Johannes Krisch in Felix Mitterers „Märzengrund“

August 20, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

In die Berg bin i gern

Johannes Krisch. Bild: © Metafilm

Johannes Krisch. Bild: © Metafilm

Doch, doch, es gibt ihn, den modernen Heimatfilm, den quasi Anti-Heimatfilm über Außenseiter in ländlicher Gegend. Evi Romens „Hochwald“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=47728) ist eines der bestechendsten Beispiele dafür. Nun zog’s, als Nachfolgeprojekt seines Sensationserfolgs „Die beste aller Welten“ im Jahr 2017, Regisseur und Drehbuchautor Adrian Goiginger Richtung Dreitausender.

„Märzengrund“, ab 19. August im Kino, erzählt die wahre Geschichte des Zillertalers Simon Koch, vom großen Tiroler Volksdichter Felix Mitterer 2016 zum Bühnenstück veredelt, Mitterer, der am „Märzengrund“-Skript mitschrieb und momentan mit Andrä-Hofer-Land im Clinch liegt. In schonungsloser Manier schildert er den schmerzhaften Weg einer Selbstfindung, die ein Leben lang nicht aufhört.

Harte Wirklichkeit statt Gebirgsidyll soll’s also sein, und siehe: Es scheint in der Tat eine ordnende Hand zu brauchen, wie am Theater z.B. die der Stephanie Mohr, um des Autors durchaus zum Pathos neigende Natur- schauspiele umzusetzen. Goiginger hingegen hat alle Hände voll zu tun, den Kitsch-Hang nicht zur Lawine werden zu lassen. Dieses ständige „Aufi muas i!“ ist zu dünn, zu höhenluftig, um zwei Stunden Film zu tragen.

Offen gesagt, zur Halbzeit wird es einem fad, die imposante Landschaftskulisse von Klemens Hufnagl und Paul Sprinz, durch die je ein anderes miniaturkleines Männlein oder Weiblein schweren Schrittes stapft, die Emotions-Stereotypen, psychologische Entwicklung nur als Behauptung, die eh-scho-wissen-Dorfjugend, die sich in der Disco prügeln muss, die allzu holzschnittartigen Elternfiguren und deren hartleibige Familientraditionen. „Märzengrund“ ist ein Paradebeispiel für genretypisch – nix gegen Heimatfilm!

Doch statt sich als Betrachter, Betrachterin in die Szenen zu involvieren, was bei „Die beste aller Welten“ so mühelos-warmherzig gelang, steht man auf seltsame Weise draußen vor der Sennhüttentür. Das ändert sich allerdings, sobald Johannes Krisch die Gebirgler anzieht, das sind endlich die Momente, in denen der Film erdigen Boden unter den Füßen bekommt – Krisch ist wie stets im Spielen eine Naturgewalt.

Jakob Mader. Bild: © Metafilm

Gerti Drassl. Bild: © Metafilm

Harald Windisch. Bild: © Metafilm

Womit es wohl Zeit wird, kurz zum Inhalt zu kommen: Der junge Elias (Jakob Mader), wiewohl mit einem silbernen Löffel auf die Welt gekommenen, hat keine Freude damit, der Hoferbe, der Jungbauer zu sein. Lieber liest er, als seinem Vater, dem reichsten Landwirt in der Gegend (Harald Windisch ganz Patriarch), dabei zuzusehen, wie der einem spielsüchtigen Nachbarn Hab und Gut abknöpft. In der Disco lernt er die Moid kennen – die aktuelle Buhlschaft Verena Altenberger, die schon Goigingers Helga Wachter war, hier aber nichts darzustellen hat.

Ausgerechnet die Gschiedene, noch dazu Ältere. Als die Mutter (Gerti Drassl) die beiden beim nackert Schmusen im Teich ertappt, setzt es was – von dieser Mater dolorosa der Drassl, die einem derart auf die Nerven geht, dass man das nur ganz große Schauspielkunst nennen kann. Nun heißt’s auf die Alm mitm Buam, doch der hatte ohnedies schon beschlossen zum Eremiten zu mutieren: Als wär’s seine Initiation in die Berg steigt er dort in einen eiskalten See – und als um 40 Jahre älterer Mann wieder heraus.

Der Krisch ist geboren – und mit ihm jene mürrisch-wortkarge, sturschädelige Intensität, die man von ihm kennt und liebt, ein weißbärtiger Wurzelsepp wie aus dem Bilderbuch. Wenn er im wild-sprudelnden Bach watet und sich offenbar kindlich wohl dabei fühlt, gibt es ein Stückchen Ahnung von der Befreiung, der bedingungslosen Freiheit, die ein nur von der Natur bestimmtes Leben bietet kann. Es muss da schließlich etwas sein, dass uns Angepasste an Aussteigerstorys so fasziniert. Jung-Elias liest – Symbol as Symbol can – „Robinson Crusoe“.

Die Dorfjugend unterwegs zur Disco. Bild: © Metafilm

Verena Altenberger und Jakob Mader. Bild: © Metafilm

Harald Windisch und Gerti Drassl. Bild: © Metafilm

Iris Unterberger. Bild: © Metafilm

In „Märzengrund“ gibt es eine Klammer: Zu Beginn des Films findet sich orientierungs-, weil eben noch bewusstlos der alte Elias im Krankenhaus wieder. Diagnose: Prostatakrebs, Operation, Reha und die Empfehlung sein Einsiedlerdasein aufzugeben. Am Ende ist dieser Elias immer noch im Tal, in der sich selbst so nennenden Zivilisation (als die Krankenschwester, die nach einem Schlaganfall ebenfalls im Heim lebende Mutter reinschiebt, entfährt einem ein: Was die Alte lebt immer noch?), sieht sich dort mit den desaströsen Ergebnissen seiner Entscheidung konfrontiert – und wieder: Gefühlaufwallungen so glitzernd wie Kunstschnee.

Da ist der andere Schluss besser, der den alten Elias zur Frage des jungen zurückbringt: Wie will ich leben? Und wenn Johannes Krisch zuletzt in lichten Höhen in die gleißende Sonne geht, statt die Therapie im Krankenhaus fortzusetzen, scheint diese Frage auch die Möglichkeit eines selbstbestimmten Todes zu beinhalten …

metafilm.at/film/maerzengrund

18. 8. 2022

JOY

Januar 16, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Von Afrikas Armut in die Wiener Zwangsprostitution

Joy ist gefangen im Teufelskreis aus Menschenhandel und sexueller Ausbeutung: Joy Alphonsus. Bild: © Filmladen Filmverleih

„Vertrau niemandem, auch nicht mir, genauso wenig wie ich dir vertraue“, das ist der erste Rat, den die erfahrene Joy der Neueinsteigerin Precious gibt. Gerade hat ihr die Madame die Verantwortung über das Mädchen erteilt, doch zuvor war die Unwillige noch von deren Handlangern vergewaltigt worden – um sich ans Gewerbe zu gewöhnen. Eine Tat, die vor allen anderen Frauen der Madame geschah.

Eine Machtdemonstration der einen, der Versuch der anderen nur nicht hinzuschauen und -zuhören. Die Kamera fährt derweil Gesicht für Gesicht über deren versteinerte Züge. So etwas wie Mitgefühl oder Solidarität liegt darin nicht. Auf Festivals von Venedig bis Sevilla, von London bis Chicago bereits ausgezeichnet, läuft „JOY“ von Sudabeh Mortezai am Freitag hierzulande in den Kinos an. Die Wiener Filmemacherin erzählt darin die Geschichte ebendieser, aus Nigeria stammend und „illegal“ in Österreich, die im Teufelskreis von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung gefangen ist. Sie arbeitet in Wien als Prostituierte, will sich von ihrer Zuhälterin freikaufen, gleichzeitig ihre Familie daheim unterstützen und ihrer kleinen Tochter hier eine Zukunft sichern. Zehntausende Frauen aus Nigeria fristen in ganz Europa auf Straßenstrichen und in Bordellen ihr Dasein.

Sie sind Teil eines elaborierten und perfiden Systems moderner Sklaverei, betrieben von eben jenen Mesdames, die früher selber Sexarbeiterinnen waren und von Opfern zu Täterinnen aufgestiegen sind. Die Männer sind ausschließlich die Schlepper, doch an beide müssen die „frisch Gelieferten“ horrende Schulden abbezahlen. 50-60.000 Euro bei gerade mal 50 Euro pro geleistetem Dienst.

Betretenes Schweigen als Precious vergewaltigt wird: Angela Ekeleme als Madame. Bild: © Filmladen Filmverleih

Precious wird von Joy für die Prostitution ausgestattet: Mariam Precious Sansui und Joy Alphonsus. Bild: © Filmladen Filmverleih

Die Mesdames begutachten frische Ware. Bild: © Filmladen Filmverleih

Die idealisierte Vorstellung vom Leben in Europa bröckelt schon mit Mortezais ersten Bildern. Sie zeigt die Frauen im Wortsinn am Rande der Gesellschaft, irgendwo im Nirgendwo einer schlecht beleuchteten Gasse und ihre Angst in ein anhaltendes Auto einzusteigen, zeigt sie später in ihrer desolaten, ebenfalls von der Madame zur Verfügung gestellten Unterkunft, zu viele in zwei Zimmern, an der Wand ein Beyoncé-Poster: „Power is not given to you. You have to take it“.

Zeigt eine Parallelwelt aus Beautysalons für schwarze Frauen, in denen Joy Precious aufstylen lässt, oder der Chapel Of His Glory Parish Vienna, wo sonntags die Messe gefeiert wird, zeigt auch die Hilflosigkeit der Hilfsorganisationen. Dies größtenteils ohne Worte, die wenigen, die fallen sind in Englisch oder Pidgin, selten Deutsch, erst langsam erschließen sich dem Betrachter derart die Zusammenhänge, und einmal durchschaut sind die Verhältnisse nur umso unfassbarer.

Mortezais dokumentarisch anmutender Stil, die Authentizität, die Härte des Gezeigten, unterstützt durch die Kameraführung von Klemens Hufnagl, die Ausstattung von Julia Libiseller und Kostümbildnerin Carola Pizzini, stellt den Zuschauer mitten unter die Betroffenen, mitten hinein in die Ereignisse. Wie in „Macondo“, ihrem Film über einen tschetschenischen Buben in einer Flüchtlingssiedlung am Wiener Stadtrand, arbeitet Mortezai auch diesmal mit Laienschauspielerinnen und -schauspielern.

Die sie in der hiesigen nigerianischen Gemeinde gefunden hat. Ganz großartig, mit einer berührenden Mischung aus einer zum Überleben notwendigen Resolutheit und würdevoller Resignation, spielt Joy Alphonsus die Joy, Mariam Precious Sansui die Precious und Angela Ekeleme die Madame. Vieles am Film ist improvisiert, und so begeistert, mit welcher Präzision Mortezai ihre Darsteller durch die Ambivalenz ihrer Figuren navigiert, mit welch hohem Grad an Glaubwürdigkeit sie deren sonst kaum einsehbares Milieu veranschaulicht.

So gelingen starke Szenen. Etwa die von Joy und dem von Christian Ludwig verkörperten Freier Christian, der sie in einer von ihm gemieteten Wohnung als Privatprostituierte haben, sie besitzen und kontrollieren will, doch sofort einen Rückzieher macht, als sie sich seiner „Pretty Woman“-Fantasie entzieht. Oder die vom Mädchenmarkt in einem schäbigen Hinterzimmer, wo die Mesdames neue Ware begutachten und einkaufen. Da hat Joy ihr „Darlehen“ bereits getilgt und kommt ebenfalls vorbei, um sich umzusehen. Sie hat vor, im Geschäft zu bleiben und auf eigene Faust weiterzumachen, heißt: selber eine Madame zu werden, ganz klar, eine Alternative dazu tut sich schließlich nicht auf. Sie ist kein politischer Flüchtling, kommt aus keinem Kriegsgebiet, und sagte sie gegen ihre Madame aus, würde das nicht automatisch ein Bleiberecht bedeuten.

Wie nebenbei schafft „JOY“ auch das Kunststück Momente der Unbeschwertheit erahnen zu lassen. Eine Art Alltagsnormalität, private Momente, Joy mit ihrem Kind auf dem Spielplatz, die Frauen, wie sie zu Musikvideos singen und tanzen. Auch die Verstrickung des Juju in den organisierten Menschenhandel erklärt der Film. Einmal sieht man einen dieser Aberglaubenpriester Fingernägel und Schamhaare und Unterwäsche eines Mädchens als Pfand in einen Beutel stopfen, ein Huhn wird darüber ausgeblutet, die Drohung von Unheil und Tod bei Ungehorsam ausgesprochen. Die Frauen halten den Zauber für real, fühlen sich bis Europa davon verfolgt und fürchten sich davor.

Joys kleine Tochter lebt bei einer Wiener Pflegefamilie: Joy Alphonsus. Bild: © Filmladen Filmverleih

Umso irrwitziger wirkt darauffolgend eine Episode in einem urigen Wirtshaus, in das Joy und Precious auf einen wärmenden Tee einkehren. Da tritt der Nikolaus mit seinen Krampusperchten in die Stube. Deren zotteligen Ziegenfelle, die grässlichen Fratzen, die für sie fremde Exotik des Vorgeführten verblüffen die beiden, die Glockengürtel dröhnen bedrohlich, Sünder werden gesucht – und die Einheimischen singen „Lasst uns froh und munter sein“ …

www.filmladen.at/JOY

  1. 1. 2019

Belvedere: Klemens Brosch. Wiederentdeckung eines großen Zeichners

März 7, 2018 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Im Drogenrausch gezeichnete Kriegstraumata

Klemens Brosch, Das Krokodil auf der Mondscheibe, um 1912. Bild: © Landesgalerie Linz

„Noch immer geschehen Zeichen und Wunder …“ schreibt Brosch 1925 in seinem Tagebuch. Dieser Satz kennzeichnet den Linzer Künstler. Intensive Natur- und Landschaftserfahrungen stehen in seinem Leben tragischen Momenten gegenüber. Nach nur 16 Schaffensjahren hinterließ er knapp 1.000 Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafiken und Gemälde. Er zählt damit neben  Klimt, Schiele, Kubin und Kokoschka zu den bedeutendsten Zeichnern Österreichs. Das Belvedere zeigt ab 9. März eine erste große Retrospektive des Künstlers in Wien.

Broschs Bilder sind fantastische Visionen, seine akribischen Zeichnungen zum Thema Natur und Landschaft nehmen Aspekte der neuen Sachlichkeit und des Surrealismus vorweg. Wie viele seiner Künstlerkollegen sah er sich nach dem Ersten Weltkrieg mit neuen Bedingungen konfrontiert. Das Kriegsgeschehen hinterließ grausame Eindrücke, gleichzeitig fehlten in der Kunstwelt große Aufträge. Brosch ist gezeichnet von diesem Umbruch. Sehr früh nimmt der manische Zeichner symbolistische Einflüsse in seine Landschaftsbilder auf, behandelt aber auch düstere Themen wie die Massenvernichtungen im Ersten Weltkrieg und Visionen in sein Werk und setzt sich mit Vergänglichkeit und Tod auseinander. 1913 ist er Mitbegründer der Linzer Künstlervereinigung MAERZ, ein Schritt, der als Beginn seiner Karriere gilt.

Klemens Brosch, Siesta der Henker, 1916. Bild: © NORDICO Stadtmuseum Linz

Klemens Brosch, Verhungerter Flüchtling, 1916. Bild: © Grafische Sammlung des Oö. Landesmuseums

Die Kriegsjahre prägen ihn nach haltig, was sich in seinem Werk, aber auch in seiner psychischen Verfassung manifestiert. Über Jahre hinweg verfällt er der Drogensucht, in den Bildern jener Zeit spiegeln sich seine erschreckenden Halluzinationen. Abhängigkeit und brutaler Entzug werden zu prägenden Erfahrungen. Im Dezember 1926 nimmt er sich auf tragische Weise das Leben. Brosch hinterlässt ein umfangreiches Werk, das von einer krisengebeutelten Epoche zeugt. Stationen seines Lebens werden in der Werkschau  im Unteren Belvedere aufgezeigt. Die Ausstellungskooperation mit den Museen der Stadt Linz und dem Oberösterreichischem Landesmuseum versteht sich als Neu- und Wiederentdeckung und ist die facettenreichste Ausstellung, die dem Künstler in Wien bisher gewidmet wurde.

www.belvedere.at

7. 3. 2018

Landestheater NÖ: Mit „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ gelingt ein fulminanter Neuanfang

September 17, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Würfelspiel von den sehnsüchtigen Herzen

Maria Petrova, Klemens Lendl, Johannes Silberschneider, Helmut Wiesinger und Lukas Spisser. Bild: Alexi Pelekanos

Bai Dan zeigt, wie man seine Lebenswürfel selbst in die Hand nimmt: Johannes Silberschneider (M.) mit Maria Petrova, Klemens Lendl, Helmut Wiesinger und Lukas Spisser. Bild: Alexi Pelekanos

Mit einer solchen Arbeit beginnt man eine Intendanz. Marie Rötzer zeigt zum Amtsantritt am Landestheater Niederösterreich „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ nach dem Roman von Ilija Trojanow, und zeigt damit erstmals, was sie im Gespräch mit mottingers-meinung.at als ihre künstlerische Handschrift angekündigt hatte. Sie zeigt, dass die Teilnahme eines Theaters am politischen Diskurs dieser Tage nicht den Verzicht auf Poesie bedeuten muss. Und schon gar nicht die Weglassung von Humor.

Der diesmal ein fein melancholischer und dabei um nichts weniger ein subtil anarchischer ist. Der Regisseur, der dies alles in eine Form gegossen hat, ist Sandy Lopičić. Er macht aus Trojanows Buch ein Schelmenstück, ein Spiel von sehnsüchtigen Herzen. Seine Figuren sind Suchende, und was sie am Ende gefunden haben werden, ist die Menschlichkeit. Denn wenn Protagonist Johannes Silberschneider anfangs als Erzähler in der Proszeniumsloge sagt: „Das Herz ist manchmal ein Totem, manchmal ein Paragraf“, dann hat sich Lopičić für die Darstellung ersteres entschieden. Bei ihm sind die Menschen gut, daran will er glauben.

Trojanow hat 1996 die Geschichte seiner Familie und die Flucht seiner Eltern von Bulgarien in den gar nicht so goldenen Westen als modernes Märchen niedergeschrieben: Während Alexandar im Kommunismus des Todor Schiwkow wohlbehütet aufwächst, wächst seinem Vater das politische System der Fremdbestimmung und Überwachung zum Hals raus. Voller Hoffnung wagt er mit Frau und Kind die Flucht aus der Diktatur in ein vermeintlich besseres Leben. Doch Emigration, das bedeutet immer auch Einsamkeit, Isolation und Ausgrenzung. Und im Flüchtlingslager erneutes Fremdbestimmtsein. Alexandar fällt in Depression, Oblomowitis nennt es Trojanow. Da erscheint sein Taufpate Bai Dan, ein Magier, ein Meister im Würfelspiel und ein großer Geschichtenerzähler. Er hat gespürt, dass mit seinem Schützling etwas nicht stimmt – und nun nimmt er ihn mit auf eine Reise zu sich selbst …

Lopičić hat aus diesem überbordenden Konvolut einzelne Episoden extrahiert. Er hat als Essenz seiner Inszenierung das Thema Flucht destilliert. Folgerichtig ist ein Zwischenspiel in einer Flüchtlingsunterkunft das Herzstück seiner Aufführung. Die Flüchtlinge sind ob der schlechten Unterbringung in einen Hungerstreik getreten, dafür gibt’s Schelte von einem Striezel essenden UNHCR-Mitarbeiter. Man möge doch mit derlei Aktionen den Frieden nicht stören. Frieden? Des Bürgers Ruf nach seinem Recht auf Sicherheit und Beständigkeit im Leben ist immer durch solche bedroht, die ein Beispiel für dessen Unbeständigkeit und Unsicherheit sind. Tim Breyvogel als durchgeknallter DJ von „Radio Asyl“ und „Strotter“ Klemens Lendl gestalten diese Szene als kabarettistisches Kabinettstück. Wie sie Witz und Wirklichkeit an den Händen nehmen und kräftig Willkommen schütteln, ist sozusagen Synonym für den Abend.

Stanislaus Dick und Johannes Silberschneider. Bild: Alexi Pelekanos

Während Alexandar, Stanislaus Dick mit Silberschneider, in der Fremde nicht mehr aus dem Bett kommt … Bild: Alexi Pelekanos

Lukas Spisser, Zeyneb Bozbay, Tim Breyvogel und Klemens Lendl. Bild: Alexi Pelekanos

… beplaudert daheim der Stammtisch sein Schicksal: Lukas Spisser, Zeyneb Bozbay, Tim Breyvogel und Klemens Lendl. Bild: Alexi Pelekanos

Der, apropos: Die Stottern, insgesamt sehr musikalisch ist. Neben dem Wiener Duo begleiten auch Drehleierspieler Matthias Loibner und die bulgarische Percussionistin Maria Petrova die Schauspieler, die Musiker sind Mitakteure, so wie die Schauspieler auch Musik machen. In diesen schönsten Momenten gleitet die Aufführung in die Anarchie, die Inszenierung agiert wie ein wild gewordener Zirkus; Lopičić ist ein Mann mit bosnischen Wurzeln und weiß, wie man mit Balkan die Seele zum Tanzen bringen kann.

Er erzählt Trojanow nicht linear, er springt zwischen den Zeiten, zwischen einer Art bulgarischem Wirtshausstammtisch, den Koffer packenden Eltern Alexandars und ihm selbst, der nicht mehr die Kraft findet, sein Bett zu verlassen. Die Schauspieler fallen aus den Figuren, werden zu Chronisten ihrer Zeit, steigen wieder in die Rolle ein – und wenn sie dann mit Mimik und Gestik das eben Gesagte konterkarieren, ist das durchaus auch clownesk. Alle sind immer auf der Drehbühne, die die Welt bedeutet und die Günter Zaworka mit seinem Lichtdesign zu einem Ort immer wieder neuer Geheimnisse zaubert.

Auch unter Marie Rötzer scheint das Landestheater Niederösterreich ein starkes Ensemblehaus zu bleiben. Mit Johannes Silberschneider als Bai Dan hat man sich zwar einen hochkarätigen Gast geholt, einen Schauspieler mit unendlichem Bühnencharisma, doch freilich agiert er als Primus inter pares, wenn er aus seiner Figur einen Philosophen macht, eine Art Psychotherapeuten an Alexandars Bett, als wär sie sein Alter Ego. Sein Bai Dan weiß, dass Würfeln nichts mit Glück oder Schicksal zu tun hat, sondern nur mit Geschicklichkeit. Alles liegt in deiner Hand ist seine Botschaft an sein Patenkind – und damit ans Publikum.

Den Alexandar spielt Stanislaus Dick, und wie er ihn spielt, als einen, der sich in einer Quarantäne aus Erinnerung und sich nicht erfüllender Erwartungen eingesperrt hat, ist kaum zu glauben, dass er erst im Sommer sein Studium am Wiener Konservatorium abgeschlossen hat. Außerdem spielt er Akkordeon. Lukas Spisser und – ebenfalls neu am Haus – Zeynep Bozbay sind die Eltern Vasko und Jana. Er ein Querdenker, ein Querkopf, ein ewig Unangepasster, ein Kraftlackel, sie zart, doch ihm Paroli bietend im Versuch, seine Flucht-Höhenflüge zu erden. Auch das eine eindringliche Szene, wie die beiden schließlich doch ihr Hab und Gut für den Weg in die Freiheit sortieren. Was nimmt man mit, was lässt man los? Mutters Gobelins, ein heißgeliebtes Stofftier, Vaters Tischtennisschläger? Neben ihren Haupt- gestalten die meisten auch noch eine Anzahl skurriler Nebenrollen, Bozbay etwa eine irre Wahrsagerin, Spisser einen gefährlich komischen KDS-Agenten. Helmut Wiesinger ist unter anderem die nach Süßigkeiten süchtige Baba Slatka, die irgendwie auch der Wirt ist, je nachdem, ob Tuch auf dem Kopf oder um den Hals, der großartige Tim Breyvogel außer DJ Bogdan auch Vaters bester Freund Boro.

Sandy Lopičić hat Trojanows Buch als Gleichnis gelesen. Vieles erfährt man nur beiläufig, Diverses hat er aus-, das Tandem gleich ganz weggelassen, doch was er sagen will, ist klar. Heimat, dieser geschändete, zu Schanden definierte Begriff, heißt zuerst zu sich selbst nach Hause zu kommen. Heimat ist leicht zu verlieren, doch bekanntlich: „Rettung lauert überall“ dort, wo Menschen zu finden sind. Das Publikum in St. Pölten dankte dem neuen Team mit viel Applaus für einen hinreißend sympathischen und optimistisch klugen Abend. Man freut sich jetzt schon auf mehr …

Marie Rötzer im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=22087

Ilija Trojanow im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=14956

TIPP: Am 22. und 23. November ist die Aufführung zu Gast an der Bühne Baden.

www.landestheater.net

Wien, 17. 9. 2016

Schauspielhaus Wien: Als ich einmal tot war …

Oktober 23, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

… und Martin L. Gore mich nicht besuchen kam

Steffen Höld Bild: © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus

Steffen Höld
Bild: © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus

Uuuund der erste Preis für den längsten Stücktitel des Jahres geht an: Daniel Mezger. Weitere Auszeichnungen müssen folgen, denn was Steffen Höld und sein Regisseur und Live-Gitarrist Klemens Gindl im Nachbarhaus des Schauspielhaus Wien abgehen lassen, ist einfach nur geil. Ja, zugegeben, das hat auch mit ein paar Teenie-Erinnerungen zu tun, gehörten doch „People are People“ und „Master and Servant“ zu den ersten Clips, die in Österreich auf MTV zu sehen waren (den weißen Fake Fur mit den Lichtern will ich, nebenbei bemerkt, haben, liebe Anna Panzenberger, wenn ihr einmal Fundusflohmarkt machen solltet 😉 Gut, sie haben immer Music for the Masses gemacht, und in manchen Phasen ihres Schaffens war es besser to Enjoy the Silence. Aber was waren wir verliebt in den blondgelockten Engel Martin, immer ein sanftes Lächeln auf den Lippen, immer in eine erotische Mischung aus schwarzer Spitze und Leder gehüllt. Und daneben ein volltätowierter Gruftie, der sich ins Mikro basste. Aber, Dave, konnten wir ahnen, dass dich das zu Your own Personal Jesus macht? Ein Song, so gut, dass er von Johnny Cash gecovert wurde …

Da steht er nun also, Steffen Höld als Dave Gahan und hat gleich mehrere Pläne nicht. Heißt: überhaupt keinen Plan. Das kann einem schon passieren, wenn man sich 1995 die Pulsadern aufgeschnitten, 1996 einen Speedball gespritzt hat und deshalb zwei Minuten klinisch tot war und stolz !!! darauf ist – und einem 2009 ein bösartiger Blasentumor entfernt wurde. Dabei war der Plan damals, daheim in Basildon, ganz einfach: Rockstar werden und sich dann eine Kugel in den Kopf schießen. Statt dessen: ewige Diskussionen mit Martin Gore über Synthesizer vs Stromgitarre. Die Chance auf Aufnahme in den Club 27 verpasst, schöner Mist. Und dabei geht’s nicht einmal nur um Jimi, Jim und Janis. Nein, Kurt Cobain hat sich erschossen! Da kann einen mit 52 doch nur der Neid fressen. „Das war mein Ding!“, schreit Höld/Gahan ins Mikrophon. Und dann kommt dieser Scheiß-Grunger mit seinen Jesushaaren und glaubt, er kann sich alles erlauben. Sorry, aber man muss lachen. Da fehlt nur noch der Selfieschussapparat. Mezgers großartig witziger Text ist eine einzige Satire auf die Rockreichen und -schönen. Und der fabelhafte Höld trägt die Story, im berühmten Ruderleiberl oder im Sakko oder eingehüllt in einen „Pelz“mantel aus Egomanie und Allüren, hat sich Gahans große Bühnengesten nicht abgeschaut, sondern anverwandelt, geht auch einmal durch die Reihen seiner Fans, die ganze Zeit mit der Nervosität eines Rennpferds, und hat eine neue Disziplin erfunden: albquatschen.

Diesen Erguss – ein anderer kommt nämlich nicht, so sehr sie sich auch abmüht – muss Britney Spears über sich ergehen lassen. Die hat Gahan vor einem Club getroffen oder ist bei ihr oder bei sich zu Hause. Ist 1996 oder jetzt. Ist jenseits von Zeit und Raum und Wie und Warum. Leckt sich seine Wunden wie es der Zusammenhang tut, der ihm zu seinem Leben fehlt. „Wo war ich?“, ist der so bildhaft wie buchstäblich gemeinte Refrain des Stücks. Aber: Gahan hat aus der 27er-Sache eine Lehre gezogen: „Wir Großen sterben nicht.“ Umso größer ist die Leere rundherum. Könnte man sich nicht an zwei Themen abarbeiten: Martin „Mastermind“, der alles hat und alles besser kann, dieser Perversling. Höld gestaltet herrliche Zwiegespräche zwischen dem lakonischen Intellektuellen und der exaltierten Rampensau. Und den Zwei-Minuten-Tod. Aus dem einen Dr. House persönlich ins Diesseits zurückholte. Die schönste Stelle des Stücks – zumindest für unsereinen – ist ein Press Junket, an dem von Times bis taz alle teilnehmen, nur um über Nahtoderfahrungen und ähnlichen Pofel zu reden – „Hast du ein Licht gesehen?“ Dann kommt die nächste Journalistengruppe rein, erster Satz: „Dave, wie geht es dir?“ – „Also, nachdem ich ja zwei Minuten klinisch tot war …“ Bravo, genau so ist es! Alles schon selbst durchlitten. Fremdschämen statt sinnvoll-künstlerische Fragen stellen.

Während Höld/Gahan lustvoll an seinem selbstgezimmerten imaginären Kreuz hängt, erzählt Britney von ihren biederen Haus-mit-Vorgarten-Wünschen, von ihrer Sehnsucht nach einem normalen Leben. Dazu hätte er zu viele Tattoos, meint Gahan. Und geht ab. Wenn er beim nächsten Konzert wieder über den trottelig in seinen Gottespfaden herumlungernden Fletch (alias Andrew Fletcher) fällt, na, dann wird er aber … Just Can’t Get Enough (ich WEISS, das war noch von Vince „Erasure“ Clarke), aber leider gibt’s am Theater ja keine Zugaben. A Pain That I’m Used To.

Eine Anekdote noch. Sie ist wirklich wahr. Wenn „Wetten, dass …“ in Salzburg gastierte, quartierten sich die Stars gern in einem Hotel außerhalb der Stadt ein. Man war an Extras aller Art gewöhnt. Eines Tages, so erzählte der Hoteldirektor, zogen Depeche Mode ein. Dazu muss man erklären, es handelt sich um eines dieser Häuser, wo Geschäftsleute schon frühmorgens in Anzug und Krawatte Grapefruit löffeln. Depeche Mode hatten keine Sonderwünsche, wollten kein Breakfast auf den Zimmern. Sie wollten es nur bequem – und erschienen in den Hotelschlapfen, Trainingshosen und Unterleiberln im Frühstücksraum. (Fast) alle Peckerln sichtbar. Empörung! Doch der Direktor erklärte seinen illustren Gästen: „Die sind so. Die sind Rockstars.“ Und brav gingen sich die Anzügler Autogramme holen.

www.schauspielhaus.at

Wien, 23. 10. 2014