Maxim Biller: Sechs Koffer
Oktober 12, 2018 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Die Verwandtschaft macht sich mehr als verdächtig
Die Worte „fauliger Geruch“ sind zu übersetzen. Vom Tschechischen ins Russische. Blatt für Blatt spannt der Vater in die Schreibmaschine, tippt, verwirft, wirft weg. Der „faulige Geruch“ steigt aus einem Massengrab im Ersten Weltkrieg, steht in Jaroslav Hašeks „Schwejk“, der Vater sitzt 1965 in Prag. So beginnt Maxim Billers jüngster Roman „Sechs Koffer“. Einmal mehr schreibt der Autor seine Familiengeschichte, das heißt: mehr oder weniger, denn unklar bleibt meist, was Fakt und was Fiktion ist. Wer das ergründen will, muss schon querlesen.
Der gesamte Biller-Clan reflektiert sich literarisch selbst, Mutter Rada 2003 in „Melonenschale“, Schwester Jelena 2016 mit „In welcher Sprache träume ich?“, die Bücher zusammengesetzt sind eine große Saga über dessen selbst gewählte Diaspora, die auf die Flucht aus diversen Regimen folgt und in einige Demokratien führt. Von Moskau über Prag nach Hamburg, Rio de Janeiro, Montreal, Zürich … Auf diesen Wegen kann einem Sprache schon abhandenkommen. Genau darum geht’s Biller, um das Nichtgesagte, das Nichtübersetzte, um Geheimnisse und Lügen, um ausweichende Antworten, aber bedeutungsschwangere Blicke.
Sein Erzähler/Ich berichtet retrospektiv, allerdings wie aus der Perspektive und mit dem Wissensstand von sechs anderen Mitgliedern dieser jüdischen Intellektuellen-Mischpoche. Der Protagonist macht sich so selbst zur Nebenfigur, ein Anti-Held-Teenager ist er, der aber alles über die geheimsten Gedanken seiner Sippe weiß, und das ist schriftstellerisch so ungeheuerlich, wie der Verrat, der passiert ist, und den das Ich aufklären will. Der Tate, Großvater Schmil, wurde in der Sowjetunion hingerichtet, denunziert als der Schmuggler und Schwarzhändler, der er war. Und die gesamte geldgierige – ein gewagtes Motiv angesichts seines ewiggestrigen Klischees – Verwandtschaft macht sich diesbezüglich mehr als verdächtig.
Jeder hat jeden im Visier, die Söhne, Dima, gerade erst aus einem tschechoslowakischen Gefängnis entlassen, Übersetzer Sjoma, Lev in der Schweiz, Wladimir in Brasilien, Dimas mondäne Frau Natalia, die eigentlich Sjoma liebt, und dessen auf diese eifersüchtige Frau Rada. Der „faulige Geruch“ ist ergo Familienprogramm, Gerüchte entfalten ihre böse Kraft. „Alle für einen, aber nur einer für sich selbst“, steht geheimnisvoll auf dem einzigen Foto, das alle vier Brüder zusammen zeigt, und das der Erzähler, man ahnt es, er wird später in Berlin zum Schriftsteller werden, alsbald in Händen hält.
Derart entspinnt sich eine Art Krimi. Durch vom Erzähler beim Herumschnüffeln in Schreibtischen gefundene Dokumente und Briefe erfährt man, dass Dima vom KGB zum Spitzel umgedreht und von ihm gegen Lev die „Aktion Bruder“ eingeleitet wurde. Lev, der mit niemandem aus der Familie mehr redet, soll seinerseits vom Tate für Dima und Sjoma gedachte Westwährung für sich behalten haben. Natalia wiederum erpresst Dima mit dessen von ihr gekaufter Geheimdienstakte. Oder ist das alles gar nicht wahr? Jeder spielt hier sein Spiel, und niemandem kann man trauen.
Schon gar nicht Maxim Biller. Je länger man liest, umso diffuser wird, wer oder was hier ausgedacht ist. In einer Erinnerung ist einer Verschwörer, in einer anderen Verschwörungsopfer. In einer ein Frühlingstag zu warm, in einer anderen „für Ende Mai viel zu kalt“, in einer ein Eiskasten rot, in einer anderen blau. Ein eben noch abstoßend harter Charakter wird plötzlich anziehend und empfindsam. Im Kopf des Erzählers laufen die Widersprüche, die vielen Miniaturen, die Biller entwirft, wie von Zauberhand und wunderschön surreal zusammen.
Die Schuldfrage löst sich am Ende nicht. Biller entlässt seine lebenslang Flüchtenden, die Holocaust-Überlebenden und die Emigrierten, in Ausflüchte und Andeutungen. Wie er sich auch selbst aus der Affäre zieht. Denn nie liest sein Erzähler ein Schriftstück zu Ende, nie führt sein Erfinder eine Pointe zu ihrem Schluss. Dieser Bericht wie aus zweiter Hand hält die Familie auf angemessener Distanz. Wahrscheinlich ist es das, was Maxim Biller braucht. Und immer bevor’s ernst wird, heißt es: „Und dann lachten wir alle“. Kein Wunder, bei so viel eleganter Gewitztheit. Sein Ich lässt Biller Bert Brechts „Flüchtlingsgespräche“ lesen. „Sechs Koffer“ ist kein dickes Buch, aber sicher ein großes.
Über den Autor: Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher unter anderem erschienen: der Roman „Die Tochter“, die Erzählbände „Wenn ich einmal reich und tot bin“, „Land der Väter und Verräter“ und „Bernsteintage“. Sein Roman „Esra“ wurde gerichtlich verboten und ist deshalb zurzeit nicht lieferbar. Sein Short-Story-Band „Liebe heute“ wurde unter dem Titel „Love Today“ in den USA veröffentlicht, seine Bücher sind insgesamt in sechzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen ist Billers Roman „Biografie“, den die Süddeutsche Zeitung sein Opus Magnum nannte.
Kiepenheuer & Witsch, Maxim Biller: „Sechs Koffer“, Roman, 208 Seiten.
- 10. 2018