Haus seines Kollegen Viktor Oppenheimer unausgeführt. Dass der Erfolg im Metier Architektur ausblieb, beeinträchtigte den Schaffensdrang Pirchans keineswegs, konnte sich der flexible Tausendsassa doch bald als Gebrauchsgrafiker etablieren. Nichtsdestotrotz entstanden auch in der Zwischenkriegszeit architektonische Projekte – etwa um 1925 für zwei „Solomite Häuser“ – benannt nach Platten aus gepresstem Stroh, einem damals neuen Baustoff – oder um 1930 für ein maschinell wirkendes Theatergebäude für Südamerika, das in seiner Gestaltung an die futuristischen Filmkulissen aus dem Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang erinnert.
Im Sinne des Wiener Jugendstils vertrat Emil Pirchan eine gesamtkünstlerische Auffassung von Architektur. Dies bedeutete, dass er sich über die baulichen Angelegenheiten hinaus für sämtliche Details der Innenausstattung zuständig fühlte. Als Designer widmete er sich dem Gesamteindruck ebenso wie dem kleinsten Detail. Seine Entwürfe für Schmuck, Spielzeug, Stoffe, Vasen, bis hin zu Blumenbehältern, Notenpulten, einem „Aquarium für Mondfische“ oder einem „Hut-Spiegel-Ständer“ zeugen von unbändigem Einfallsreichtum und einer eigenen Formensprache. Helle Möbel vor buntem Hintergrund, vom Kinderzimmer bis zur Diele, teils mit folkloristischen Elementen versehen, sorgen für Klarheit und Abwechslung gleichermaßen.
Mit bemerkenswerter Flexibilität passte Emil Pirchan Materialien und dekorative Elemente der jeweiligen Aufgabe an. Schranktypen oder Tische kamen in verschiedenen Umgebungen zum Einsatz, fallweise mit unterschiedlicher Oberflächenbehandlung, die dadurch den Charakter des jeweiligen Ambientes mitbestimmte. Ebenso wie architektonische Projekte wurden Pirchans Arbeiten zur Gestaltung der privaten Wohn- und Arbeitsbereiche in Fachzeitschriften publiziert, so etwa im jährlich in London erscheinenden Magazin The Studio, wo in der Ausgabe von 1908 unter Hervorhebung seines „feurigen jugendlichen Enthusiasmus“ Möbelstücke präsentiert wurden.

Diele nach einem Entwurf von Emil Pirchan, 1907. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich

Hans Robertson: Bühnenbildfoto aus dem Ballett „Die Planeten“. Bild: KHM-Museumsverband, Theatermuseum, Wien

Ausstellungsansicht: Emil Pirchen. Visuelle Revolution. Leopold Museum, Wien. Bild: Lisa Rastl

Emil Pirchan: Entwurf zu einem Theater für Südamerika. Bild: KHM-Museumsverband, Theatermuseum, Wien. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich
Bereits 1912 experimentierte Emil Pirchan mit geschnittenem Buntpapier und erreichte mit seinen auf das Wesentliche reduzierten Collagen einen hohen Grad an Abstraktion. Die von ihm gestalteten Plakate für Veranstaltungen, Unternehmen, Fremdenverkehr bestechen durch ihre Klarheit. Sowohl in den Vorentwürfen als auch in Ausführung zählen Pirchans grafische Lösungen zu den innovativsten jener Zeit. Allein bis 1918 entstanden in seinem Münchner Atelier an die 50 Plakate und 1500 Blätter mit unterschiedlichen Entwürfen, für Buchillustrationen, Einladungskarten, Exlibris, Malbücher oder Werbeprospekte. Der Modeschöpfer Karl Lagerfeld, ein leidenschaftlicher Sammler der Plakatkunst, zählte Emil Pirchan zu denjenigen, die der Reklame im deutschsprachigen Raum ein „einmaliges Gesicht“ verliehen hätten.
„Ich bin dem Theater verfallen mit Pinsel und Feder, mit Herz, Hirn und Hand“, schrieb Pirchan in einer biografischen Notiz, um sich sogleich als „Organist an der aufrauschenden Orgel der Bühnenfarben, des Bühnenlichtes, des Raumgestaltens“ und „innig beflissener Diener am Gesamtkunstwerk des Theaters“ zu bezeichnen. Der Künstler, der bereits nach dem Abschluss seines Architekturstudiums die Ambition zeigte, auch als Bühnengestalter zu arbeiten, veranstaltete 1912 in der Modernen Galerie Thannhauser in München eine eigene Personale, die gänzlich dem Thema Bühnenbild gewidmet war.
Es sollten jedoch einige Jahre vergehen, bis sein Potenzial erkannt wurde und ihm die Leitung der Bereiche Bühnenbild und Verwaltung des Kostümwesens am Bayerischen Staatstheater überantwortet wurde. 1919 berief ihn der bedeutende Regisseur und Theaterintendant Leopold Jessner, ein Gegenspieler von Max Reinhardt, an das Staatliche Schauspielhaus in Berlin. Mit dem Stück „Aus dem Leben der Insekten“ von Josef und Karel Čapek versuchte sich Emil Pirchan 1923 erstmals auch als Regisseur. Von Anfang an galt dabei Pirchans großes Interesse dem Tanz, insbesondere den Bewegungsabläufen.

Emil Pirchan mit Masken im Berliner Atelier, 1923. © Nachlass Emil Pirchan, Sammlung Steffan/Pabst, Zürich
Auch als Kostüm- und Maskenbildner betätigte er sich; zur Maximierung der Wirkung überließ er nichts dem Zufall und setzte in den Bereichen Beleuchtungstechnik und Bühnenbildprojektion neue Maßstäbe. Die von Emil Pirchan angestrebte klare Strukturierung des Bühnenraumes sowie eindringliche Farbwirkungen wurzelten zweifelsohne in seiner Arbeit als Gebrauchsgrafiker. „Bloß Wesentliches, Verallgemeinertes. Alles Illustrierende, Ablenkende fortgelassen. Nur Konzentration!“ so sein Credo. In den 1930er-Jahren ließen knappe finanzielle Mittel keine weiteren gestalterischen Höhenflüge zu.
Während seiner Tätigkeit am Deutschen Theater in Prag war der Bühnenbildner auf die Wiederverwendung von bereits bestehenden Teilen des Dekors angewiesen. Bis auf einige wenige Ausnahmen arbeitete er zunehmend eklektisch und ohne Scheu vor historisierenden Elementen. Dieser Trend setzte sich auch nach dem Umzug nach Wien im Jahr 1936 fort, wohin Emil Pirchan als außerordentlicher Professor für die neugeschaffene Meisterschule für Bühnenbildkunst und Festgestaltung an der Akademie der Bildenden Künste berufen wurde.
Dass all diese Arbeit in die Zeit des Nationalsozialismus fiel, wirft freilich auch die Frage nach der politischen Haltung des Künstlers auf, zu der es keine eindeutigen Belege gibt. Zeitzeugen behaupten, er wäre „apolitisch“ gewesen. Jedenfalls war er kein Parteimitglied, passte sich aber dem Regime an und konnte so seine Tätigkeit fortsetzen. Die Weitergabe von Wissen war Pirchan ein großes Anliegen; vor seinem Umzug nach Wien hatte er bereits an den Akademien von Berlin und Prag sowie am Mozarteum und an der österreichischen Dependance der Theatre School of New York in Salzburg unterrichtet.
Ergänzend zu seinen Tätigkeiten als Gebrauchsgrafiker und Theaterkünstler schrieb Emil Pirchan mehrere Standardwerke im Bereich Theaterkunde sowie in der bildenden Kunst. Dazu zählten Künstlermonografien, etwa über Hans Makart und Gustav Klimt; darüber hinaus verfasste er Romane wie „Der zeugende Tod“, der 1920 nach einem Drehbuch Pirchans verfilmt wurde, mit der berühmten Schauspielerin Tilla Durieux in einer der Hauptrollen.
6. 12. 2020