Wiener Festwochen: Traiskirchen. Das Musical

Juni 10, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Solidarität mit der Schildkröte

Der Mensch braucht mehr als nur das Notwendigste: Die „High Heels Phantasma“-Szene. Bild: Alexi Pelekanos/Volkstheater

Eine der schönsten Szenen nennt sich „High Heels Phantasma“. Da bittet eine deutlich Bessersituierte zur Manolo-Blahniks-Verteilung, weil der Mensch, vor allem die Frau, braucht mehr als nur das Notwendigste. Und während die linksgedrehten NGO-Damen mit den Hilfscontainer-T-Shirts protestieren: „Der Stöckelschuh ist die Burka des Westens!“, greifen die Flüchtlinge zu und tanzen in ihren Neueroberungen.

Und die Bessersituierte erzählt, im KZ hätte sie sich jeden Tag die Lippen rot gemalt. Mit Ziegelsteinen oder ihrem Blut. Als ein Zeichen, dass sie nicht das Tier ist, zu dem man sie machen wollte. Der Mensch braucht Kultur – und da gehört Schminke dazu. Dies Phantasma ist nicht so fantastisch. Etwas Ähnliches hat es sich im Sommer 2015 tatsächlich zugetragen. Recht erinnert, hat sogar das Fernsehen darüber berichtet. Nun ist die Bühnenfassung davon zu sehen: „Traiskirchen. Das Musical“. Im Volkstheater Wien. Die Theatermacher Tina Leisch und Bernhard Dechant, bekannt als „Die Schweigende Mehrheit“ und für ihre von Identitären gestürmte Aufführung von „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ im AudiMax, haben aus den Ereignissen von vor zwei Jahren eine abgedrehte Musikrevue gemacht, haben es tatsächlich geschafft, das Surreale dieser Tage ins Skurrile zu überhöhen – und aus einem tonnenschweren Thema einen (über weite Strecken) leichtfüßigen Abend zu gestalten.

Dazu bedienen sie sich aller Mittel der leichten Muse. Gesang, Tanz, Klamauk; Traumsequenzen sind Slapstick in Zeitlupe, die Dialoge sind irr/witzig, denn immer wieder bricht die Handlung, um doch festzuhalten, dass vieles, was da passiert ist, lächerlich, aber nicht zum Lachen ist. Die Musik stammt unter anderem von Texta, Eva „Gustav“ Jantschitsch, Bauchklang, Imre Lichtenberger Bozoki, dem musikalischen Leiter der Aufführung, Jelena Popržan, Sakina Teyna, Mona Matbou Riahi oder Leonardo Croatto. Der „Hauptdarsteller“, der rote Faden, ist das Lager Traiskirchen. Wie in den guten, alten 1980er-Jahre-Musicals, in denen ein Protagonist nach dem anderen vortritt, um seine Geschichte zu erzählen, so ungefähr funktioniert es auch hier.

Der Bösewicht ist Journalist: Dariush Onghaie spielt und singt den Troublemaker, die Krone der Schöpfung. Bild: Alexi Pelekanos/Volkstheater

Das Krähengericht (hi.) muss über einen Fall von Folter entscheiden: Shureen Shab-Par spielt die Kurdin, die glaubt ihren Peiniger erkannt zu haben. Bild: Verena Schäffer

Dazwischen gibt es verbindend Komisches, Running Gags wie etwa Moussa Thiaw als Moses, der statt seinen ORS-Pflichten nachzukommen, lieber mit seinem Schatzi telefoniert, drei Love Storys über alle Grenzen hinweg, und hinreißende, mitreißende Ensembleszenen. Dreiviertel der Darsteller sind diesmal Profis, 30 Menschen aus 19 Herkunftsländern, ausgebildete Sänger, Tänzer, Schauspieler … Sie alle kennen Traiskirchen von innen, manche waren schon vor Jahren als Kinder dort, andere erst kürzlich. Geschont wird in dieser Inszenierung niemand. Weder die Traditionalisten noch die Willkommensrassisten, weder die Islamisten noch die selbstverliebten Weltverbesserer.

„Traiskirchen. Das Musical“ zeigt einmal mehr, dass sich am meisten hasst, was sich am ähnlichsten ist. Im „Parolenbattle“ versucht jede Partei die Menschen auf ihre Seite zu ziehen, die hasten hin und her – und finden sich am Ende bei Geiz ist geil. Beim Integrationsshopping sozusagen. Die zum Spendenselbstopfer hochstilisierte Zivilgesellschaft muss sich genauso persiflieren lassen wie die überforderte Politik, ein Dschihadist (gespielt von Jihad Al-Khatib), der Medikamente, die er braucht, auf religiöse Reinheit prüft, wird ebenso durch den Kakao gezogen, wie der letzte Christ (Amin Khawary stellt ihn dar), der versucht mit Hardrock auf seine Kirche aufmerksam zu machen.

Der Schlepper vom Dienst (verkörpert von Khalid Mobaid) spricht nicht nur wie Jesus beim Letzten Abendmahl, er lässt sich anschließend auch kreuzigen. Gern ist er der alleinig Schuldige, solange seine Kasse stimmt. Uwe Dreysel rennt als ORS-Josef von hie nach da, um zu helfen, aber ach, seine Bemühungen wollen und wollen nicht fruchten. Am Höhepunkt des Trubels wieder Bruch, wieder (Alb)traumsequenz: Das Krähengericht tritt zusammen, weil eine Kurdin (gespielt von Shureen Shab-Par) glaubt, in einem anderen Lagerbewohner ihren einstigen Folterer erkannt zu haben. Doch der hat einen philippinischen Pass – ORS-Moses ist rat- und hilflos …

Stefan Bergmann singt und spielt einen Traiskirchner, der Welcome-Blumen pflanzt, aber alsbald auf Rache sinnt. Bild: Alexi Pelekanos/Volkstheater

Die ORS-Männer sind überfordert: Moussa Thiaw als Chef Moses (am Apparat natürlich Schatzi) und Farzad Ibrahimi als David, die Pfeife. Bild: Verena Schäffer

Während der Peiniger nicht identifiziert werden kann, ist es mit anderen Dramatis personæ ganz leicht. Hanna Binder ist großartig als Betreuungsstellendirektor Stabhüttel, dessen einzige Sorge und Solidarität der aus ihrem Lebensraum Teich verschwundenen Schildkröte (dargestellt von Kung-Fu-Meister Haidar Ali Mohammadi) gilt – „Die haben sicher die Ausländer gefressen!“ – nein, es wird sich herausstellen, sie ist nach Schweden weiter emigriert. Auf alle Sorgen weiß er nur einen Satz: „Des is mei Lager.“ Für Khalid Mobaid haben Lichtenberger Bozoki und Richard Schuberth den „Mikl-Leitner-Blues“ geschrieben, eine sehr sexy vorgestrippte Nummer, in der die Bühneninnenministerin beklagt, wie es ist, „to be the eternal booman, the most misunderstood woman – since Richard Nixon and President Truman.“ Eine Weltklassenummer, in der natürlich der Weltklassesatz fallen muss: „So viele Menschen – so wenig Klopapier.“

Dariush Onghaie darf der Bösewicht des Stücks sein, ein Journalist, genannt der Troublemaker, die Krone der Schöpfung. Seine Message ist klar: Egal, was er schreibt, „ihr glaubt mir eh alles“. Zwei gute/schlechte Typen sind auch Stefan Bergmann als Traiskirchner, der Welcome-Blumen für die Refugees pflanzt, aber sofort nach Rache ruft, als versehentlich eines der Pflänzchen zertreten wird. Bernhard Dechant gibt den am Bühnenrand herumlungernden und auf seine Chance wartenden Quotensandler, auf den sich die Österreicher immer dann besinnen, wenn ihnen der einheimische Obdachlose lieber ist, als der ausländische – in solch schwachen Momenten, und nur in solchen Momenten wird er dann gehegt und gepflegt.

Drum hasst sich am meisten, was sich am ähnlichsten ist: Die rechten Weltanschauungen des „Orient“ und des „Okzident“ prallen aufeinander. Bild: Verena Schäffer

Futurelove Sibanda schließlich ist Tanzfans ohnedies längst kein Unbekannter mehr. Der vielseitige Solo-Performer ist seit 2009 in zahlreichen Produktionen als Sänger, Tänzer, Schauspieler zu sehen gewesen – in „Traiskirchen. Das Musical“ spielt er einen Amnesty-International-Mitarbeiter, der aufgrund seiner Hautfarbe von der Hilfsarmada freilich für einen Flüchtling gehalten wird.

Die geballte Professionalität der Produktion zeigt einmal mehr, welch Potenzial da ist, wenn man über Grenzen hinausgeht. Sie ist ein Feel-Good-Feel-Free-Abend, und die Spielfreude der Akteurinnen und Akteure mehr als ansteckend. Dass Leisch/Dechant manchmal Richtung Erklärstück entgleiten, ist den beiden inne, und wahrscheinlich tatsächlich kann man’s manchen nicht oft genug sagen. Die Standing (hier eigentlich: Moving) Ovations am Ende aber galten den allesamt sehenswerten Performances. Und waren endlich eine Gelegenheit gemeinsam zu tanzen und zu feiern.

INFO: ORF2 bringt am 11. Juni um 13.30 Uhr in „Heimat, fremde Heimat“ einen Bericht von der Premiere. Nach den Wiener Festwochen gibt es Spieltermine in Niederösterreich.

Tina Leisch und Bernhard Dechant im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=24999

www.schweigendemehrheit.at

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Wien, 10. 6. 2017

Leonardo Padura: Neun Nächte mit Violeta

September 19, 2016 in Buch

RUDOLF MOTTINGER

Kubanische Sehnsüchte ohne Salsa-Seligkeit

bildBerühmt wurde Leonardo Padura mit der Krimireihe „Das Havanna Quartett“. Es folgten zahlreiche Meisterwerke wie „Der Mann, der Hunde liebte“ oder „Ketzer“. Nun liegt mit „Neun Nächte mit Violeta“ ein 256 Seiten starker Erzählband vor, der in kurzen und längeren Geschichten – zwischen 1985 und 2001 geschrieben, aber erst 2015 im Original erschienen – berührende, aber auch humorvolle Einblicke in die Sorgen, Probleme, Hoffnungen und Niederlagen der „kleinen“ Menschen auf der karibischen Insel gibt.

Einmal mehr erweist sich der in Kuba lebende Autor als großer Literat und auch als Meister der sogenannten „kleinen Form“. 13 Geschichten, von der kürzesten, nur achtseitigen „Der glückliche Tod der Alborada Almanza“, bis zur 36 Seiten langen Erzählung „Die Puerta de Alcala“, machen aus Alltagsszenen kurze, dichte Erzählungen, die die Tragik eines ganzen Menschenlebens erfassen. Dreh- und Angelpunkt der Geschichten ist Paduras Havanna, wo er auch 1955 geboren wurde.

Alles, was man aus seinen späteren Romanen kennt, findet sich auch in diesen Erzählungen: Der Bolero, die Hitze der Stadt, die Bars, wo am Weihnachtsabend der Rum ausgeht, die zu kleinen Wohnungen mit den Wasserflecken an der Decke und der ständigen Einsturzgefahr, die Baseballleidenschaft der Menschen, aber auch die Schattenseiten des Lebens: vergangene Liebe, Resignation, Hoffnungslosigkeit, unerfüllte Träume …

Padura berührt aber auch einen heiklen Punkt der kubanischen Geschichte: Zwei Erzählungen kreisen um das Engagement in Angola. Jenem südwestafrikanischen Staat, in dem nach der Unabhängigkeit von Portugal 1975 die Befreiungsbewegungen FNLA, MPLA und UNITA gegeneinander einen blutigen Bürgerkrieg führten und die linksgerichtete MPLA gegen die von Südafrika, Zaire und den USA unterstützte UNITA am Ende die Oberhand behielt, allerdings nur Dank der sowjetischen und kubanischen Hilfe – zivil wie militärisch. Zahlreiche Kubaner verrichteten dort „freiwillig“ ihren Dienst, um nach ihrer Rückkehr auf die Karibik-Insel in den Genuss von Privilegien zu gelangen – eine größere Wohnung, ein besser bezahlter Job etc. So auch Mauricio, der am Schluss seines Einsatzes einmal in Spanien im Prado eine Diego Velasquez-Ausstellung besichtigen will. Doch gerade an diesem Tag ist die Ausstellung geschlossen, dafür trifft er einen Freund aus alten Schultagen wieder. Dieser war einst nach der Machtübernahme der Castros, wie viele andere, von der Zuckerinsel geflüchtet. Alte Erinnerungen werden wach, aber auch zwei unterschiedliche Welten prallen aufeinander.

Bild: pixabay

Bild: pixabay

Bild: pixabay

Bild: pixabay

Mit wenigen Sätzen und präzisen Dialogen, die oft mehr verschweigen, als dass sie aussprechen, entwickelt der Autor eine Welt, der Gedanken und Gefühle. Wenn etwa der Erzähler in „Weiße Weihnacht“ am 24. Dezember allein in einer Bar seinen fünften doppelten Rum ohne Eis hinunterkippt, und er wie in einem Weihnachtsmärchen eine längst aus den Augen verlorene Frau, Zoilita, wieder trifft, mit der er in nur wenigen Stunden alle sexuellen Höhenflüge erlebt. Das große Glück bleibt ihm allerdings verwehrt, wie den meisten Protagonisten Paduras. Für Winner hat der kubanische Autor nichts übrig, wahrscheinlich würde das auch an der oft tristen Realität des Landes vorbeigehen. Zoilita geht mit ihrem Freund nach Miami, der Erzähler bleibt zurück, allerdings mit dem Vorsatz „die Meerenge von Florida zu durchschwimmen“ und sich sogar „gegen die Haie durchzubeißen“. Ein Vorsatz, der jedoch ein Traum bleiben wird. Leonardo Padura präsentiert ein Kuba-Bild, das wenig mit der üblichen Salsa-Romantik und Rum-Seligkeit zu tun hat.

Wie auch in der letzten Erzählung „Der Jäger“, in der der Protagonist seinem Liebhaber nachtrauert und spät abends auf die Suche/Jagd nach einer neuen Liebe geht. Wird er sie finden, oder doch nur einen „One Night Stand“ abbekommen? Am Ende wird er einen Entschluss gegen seine Einsamkeit fassen, doch ihn auszuführen, dazu ist noch an einem anderen Tag Zeit. Und bis dahin bleibt alles beim Alten. Und wieder einmal bestätigt sich der Satz: Wer Kuba und seine Menschen verstehen will, muss Padura lesen.

Über den Autor:
Eigentlich hatte der 1955 in Havanna geborene Leonardo Padura seine Karriere als Journalist begonnen: Nach dem Abschluss des Lateinamerikanistik-Studiums in Havanna schrieb er zunächst für die Zeitschrift „El Caimán Barbudo“. Drei Jahre später wurde er wegen „ideologischer Probleme“zur Zeitung „Juventud Rebelde“ strafversetzt. Bald gehörten seine Reportagen zu den meistgelesenen in Kuba, vielleicht auch deshalb, weil er sich nicht scheute, auch entlegene und unbequeme Themen aufzugreifen. Nach 1989 folgten sechs Jahre als Chefredakteur bei der Kulturzeitschrift „La Gaceta de Cuba“. Die Kriminalromane seines „Havanna-Quartetts“ sind für Leonardo Padura denn auch nur ein Vorwand, um von der kubanischen Gesellschaft zu erzählen, und das Gewissen seiner Generation einer Prüfung zu unterziehen.

Nebst dem „Havanna-Quartett“, das ihn international bekannt machte, veröffentlichte Padura mehrere Romane sowie Bücher mit gesammelten Erzählungen und Reportagen. Für seine Werke wurde er in Kuba und auch international vielfach ausgezeichnet, unter anderem mehrmals mit dem spanischen Premio Hammett sowie 2012 mit dem kubanischen Staatspreis Premio Nacional de Literatura de Cuba. Im Juni 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur. Leonardo Padura lebt in Kuba.

Unionsverlag, Leonardo Padura: „Neun Nächte mit Violeta“, Erzählungen, 256 Seiten. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein.

LESETIPPS: „Die Palme und der Stern“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=14342), „Ketzer“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=10225) und „Der Mann, der Hunde liebte“.

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Wien, 19. 9. 2016

Leonardo Padura: Die Palme und der Stern

August 13, 2015 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Freundschaft und Verrat

3293004857Leonardo Padura liebt sein Kuba und sein Havanna. Das merkt man in jeder Zeile seiner Romane. Padura ist aber kein angepasster, bequemer Autor. Er bringt in seinen Romanen auch Politisches ins Spiel, prangert die Zustände in seiner Heimat an – ob unter spanischem Kolonial-Joch oder nach der Machtergreifung Castros. Er eckt an, wenn er von Dingen schreibt, die eigentlich nicht thematisiert werden sollten. Doch der Autor geht seinen Weg unbeirrt weiter, und das macht den heute knapp 60-Jährigen, zusammen mit seiner brillanten Erzählkunst und poetischen Sprache, zu einem der ganz großen Autoren, nicht nur seines Landes und der spanisch sprechenden Welt.
Das beweist er auch in „Die Palme und der Stern“, das bereits 2002 in Spanisch, aber erst jetzt auf Deutsch im Unionsverlag erschienen ist.
Wie in „Ketzer“ (eine durch die Jahrhunderte führende Suche nach einem verschollenen Buch) spannt sich in „Die Palme und der Stern“ der historische Bogen über mehrere Jahrhunderte und Generationen. Diesmal von der Zeit, als das Land im 19. Jahrhundert noch Teil der spanischen Krone war, den ersten gescheiterten Versuchen eine Unabhängigkeitsbewegung auf die Beine zu stellen, dem Kuba der mächtigen Zuckerrohrbarone nach der Unabhängigkeit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Fidel Castros und Che Guevaras Revolution die Karibikinsel politisch veränderten und demokratische Rechte und Freiheiten genauso mit Füßen getreten wurden, wie unter den vorherigen, von den USA unterstützten, Regimen.
Nach 18 Jahren im Exil kehrt der Schriftsteller Fernando Terry nach Havanna zurück, um nach einem verschollenen, brisanten Manuskript – einer bislang unbekannten Autobiographie – des ersten romantischen Dichters und Nationalhelden Kubas, José Maria Heredia, zu suchen. Die Rückkehr führt ihn nicht nur zu den Geheimnissen der Freimaurer Kubas, denen Heredia angehörte, sondern auch in die eigene Vergangenheit: Wer von seinen Jugendfreunden, dem „Club der Spötter“, hat ihn damals bei Fidel Castros Staatssicherheit denunziert und damit seine Universitäts- und Intellektuellenkarriere beendet, die hoffnungsvoll begonnen hatte?
Geschickt verwebt Padura die drei Handlungsstränge miteinander. Immer wieder lässt er Heredia in seinen „Memoiren“ seine Geschichte erzählen. Dazwischen schickt er Fernando auf Spurensuche, versehen mit Rückblenden in sein Leben vor 18 Jahren. Die verschiedenen Zeitebenen haben natürlich auch ihre eigene Sprache. Der Realismus des 20. Jahrhundert steht in Kontrast zum pathetischen Stil des 19. Jahrhunderts, was besonders in der Liebesszene Heredias zu Lola deutlich wird: „Behutsam bereitete ich den Boden für größere Genüsse und schickte meine Zunge vor, die in die wunderbare Schatulle ihres Mundes eindrang, um ihre Zunge zu liebkosen, sie zum Leben zu erwecken und in ein Liebesspiel zu verwickeln …“
Der Autor vermittelt in seinem Roman ein atmosphärisches Bild von der Geschichte der Karibikinsel, von Sklaverei und Rebellion, vom beklemmenden Lebensgefühl im Exil und (falscher) Freundschaft und Verrat. Gleichzeitig deckt er erstaunliche Parallelen im Leben der beiden Schriftsteller auf. Denn obwohl sie 150 Jahre trennen, haben sie doch vieles gemeinsam. Beider Leben sind vom beunruhigenden Lauf und ewigen Wiederbeginn einer gewalttätigen und freiheitsbedrohenden Geschichte durchdrungen.
Beide Schriftsteller müssen ihre Eigenständigkeit und politischen Widerstand mit vielen Jahren des Exils bezahlen, beide werden von ihrem nächsten Umfeld verraten: Heredia als Mitglied der Unabhängigkeitsbewegung gegen Spanien, der er sich aus idealistischen Motiven anschließt. Seiner Festnahme kann er sich nur durch die Flucht in die USA und später nach Mexiko entziehen. Dort gerät er in die politischen Wirren eines kürzlich unabhängig gewordenen Landes. Mexiko wird auch zu seiner letzten Station, wo er, von einem kurzen Besuch in seiner alten Heimat abgesehen, 1839 verarmt und ausgezehrt von der Tuberkulose 35-jährig stirbt. Zu dichterischem Ruhm sollte er erst viele Jahrzehnte später kommen.
Fernando wird denunziert, weil er angeblich von der illegalen Landesflucht seines Freundes Enrique wusste. Auch ihm bleibt nur der Weg ins Exil. Ihre Sehnsucht nach Kuba und Havanna werden aber beide Schriftsteller niemals los. „Wer die Stadt kennt, wird bestätigen, dass sie ein ganz eigenes Licht besitzt, intensiv und mild zugleich, und eine heitere Tönung, was sie von tausend anderen Städten der Welt unterscheidet.“
Fernando ist seit den Geschehnissen von damals ein Zerfressener. Seine Suche nach dem mutmaßlichen Verräter bestimmt sein Leben. Misstrauisch beäugt er seine alten Freunde, viele nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Jeder könnte es gewesen sein. Erst das Begräbnis ihres alten Professors – und Freimaurers – Dr. Mendoza lässt die Überlebenden des „Club der Spötter“ kurz bevor Fernandos Aufenthaltsgenehmigung endet, wieder näher zusammenrücken: Den zum Alkoholiker gewordenen Alvaro, den Grübler El Negro, den Zyniker Tomas, den zum Schurken umgeformten Conrado und den angepassten Poeten Arcadio. Und die Suche nach dem Verräter findet ein Ende.
Der Dichter erkennt aber auch, „dass sie alle konstruierte Figuren gewesen sind, manipuliert von einem durch fremde Ziele beeinflussten Willen, eingeschlossen in den Grenzen einer präzisen Zeit und eines umgrenzten Raums … Sie waren nichts als Marionetten, gelenkt von höheren Absichten, mit einem Schicksal, das von den Launen der Herren des Olymps abhing …“ Und so kommt Fernando auch mit seinem Leben irgendwie ins Reine, auch wenn, wieder eine Parallele zu Dichter Heredia, seine große Liebe zu einer Frau am Ende unerfüllt bleibt. Und das Manuskript mit seinen brisanten Inhalten?

Über den Autor:
Leonardo Padura, geboren am 9. Oktober 1955 in Havanna, ist einer der meistgelesenen kubanischen Autoren. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen und Interviews. In denen scheut er sich nicht, auch unbequeme Themen aufzugreifen. Wegen „ideologischer Probleme“ wurde er zwischenzeitlich sogar zur Zeitung „Juventud Reblede“ strafversetzt. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus „Das Havanna-Quartett“ (eine TV-Serie mit Antonio Banderas als Ermittler Mario Conde ist in Vorbereitung). Zu seinen weiteren erfolgreichen Büchern gehören u.a. „Der Mann, der Hunde liebte“ und „Ketzer“ (beide im Unionsverlag erschienen). Mehrmals wurde der Autor mit dem spanischen „Premio Hammett“, 2012 mit dem kubanischen Nationalpreis für Literatur ausgezeichnet. Im Juni 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Kategorie Geisteswissenschaften und Literatur. Leonardo Padura lebt auf Kuba.

Unionsverlag, Leonardo Padura: „Die Palme und der Stern“, Roman, 458 Seiten. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein

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Wien, 13. 8. 2015

Leonardo Padura: Ketzer

August 11, 2014 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Die Freiheit zu wählen

00_Padura_Ketzer.inddLeonardo Padura ist ein Unbequemer, Nicht-Angepasster. Und darum beschäftigt sich der kubanische Autor auch mit Themen, die von einigen nicht goutiert werden. Denn die heile Welt gibt es für Padura nicht. Die Außenseiter bzw. die als solche gebrandmarkt werden, sind es, die ihn interessieren. Schon in seinem letzten Roman „Der Mann, der Hunde liebte“, in dem er das Leben Leo Trotzkis und seines Mörders Ramón Mercader nachzeichnet, hat der Kubaner reale historische Vorgänge zum Anlass genommen, um über große Fragen zu reflektieren: In jenem Falle über den Stalinismus und damit auch über das Scheitern des Sozialismus. Nun ist dem 1955 in Havanna Geborenen wieder ein Meisterwerk gelungen.

Mit „Ketzer“ hat er einen Roman mit drei Handlungssträngen geschrieben, der sowohl in der alten als auch in der neuen Welt spielt, und um ein zentrales Thema kreist: Der Suche nach Freiheit, der persönlichen Freiheit entscheiden zu können wie man lebt, wo man lebt und was man macht. Das verbindet ein junges Emo-Mädchen 2008 in Havanna mit der jüdischen Diaspora des 17. Jahrhunderts bis in die 30er- und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Dem Autor gelingt es sprachlich vielschichtig, auf spannende Weise vom Schicksal Unangepasster, Ausgestoßener zu erzählen, die sich von Autoritäten nicht zerstören lassen, aber dafür einen hohen Preis zu zahlen haben. Das Buch ist aber auch ein Krimi, der Historie und Gegenwart, Fakten und Fiktion, Kunst und Religion sowie Unterdrückung und Widerstand in sich vereint.

Ausgangspunkt ist eine wahre historische Begebenheit: 1939 wurde 937 jüdischen Flüchtlingen an Bord des Linienschiffes MS St. Louis die Einreise nach Kuba verweigert. Es waren überwiegend deutsche Juden, die in Berlin kubanische Visa erworben hatten. Doch im Hafen von Havanna angekommen, verlangte die Regierung Kubas auf einmal viel Geld für ihre Einreise. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge, und am Ende musste das Schiff nach Europa zurückkehren, denn die Flüchtlinge wurden auch von den USA und Kanada nicht aufgenommen. Die meisten kamen schließlich während des Holocaust ums Leben.

Und so beginnt auch der erste Teil des Romans, „Das Buch Daniel“. Der achtjährige Daniel Kaminsky wartet an Land und sieht Vater, Mutter und Schwester winken. Mit einem Bild von Rembrandt, seit Generationen im Besitz der Familie, hoffen sie, sich freizukaufen. Doch statt dessen müssen sie nach Europa zurück, in den sicheren Tod. Daniel Kaminsky trifft daraufhin „in seinem Schmerz die gewichtige Entscheidung, sich aus freiem Willen und aus tiefstem Herzen von seinem Judentum loszusagen.“
Auch das Gemälde verschwindet. Start für eine geschickt konstruierte Kriminalgeschichte, die bis ins 21. Jahrhundert reicht. Denn 2007 taucht bei einer Auktion in London ein bislang unbekanntes „Christus-Porträt“ von Rembrandt auf. Herkunft und Eigentümer bleiben vorerst unbekannt. Ex-Polizeikommissar Mario Conde, Protagonist aus Paduras Krimi-Reihe „Havanna-Quartett“, mit der er international bekannt geworden ist, macht sich daraufhin in Daniels Auftrag in Havanna auf die Suche nach den Geheimnissen des Bildes und der Familie Kaminsky. Der Fall führt durch die Jahrhunderte.

Andere Zeit, anderer Ort. Zweites Buch: „Das Buch Elias“. Amsterdam, 1648. Elias Ambrosius Montalbo de Ávila, ein Junge aus einer alten sephardischen Familie, wird von Meister Rembrandt als Schüler aufgenommen. Seine Leidenschaft zu malen hält er geheim, denn dafür würde er von der jüdischen Gemeinde als Ketzer gebrandmarkt werden. Doch wie ihm schon sein aufgeschlossener Lehrer ben Israel gelehrt hat: „Die Freiheit der Wahl musste das oberste Recht des Menschen sein, da es ihm vom Schöpfer von Anbeginn der Welt verliehen wurde, zu seiner Rettung oder zu seinem Verderben, aber immer zu seinem Gebrauch.“ Elias handelt nach dieser Maxime und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Als Rembrandt ihn eines Tages ruft, um ihn zu porträtieren, weiß der Junge noch nicht, dass er für den Christus in „Die Pilger von Emmaus“ Modell stehen soll. Der mächtige Rabinerrat verstößt Elias aus der Stadt, denn mit seiner Malerleidenschaft hat er gegen die religiösen Gesetze verstoßen. Vor seiner Flucht klopft es nachts an seiner Tür: Rembrandt gibt ihm sein Porträt mit auf den Weg ins Exil. Nach vielen Stationen, dazwischen liegen unzählige Pogrome am jüdischen Volk, landet das Bild schließlich bei den Kaminskys – bis zu jenen verhängnisvollen Tagen im Jahr 1939.

Im dritten Teil, dem „Buch Judith“ tritt der in die Jahre gekommene und sich mehr recht als schlecht über Wasser haltende Conde wieder in den Mittelpunkt. Auf seinen Recherchen nach dem Verbleib des Gemäldes kommt er mit der Welt der jugendlichen Subkulturen Havannas in Kontakt, eine ihm fremde, unverständliche Welt der Rockeros, Rastas und Emos mit ihrer eigenen Sprache, Ritualen – die bis zur Selbstverletzung reichen –, und Gesetzen, die der Ex-Polizist nicht versteht. Er, ein eher melancholischer, nostalgischer Mensch, fühlt sich mit seinen alten Freunden, die sich gerne zu Trinkgelagen zusammenfinden, zunehmend wie ein Fremder in seiner Heimat. Leonardo Padura spart dabei auch nicht mit Kritik an dem kubanischen Regime. Die, die im Namen der Freiheit gegen Diktator Batista angetreten sind und ihn 1959 gestürzt haben, haben die Freiheit monopolisiert. Alle Menschen sind gleich, aber manche eben gleicher …
Eine der jungen Emos ist Judith, die sich die Freiheit genommen hat, so zu leben wie sie möchte. Das Rätsel ihres Verschwindens löst Conde ebenso wie das Geheimnis, um den Verbleib des Rembrandt-Gemäldes. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass das Einzige, was dir bleibt, das Einzige, was dir wirklich gehört, die Freiheit der Wahl ist: „Zu etwas zu gehören oder zu nichts zu gehören. Zu glauben oder nicht zu glauben. Sogar: zu leben oder zu sterben.“

Über den Autor:
Eigentlich hatte der 1955 in Havanna geborene Autor Leonardo Padura seine Karriere als Journalist begonnen: Nach dem Abschluss des Lateinamerikanistik-Studiums in Havanna schrieb er zunächst für die Zeitschrift El Caimán Barbudo. Drei Jahre später wurde er wegen „ideologischer Probleme“ zur Zeitung Juventud Rebelde strafversetzt. Bald gehörten seine Reportagen zu den meistgelesenen in Kuba, vielleicht auch deshalb, weil er sich nicht scheute, auch unbequeme Themen aufzugreifen. Nach 1989 folgten sechs Jahre als Chefredakteur bei der Kulturzeitschrift La Gaceta de Cuba.
Die Kriminalromane seines „Havanna-Quartetts“ sind für Leonardo Padura auch ein Vorwand, um von der kubanischen Gesellschaft zu erzählen, und das Gewissen seiner Generation einer Prüfung zu unterziehen. Vor dem Havanna-Quartett, das ihn international bekannt machte, veröffentlichte Padura einen Roman sowie mehrere Bücher mit Erzählungen und Reportagen, für die er in Kuba und auch international verschiedene Preise erhielt, darunter mehrmals den spanischen Premio Hammett sowie 2012 den kubanischen Staatspreis Premio Nacional de Literatura de Cuba. Leonardo Padura lebt in Kuba.
Zuletzt im Unionsverlag erschienen: „Der Mann, der Hunde liebte“.

Unionsverlag, Leonardo Padura: „Ketzer“,656 Seiten. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein.

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Wien, 11. 8. 2014

Justin Timberlake und Ben Affleck in …

Oktober 15, 2013 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

… Runner Runner

Richie Furst (Justin Timberlake) und Ivan Block (Ben Affleck) Bild: © 2013 Twentieth Century Fox

Richie Furst (Justin Timberlake) und Ivan Block (Ben Affleck)
Bild: © 2013 Twentieth Century Fox

Ab 18. Oktober im Kino: Vermutlich können nur die hartgesottensten Zocker etwas mit dem Ausdruck „Runner Runner“ anfangen. Für alle, die sich damit nicht auskennen, deswegen hier eine kurze Erklärung. In der Poker-Variante Texas Hold’em bekommt jeder Spieler zwei so genannte Hole Cards, die jeder zunächst für sich behält. Dann bekommt jeder den Flop, drei offen gegebene Community Cards. Die vierte Karte nennt man den Turn, die fünfte den River. Manchmal erhält der Spieler die beiden Karten, die er braucht, erst mit diesen beiden letzten Karten. Dieses Blatt ist dann der seltene Glücksfall, den man „Runner Runner“ nennt. In RUNNER RUNNER braucht Richie, wenn er nicht im Knast enden will, einen genialen Plan – und eben ein paar solcher seltenen Glücksfälle!

Weil er der Meinung ist, übers Ohr gehauen worden zu sein, reist der Princeton-Doktorand Richie (Justin Timberlake) nach Costa Rica, um dort Ivan Block (Ben Affleck), einen Tycoon des Online-Glücksspiels, mit dem Vorfall zu konfrontieren. Als er Block trifft, lässt er sich von dessen Angebot, auf schnelle Art zu riesigem Reichtum zukommen, verführen, doch dann erfährt er die verstörende Wahrheit über seinen neuen Gönner. Als das FBI schließlich versucht, mit Richies Hilfe Block das Handwerk zu legen, muss er wie nie zuvor auf Risiko setzen – und beide Seiten, die ihm immer dichter auf den Fersen sind, austricksen. Richie jagt einer neuen Form des amerikanischen Traums hinterher, der nur noch aus schnellem, sofortigem und grenzenlosem Reichtum besteht. Einst befand er sich an der Wall Street auf der Überholspur und verlor alles, als der Markt zusammenbrach. Nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich für einen Neunanfang durch das Doktorandenprogramm der Universität zu quälen. Doch als er beim Online-Glücksspiel einem Betrug aufsitzt und um sein gesamtes Studiengeld gebracht wird, fliegt Richie nach Costa Rica und will dort jene Zocker-Legende zur Rede stellen, die die Webseite betreibt: Ivan Block. Block ist beeindruckt von Richies Intelligenz und nimmt den jungen Mann mit dem Versprechen unter seine Fittiche, ihn mit seiner Welt vertraut zu machen. Es dauert nicht lange, bis Richie sich in Blocks Mitarbeiterin, die elegante COO Rebecca Shafran (Gemma Arterton), verliebt und ein Leben genießt, das all seine Wünsche wahr werden lässt. Dann allerdings erfährt er, dass Block wegen organisierter Kriminalität, Erpressung und Bestechung gesucht wird und FBI Special Agent Shavers (Anthony Mackie) davon besessen ist, Block und Mitstreiter vor Gericht zu bringen. Block beschließt daraufhin, seine Zelte abzubrechen und Richie als Sündenbock zurückzulassen. Weil auch Shavers ihm immer weiter zusetzt, muss Richie schnell einen Weg finden, beiden Seiten einen Schritt voraus zu bleiben, falls er seine Zukunft nicht hinter Gitter verbringen will.

Den verschwenderischen Lebensstil von Glücksspiel-König Ivan Block bezeichnet RUNNER RUNNER-Regisseur Brad Furman als „den neuen amerikanischen Traum“. Er führt weiter aus: „Dank all der neuen Technologien geht in unserer Welt heute immer alles ganz schnell, was auch das Konzept des American Dream beschleunigt hat. Junge Menschen wollen heute alles viel schneller haben als früher. Ganz besonders Geld!“ Justin Timberlake stimmt Furmans Einschätzung des amerikanischen Traums zu: „Beim American Dream ging es früher darum, reich und berühmt zu sein. Heute geht es darum, reich und berühmt zu werden – und zwar so schnell wie möglich. Je mehr Zugriff wir auf Dinge haben, desto schneller wollen wir sie haben. Man muss nur auf einen einzigen Button drücken und schon kann man sich so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann, schicken lassen.“ „Heute wollen die Leute nicht mehr nur einfach einen Cadillac besitzen. Sie wollen ihr eigenes Auto erfinden“, fährt Timberlake fort. „Eine ganze Generation junger Menschen will ihre eigene Galaxie der unternehmerischen Aktivitäten starten. Die Leute versuchen in einem fort, das Rad neu zu erfinden. Und alles geschieht geradezu in Warp-Geschwindigkeit. Das ist wirklich mörderisch. Nur um Integrität, Stolz, Ehre oder irgendwelche moralischen Werte geht es eigentlich kaum noch.“ Der von Timberlake gespielte Richie Furst gehört zu denen, die sich in dieser unwiderstehlichen, aber gefährlichen Mentalität zu verfangen drohen. Sein Mentor und „Gönner“ ist dabei Ivan Block, jener Mann, der unerkannt hinter einem milliardenschweren Imperium für Online-Glücksspiel steckt. Die Rolle übernahm Ben Affleck, der darin die Chance erkannte, als Schauspieler mal einen ganz anderen Gang einzulegen: „Ich habe etliche Rollen gespielt, in denen ich zurückhaltend, ruhig und introvertiert sein musste. Aber Ivan lässt in einer Tour Gas um mal im Bild zu bleiben. Er hat ständig irgendeinen sexy Monolog über das Leben parat und überschüttet Richie geradezu mit Spitzfindigkeiten. Ich wusste sofort, dass es Spaß bringen würde, mich auf Ivan und seine Welt einzulassen.“

Genau wie Timberlake reizte auch Affleck, wie RUNNER RUNNER hinter die Maschinerie des neuen amerikanischen Traums blickt: „Unter der Verlockung des schnellen und einfachen Geldes steckt etwas grundsätzlich Unaufrichtiges, Korruptes, Zerrüttetes und Falsches. Es dreht sich nur noch darum, schnell reich zu werden. Mit welchen Mitteln auch immer. Das neue Unternehmensethos ist es, der Konkurrenz die Kehle durchzuschneiden – und das wird in vielen Kreisen auch noch als gesund und lobenswert geschätzt.“ Regisseur Brad Furman hatte gerade die erfolgreiche Romanverfilmung THE LINCOLN LAWYER („Der Mandant“, 2011) hinter sich, als er auf RUNNER RUNNER stieß. „Meine Vision für RUNNER RUNNER war es, Richie auf eine Reise zu schicken, die ihn immer weiter auf unsicheres Terrain führt“, erklärt er sein Konzept. „Deswegen beginnt der Film in New Jersey, doch bald landet Richie in Costa Rica, wo sich ihm eine fantastische, aber korrupte Welt auftut.“ „Richie ist ein guter Kerl am falschen Ort, der das Richtige zu tun versucht“, sagt Timberlake über seine Figur. „Er bemüht sich aber, seinen moralischen Werten treu zu bleiben. Letztlich ist er ein Träumer und Idealist, der einfach einen Fehler begangen hat und nun zusehen muss, wie er aus dieser Situation wieder herauskommt.“ Ivan Blocks Weg in diese „Unterwelt“ hat unvorstellbare Reichtümer hervorgebracht, die für Richie Verlockung genug sind, sich auf etwas einzulassen, das sich letztlich als Prozess des Erwachsenwerdens erweisen wird. „Ivan ist der unverfrorene Mentor, der dazu aufruft, sich zu nehmen, was man kriegen kann, ohne weiter drüber nachzudenken“, beschreibt Affleck seine Rolle. „Er will Richie manipulieren und zu einem Teil seines Teams machen. Es ist seine Mission, ihn so zu formen, dass Richie nicht aufbegehrt gegen all die fragwürdigeren Dinge, die er mitbekommt.“

Wenn es darum geht, Richie von seinen weniger luxuriösen Seiten abzulenken, ist seine Menschenkenntnis die eigentliche Stärke des Tycoons, wie Affleck ergänzt: „Block weiß genau, wie er andere manipulieren kann, und vor allem ist er unglaublich gut darin, sie von seinen wahren Motiven abzulenken. In Blocks Augen sind alle Menschen nicht nur unsicher, sondern unglaublich verzweifelt auf der Suche nach Erfolg. Er weiß, dass die meisten sich immer so fühlen, als seien sie zu kurz gekommen. Und dass wir alle gelernt haben, dem Geld hinterher zu jagen und Reichtum mit Ansehen, Ehre, Erfolg und Männlichkeit gleichzusetzen. Also lenkt er alle Aufmerksamkeit auf seinen Reichtum, der Richie dann so sehr blendet, dass er kaum mitbekommt, was wirklich vor sich geht.“ Doch der Reiz von Blocks Welt geht noch über das Geld hinaus, wie Furman findet. Es geht dabei um etwas sehr viel Interessantes – und Gefährlicheres. „Die eigentliche Rechnung ist folgende: Geld mal Macht gleich Sex! Wenn man Männer fragt, warum sie nach Geld und Macht streben, ist die Antwort meistens die gleiche. Nämlich Frauen. Darum geht es unterm Strich.“

Das in RUNNER RUNNER gezeigte Costa Rica existiert in einem Spannungsfeld zwischen Armut und Opulenz, zwischen Recht und Korruption. Man kann sich dort jeder Laune hingeben und jeden Wunsch erfüllen – bis man unersättlich wird. Von schicken Casinos über Swimmingpools, an denen sich Bikini-Schönheiten liegen, bis hin zu von Krokodilen bevölkerten Urwäldern zeigt RUNNER RUNNER eine verlockende, gefährliche Welt, in der alle sieben Todsünden zu finden sind. Die Geschichte des Films handelt letztlich von Reichtum, dem Wunsch, ihn anzuhäufen, und dem Bedürfnis, ihn zu behalten. Diese Mentalität spiegelt sich auch im Look der Figuren wieder: schick und ordentlich, aber durchsetzt von der entspannten Atmosphäre Costa Ricas. Entsprechend dominieren elegant geschnittene Anzüge, Leinen und körperbetontes Styling. Für den Film hielt Puerto Rico als Costa Rica her. Den gesamten Sommer 2012 fanden dort die Dreharbeiten zu RUNNER RUNNER statt. Ein Großteil des Films wurde in La Perla gedreht, einem Gebiet von etwas mehr als einem Kilometer Länge, das zwischen der nördlichen historischen Stadtmauer von San Juan und dem Atlantik liegt. Das Produktionsdesign-Team stand dabei vor der Aufgabe, ein glaubwürdig verschwenderisches Ambiente in einem Land entstehen zu lassen, in dem Arm und Reich weit auseinander liegen. Die luxuriöseste Kulisse ist dabei natürlich Ivan Blocks palastartiges Anwesen, dessen Haupthaus Affleck wie folgt beschreibt: „Das ist ein großes weißes Monster mit einer Scarface-artigen Atmosphäre. Das passt bestens zu meiner Figur. Denn was passiert, wenn so ein Typ all dieses Geld verdient? Wenn man jemanden mit dem Denken eines 18-jährigen 20 Millionen Dollar in bar in die Hand drückt, steht man am Ende mit einem riesigen Party-Haus voller Mädchen in engen Klamotten, viel Alkohol und jeder Menge Glücksspiel da, in dem jeden Abend Party angesagt ist. Genau das ist es, was wir sehen, wenn wir Blocks Welt betreten.“

Produziert wurde der Film übrigens u. a. von Leonardo DiCaprio.

www.runnerrunnermovie.com

Trailer: www.runnerrunner-derfilm.at

Wien, 15. 10. 2013