Spencer: Kristen Stewart brilliert als Lady Diana
Januar 13, 2022 in Film
VON MICHAELA MOTTINGER
Befreiungsschlag am Weihnachtstag

Kristen Stewart als Lady Diana. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm
Die Kamera von Claire Mathon starrt auf grau-vereiste Wiesen. Aus der Stille schwillt der Sound an. Militärjeeps brettern auf ein Herrenhaus zu, in den Militärkisten statt Waffen Lebensmittel. Cut. Nun kurvt ein Porsche deutlich verwirrt durch ebendiese Landschaft. Bei einem Imbiss wird angehalten. Bewehrt mit ihrem Chanel-Täschchen tritt sie ein. Die scheuen Blicke zur Seite, das verlegene Lächeln, die schüchterne, nichtsdestotrotz
standesbewusste Art sich zu präsentieren – doch, das ist sie, Lady Diana – oder besser gesagt Kristen Stewart, die für den Film „Spencer“, der am 13. Jänner in die Kinos kommt, in diese Rolle schlüpfte. Rolle, man wird es sehen, in vielerlei Hinsicht, und Stewart, gewesener Twilight-Star und zuletzt grandios als Jean Seberg, brilliert auch als Königin der Herzen. Man kann die Wandlungsfähigkeit der US-Schauspielerin nur bewundern. Das Jahr ist 1991, also weiter weg von der Traumhochzeit als zum Schockmoment, an dem Di in einem Tunnel unter Paris aus einem gecrashten Mercedes geborgen wurde. Und die Anmerkung mit den Militärjeeps ergibt sich, weil der chilenische Regisseur Pablo Larraín seinen Film wie einen D-Day inszeniert hat.
Ein letztes Gefecht auf der Queen Gut Sandringham, wohin Ma’am die gesamte königliche Familie zum Weihnachtsfest befohlen hat, auch die eigentlich von Charles bereits getrenntlebende Diana. Und vorsorglich den Kriegsveteranen Major Alistair Gregory, Timothy Spall mit dem Flair gestrenger Fürsorge, der ein Argusauge sowohl auf Paparazzi als auch auf die für gewöhnlich entgleisende Prinzessin haben soll. Er wird sie dennoch nicht verhindern können, die Panik- und bulimischen Kotzattacken, die Tagalbträume, die Fluchtversuche, die Geistererscheinungen der Seelenverwandten Anne Boleyn.
„Ich weiß absolut nicht, wo ich bin“, haucht Stewart im Imbiss einen Satz mit Symbolcharakter. Ihre Verlorenheit ist Teil einer Selbstinszenierung, pathetisch und subversiv – eine aufgeschobene, verdrängte Rückkehr in die Gefilde ihres Vaters. Nach elf Gängen und sieben Outfit-Wechseln weiß sie immerhin, wohin sie will. Weg. Larraín hat intensiv recherchiert, das muss man sich angesichts der skurrilen Traditionen rund um Elizabeth II. immer wieder klar machen. Im bitterkalten Schloss, denn die Royals setzen auf Decken statt Heizung, steht eine Sitzwaage, auf der sich alle wiegen lassen müssen, da nur, wer über die Feiertage drei Pfund zugenommen hat, beweist, dass ihm das Fest gefallen hat.
Prinz Albert führte dies einst als Scherz ein, die Queen machte daraus blutigen Ernst – und eine unlösbare Aufgabe für Diana. Larraín zeigt eine vor Nervosität und Unwohlsein vibrierende Prinzessin, Stewart spielt die Diana verzweifelt zynisch und mit Mühe ihren Zorn unterdrückend, jeder Augenaufschlag, jeder Seufzer ist eine Anklage gegen die liebe Familie. „Verärgerst du sie gern?“, fragt Jack Nielen als Prinz William an einer Stelle. „Ja, schrecklich gern“, antwortet sie. Es ist dies einer der Momente des Films, die darauf hindeuten, wie Diana den damals 9-jährigen William mit ihren psychischen Problemen überfrachtet, daneben Harry, der mehr mitkriegt, als die beiden denken.
Drei Tage gilt es in royaler Geiselhaft zu überstehen. In einer großartigen Szene, dem Wenn-Blicke-töten-könnten-Weihnachtsdinner, wird die festliche Tafel zum Gefechtsstand. Kein Wort fällt. Diana wird von der Vision mitgerissen, sie reiße sich die Perlenkette vom Hals, hat doch Charles Camilla exakt die gleiche geschenkt, und fresse die Perlen mit der Suppe in sich hinein. Derlei Surreales durchbricht die Handlung immer wieder. Diana tanzt durch Paläste, Diana in der Ruine ihres Elternhauses als glückliches Kind. Die alte Jacke ihres Vaters hat die Queen einer Vogelscheuche zugedacht. Diana nimmt sie ab und mit.

Diana im Kinderzimmer von „William“ Jack Nielen und „Harry“ Freddie Spry. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Letzter Versuch einer Aussprache mit „Charles“ Jack Farthing. Bild: © Frederic Batier, Polyfilm

Sean Harris will Diana als Küchenchef Darren mit Leckerbissen zum Essen verführen. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Timothy Spall ist grandios als väterlich-strenger Major Alistar Gregory. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Mit ihrer Kammerzofe und Vertrauten „Maggie“ Sally Hawkins. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Die liebe Familie: vorne Elizabeth Berrington als Prinzessin Anne, Stella Gonet als Queen und die österreichische Schauspielerin Lore Stefanek als Queen Mum. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm
Lieblosigkeiten im goldenen Käfig. Royales Mobbing. Und totale Überwachung. Die sieben Garderoben sind fein säuberlich nach ihrem Verwendungszweck beschriftet, als Diana für den Kirchgang eine nicht dafür vorgesehene wählt, steht der ganze Haushalt Kopf. Die Nachricht vom textilen Ungehorsam wird sogar an Charles herangetragen. Jeder Fauxpas wird protokolliert. Dann, vor der Kirche, jene Lady Di die die Medien manipuliert, für ihre Zwecke nutzt (das diesbezüglich legendäre BBC-Interview soll ja durch Lug und Trug zustande gekommen sein) und gleichzeitig das ihr verpasste Image verabscheut. Für die Royals ist der Presse Bevorzugung Dianas ein frivoles Vergehen.
Die Kamera jedenfalls kann sich an Kristen Stewarts Gesicht nicht sattsehen, und diese verkörpert Dianas physische wie psychische Fragilität perfekt, mit gehetztem Blick, immerzu rennend, durch Korridore und Nebelwände mit verkrampft hochgezogenen Schultern, in der Speisekammer gierig Süßspeisen in sich hineinstopfend, dann das Hochwürgen. Bemerkenswert ist, dass Larraín die Royals, angetreten von Prinz Philip bis Sarah Ferguson, zu Statisten, zu stummen Dienern seiner Sache macht. Schweigen ist bekanntermaßen die erste Tugend der königlichen Familie.
Lediglich Stella Gonet als Queen sind ein paar Worte gegönnt und selbstverständlich hat Jack Farthing als Charles seine Szenen. Farthing spielt den Thronfolger mit indignierter Distanz. Verständnis findet Diana bei ihren besorgten Vertrauten. Larraín nimmt sich ausführlich Zeit für Dianas Gespräche mit dem Personal: Sean Harris als Küchenchef Darren, der besondere Leckerbissen für seine Prinzessin zubereitet, die er zum Essen verführen will. Sally Hawkins ganz wunderbar als Kammerzofe Maggie, die außer fürs Ankleiden für seelischen Rückhalt und ermutigenden Zuspruch zuständig ist. Einer der schönsten Momente des Films ist, wenn die beiden wie Freundinnen über den Strand spazieren. Schließlich Timothy Spall anrührend, väterlich und liebevoll-streng als Major Alistair Gregory, der Aufpasser, dem sein Observationsobjekt mehr und mehr ans Herz wächst. „I watch so that others do not see“, sagt er.
„Spencer“ ist eine Studie königlicher Klaustrophobie, das Psychogramm einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Kristen Stewart hat sich Dianas kokett-ikonische Posen zu eigen gemacht. Ihre geheimnisvolle Aura und ihre magnetische Ausstrahlung führen die Schauspielerin in darstellerisch neue, lichte Höhen. Kurz gefasst: Die Oscarnominierung winkt! Der große britische Film-Szenenbildner Guy Hendrix Dyas, die renommierte Kostümbildner Jacqueline Durran und die fabelhafte Arbeit der Maskenbilderin Wakana Yoshihara tun ein Übriges, damit die Atmosphäre stimmt. „Spencer“ erreicht die emotionale Extravaganz eines erstklassigen Melodramas und ist zugleich eine historische Fantasie, eine politische Fabel und eine schwarze Sittenkomödie.
Am Ende – Achtung: Spoiler! – vergattert Charles sehr zum Unmut Dianas Sohn William zur Fasanenjagd. Sie wird wie aus dem Nichts auftauchen, die Vögel verscheuchen, damit vor dem Abschuss retten und ihre beiden Söhne in den Porsche verfrachten. Nächster Stopp: ein Fast-Food-Lokal. Sie bestellt beim Drive-In und als sie nach dem Namen gefragt wird, verwendet sie ihren Mädchennamen: „Spencer!“
13. 1. 2022