ImPulsTanz 2022: Highlights & Public Moves & Soçial

Juli 1, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Jeder kann tanzen. In ganz Wien. Kostenlos

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch (DE). Vollmond. Stück von Pina Bausch. Bild: © Oliver Look

Am 7. Juli startet das ImPulsTanz Vienna International Dance Festival 2022 mit einem einzigartig schönen Klassiker als Eröffnungsstück Vollmond. Ein Stück von Pina Bausch“ und zeigt bis 7. August mit 54 Produktionen in den Wiener
Theatern und Museen einen umfassenden Querschnitt, was zeitgenössischer Tanz und Performance waren, sind und
wohin sie sich entwickeln könnten. Dank der großen Nachfrage gibt es bereits

sechs Zusatzvorstellungen und seit Buchungsstart der Workshops sind weitere 16 Kurse im Programm zu finden. Darüber hinaus werden erneut die GratisSchnupperklassen Public Moves angeboten. Den Startschuss gibt von 7. bis 10. Juli jeweils um 21 Uhr im Burgtheater das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mitVollmond. Ein Stück von Pina Bausch“, in dem 12 Agierenden bei Regen dem Rausch der Liebe frönen, ihren Sehnsüchten hinterherhetzen und bis zur Erschöpfung tanzen.

Den Einstand im Kasino am Schwarzenbergplatz einem von etwa 20 Spielorten des Festivals gibtME MNU AMI“, eine Zusammenarbeit der beiden WienerTanzszeneGrößen Willi Dorner und Mani Obeya, als erste von insgesamt 21 österreichischen Produktionen am 8. und 10. Juli um 21 Uhr. Am 9. Juli um 18.30 Uhrer öffnet  im Volkstheater die Life Long Burning Choreographic Convention VIIIn Other Words: A Future„. Danach ist ebendortTemple du présent Solo pour octopus“ ein Film von Stefan Kaegi/Rimini Protokoll in Zusammenarbeit mit Judith Zagury und Nathalie Küttel (ShanjuLab), mit Gespräch im Anschluss, zu sehen. Noch bis 18. Juli findet die Convention statt und lädt unter andere am 10. Juli ab 11 Uhr zu drei PanelDiskussionen auf die MQ Libelle ein. Mitdiskutieren werden Anne Juren, Lisa Hinterreithner, Claudia Bosse und Perel sowie Autor und Klimaaktivist Florian Schlederer und als Teil des designierten Leitungsteams des Schauspielhaus Wien Tobias Herzberg.

Im mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien lässt Geumhyung Jeong inSpa & Beauty“ am 11. Juli um 17 und 21 Uhr und am 12. Juli um 18 Uhr eine bizarre Wellnessoase entstehen, deren Objekte mit den Körpern der Zuschauenden in Berührung kommen und zum Denken über Vorstellungen von Schönheit, Intimität und Konsum anregen. Die zugehörigen Installationen werden am 11. Juli um 18 Uhr bei freiem Eintritt ebendort eröffnet und sind noch am 12. Juli von 10 bis 16 Uhr zu sehen.

Sara Lanner (AT): MINING MINDS [8:tension] Young Choreographers’ Series. Bild: © Christine Miess

Florentina Holzinger (NL/AT). TANZ. Eine sylphidische Träumerei in Stunts. Bild: © Nada Žgank / City of Women

Simon Mayer / Kopf Hoch (AT): SunBengSitting ImPulsTanz Classic. Bild: © Florian Rainer

Die [8:tension] Young Choreographers’ Series beginnt am 12. und 14. Juli um 19 Uhr im Kasino am Schwarzenbergplatz mitMINING MINDS“ von Sara Lanner, in dem sie sich gemeinsam mit Costas Kekis zwischen Bergbau und DataMining bewegt. Es folgen weitere 9 Stücke einer nächsten Generation von Choreografinnen und Choreografen. Unter ihnen wird am 7. August um 16 Uhr bei freiem Eintritt (Zählkarte erforderlich) auf der MQ Libelle der mit 5.000 Euro und einer Artistic Residency dotierte ImPulsTanz Young Choreographers’ Award verliehen.

Weitere Programmhöhepunkte

Highlights der ersten Festivaltage sind zwei Produktionen von und mit dem Namen De Keersmaeker. Einmalig am 10. Juli um 19 Uhr kommt im Akademietheater die Schauspielerin und Tänzerin Jolente De Keersmaeker der Einladung Jérôme Bels, Stücke aus der Geschichte des modernen Tanzes wieder aufzuführen, nach. Jolentes Schwester Anne Teresa De Keersmaeker widmet sich am 12., 14. und 15. Juli um 21 Uhr mit der virtuosen Geigerin Amandine Beyer und ihrem Ensemble Gli Incogniti sowohl tänzerisch als auch musikalisch dem Symbol der Rose zu Heinrich Ignaz Franz Bibers barocken Rosenkranzsonaten. Sechs Tänzerinnen der Cie. Mathilde Monnier versetzen sich am 13. und 15. Juli um 21 Uhr inRECORDS“ im Akademietheater in die im Lockdown vorherrschenden Körperzustände zurück. Und mit dem ersten von insgesamt drei ImPulsTanz Classics zeigt Simon Mayer am 11. Juli um 20 Uhr ebendort sein bei [8:tension] 2015 präsentiertes StückSunBengSitting“.

Zudem gibt es am 14. Juli ab 18 Uhr zwei Musikvideoprogramme im Österreichischen Filmmuseum zu entdecken: Ersteres legt den Fokus auf unterschiedlichste Tanz und Bewegungswelten, zweiteres würdigt internationale MusikvideoHighlights des vergangenen Jahres. Einen ersten Vorgeschmack auf die 233 Workshops geben die „impressions’22″ am 10. Juli um 16 Uhr bei freiem Eintritt im Wiener Arsenal. Eine Sneak Peek in das Programm ermöglichen auch die täglichen SchnupperTanzklassen Public Moves powered by AK Wien ab 5. Juli an 5 Standorten. In den ersten Tagen mit dabei sind Marco de Ana, Fabiana Pastorini, Irene Coticchio, Karin Pauer, Kira Kirsch, Jermaine Browne, Karin Cheng & Ina Holub oder Futurelove Siba.

Wim Vandekeybus / Ultima Vez (BE): Hands do not touch your precious Me. Bild: © Danny Willems

LIBR’ARTS / Nadia Beugré (FR/CI): L’Homme rare. Bild: © Ruben Pioline

Jan Lauwers / Needcompany (BE): All the good. Bild: © Maarten Vanden Abeele

Dada Masilo / The Dance Factory (ZA): THE SACRIFICE ImPulsTanz Classic. Bild: © John Hogg

Grace Tjang (Grace Ellen Barkey) / Needcompany (BE/ID): MALAM / NIGHT. Bild: © Emma van der Put

Akram Khan Company (UK): Jungle Book reimagined. Bild: © Ambra Vernuccio

Täglich ab 22 Uhr bietet die Festival Lounge im Burgtheater Vestibül den perfekten Abschluss für heiße Sommertage. Diese wird am 7. Juli bei freiem Eintritt von der QueerpopQueen und Shootingstar W1ZE eröffnet, an den Turntables sind FM4Moderatorin und DJ Dalia Ahmed und das flashige Linzer Duo Caorli.

Public Moves & Soçial Tanzen abseits der Bühnen und Studios

Abseits davon lädt das Festival zum Tanzen unter freiem Himmel bei Public Moves powered by AK Wien und auf die Tanzflächen von ImPulsTanz Soçial. Ersteres bietet noch vor dem Festivalstart von 5. Juli bis 5. August an 5 Standorten insgesamt 128 kostenlose Tanzund Bewegungsklassen von 94 österreichischen und internationalen Dozentinnen und Dozenten an. Dabei gilt: Jedes Alter und Level sind willkommen! Abends lockt von 7. Juli bis 7. August die ImPulsTanz Festival Lounge mit ihrem täglich wechselnden Musikprogramm aus LiveKonzerten und DJSets ins Burgtheater Vestibül. Außer am 15. Juli und 5. August, denn da trifft sich das tanzlustige Publikum bei den ImPulsTanz Partys im Kasino am Schwarzenbergplatz.

Public Moves powered by AK Wien ermöglicht an fünf Orten, vier davon in ien Donaustadt beim Badeteich Hirschstetten, im Goethehof in Kaisermühlen, bei der MariavonZeitoun Koptischen Kirche, auf der Papstwiese im Donaupark und erstmalig vor dem MuseumsQuartier in Unbekanntes reinzuschnuppern und die Dozentinnen und Dozenten noch vor ihren Workshops kennenzulernen. Es besteht gleich mehrfach die Chance, Techniken und Stile der PerformanceStars des diesjährigen Festivals zu entdecken. Ultima Vez feiert ihr 35jähriges Bestehen nicht nur mit zwei Performances (inklusive Weltpremiere) und der danceWEBMentorenschaft von CompagnieGründer Wim Vandekeybus zusammen mit Nicola Schößler, sondern auch im Freien:

Damien Jalet (BE): Mist. Film. Bild: © Rahi Rezvani, Nederlands Dans Theater

Geumhyung Jeong (KR): Rehab Training mit lebensgroßer Puppe. Bild: © Mingu Jeong

Stefan Kaegi/Rimini Protokoll (CH/D):  Temple du présent – Solo pour octopus: Film. Bild: © Philippe Weissbrodt

Jerahuni Movement Factory (DE/ZW): Kamwe Kamwe / One by One. Bild: © SoKo

Laura Arís, ehemalige Tänzerin der Compagnie, macht sich auf die Suche nach dem Austausch von künstlerischen Interessen und German Jauregui lehrt Auszüge des UltimaVezVokabulars. Ebenfalls unter den Unterrichtenden sind zwei ehemalige Mitglieder des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch: Breanna O’Mara und Kenji Takagi widmen sich der Improvisation als Party und Ursprung der Bewegung. Alexander Gottfarb konzentriert sich auf die Atmung, während Benoît Lachambre und Tanz*HotelGründer Bert Gstettner Einblicke in ihre individuellen somatischen Praxen und Prinzipien geben. Für alle LiquidLoftFans, die nicht nur Zusehen, sondern auch Mitmachen wollen: Die CompagnieMitglieder Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak und Karin Pauer bieten Klassen in zeitgenössischem Tanz an.

Mit Ina Holub & Karin Cheng, PLENVM Ninja & DaDa Milan (DaDa Jv) sowie Archie Burnett werden das Grundvokabular, die verschiedenen Stile und Elemente des Voguing erkundet. Ebenfalls VoguingExperte William Briscoe führt die Teilnehmenden durch eine Reihe von rhythmischen und perkussiven Klängen, die den Körper und die Stimme als Instrumente nutzen. Bei Verena Brückner wird die eigene Stimme nicht nur erforscht, sondern auch mit ihr gespielt. Stimmtraining gibt es weiters auch von cowbirds-Mitgliedern Irene Coticchio durch Improvisation und Clélia Colonna zur Popmusik. Die Grand Dame des afrikanischen Tanzes Elsa Wolliaston erforscht die Musikalität des Körpers durch traditionell afrikanische und zeitgenössische Stile. Salim Gauwloos nimmt die Tänzerinnen und Tänzer mit auf eine Reise der „getanzten Meditation“. Claudia Hitzenberger widmet sich mit Hilfe von Yoga und Spiraldynamik der Atmung und der (inneren) Mitte.

Und bei Frank Willens, auch Podiumsgast der Choreographic Convention  „What’s Done / Undone“ am 10. Juli, befreit man sich von Tanzdämonen. Tanzen lernen wie die Popstars kann man mit Jazz, HipHop und Funk bei Jermaine Browne, der schon mit Britney Spears, Christina Aguilera und Jennifer Lopez zusammengearbeitet hat. Daybee Dorzile, die bereits mit Craig David oder Mariah Carey tanzte, bringt karibische Einflüsse in die HipHopWelt ein. Nina Kripas aus Los Angeles hingegen mixt HipHop mit unter anderemFunk Styles, House und weiteren Club und StreetDanceStilen. Und der ShaketheBreakDozent Attila Zanin vermittelt die Grundlagen von Locking, Popping, Breaking und Electric Boogaloo nicht nur exklusiv an Kinder (mit oder ohne Behinderung), sondern nun an alle. Apropos inklusiv: Bei Romy Kolb und Cornelia Scheuer geht es um barrierefreies Springen.

Christl: Object Of Desire. Bild: © Marlene Brandstötter

Christl: Object Of Desire. Bild: © Marlene Brandstötter

Abends trifft in der ImPulsTanz Festival Lounge im Burgtheater Vestibül Publikum auf Künstlerinnen, (Hobby)TänzerIinnen auf DozentInnen, Fachsimpeln auf ekstatischen Tanz und gemütliches Zusammensein. An den FM4 Fridays schickt der Radiosender seine Hosts und DJs aus dem Studio in die Festival Lounge. Die SchieneLive’n’Local“ legt den Fokus auf LiveKonzerte österreichischer Musikerinnen, Musiker und Bands. Spezieller Tipp von www.mottingers-meinung.at: Am 20. Juli tritt bei „Live’n’Local“ die gebürtige Oberösterreicherin Christl auf. Christl drückt sich nicht nur im Songwriting und in der Musik selbst aus, ihr Sinn für Ästhetik spiegelt sich in ihrem gesamten Schaffen wider: seien es audiovisuelle, bildnerische Werke oder Mode – Christl verbindet all dies zu einem vollkommenen Ganzen. Dabei scheut sie sich nicht, ihr Umfeld und sich selbst in ihrem Schaffen mit ihrer kritischen und ausdrucksstarken Stimme zu beleuchten.

Mit ihrem Debut „GameOver“, das sie mithilfe eines Crowdfundings eigenständig verwirklichte, setzte die Multikünstlerin nicht nur ein klares Statement für mehr Selbstbestimmung, auch ihr ganzheitlich-visueller Zugang zur Kunst wird bereits mit dieser ersten Veröffentlichung deutlich. Diesem Ideal folgend zeigt auch das am 2020 veröffentlichte audiovisuelle Kunstprojekt „Romance is dead“ ihre starke künstlerische Weiterentwicklung: In ihrer Vision steht die Musik nicht für sich, sondern ist vielmehr untrennbar mit dem Visuellen verbunden. Beim Release von „Object Of Desire„am 14. Mai hat Christl mit einer aktivistischen Kunstaktion gegen sexuelle Belästigung nicht nur auf den Straßen Wiens, sondern auch in den Medien für Aufregung gesorgt. Christls neue Single „PURPLE“ erscheint am 16. Juli und bringt mit Feature-Gast Mile/Sharktank, der den sanften RnB-Pop-Track um einen nachdenklichen Rap-Verse bereichert, musikalisch neue Facetten ins Spiel. Video: www.youtube.com/watch?v=Eq1ltIP6Dfk

Neben FestivalLoungeEröffnungsact W1ZE am 7. Juli stehen hier Enesi M., Christl, Worst Messiah, Toby Whyle und The P’s auf der Bühne. BeiHosted by Affine Records“ drehen unter anderem Zanshin oder Kenji Araki an den Turntables, während bei ImPulsTanz on Decks alle am Festival Beteiligten ihre Lieblingstracks spielen. Und am 15. Juli und 5. August blickt das SoçialProgramm bei den ImPulsTanz Partys im Kasino am Schwarzenbergplatz mit internationalen Acts über den musikalischen Tellerrand hinaus. Mit dabei sind Mina & Bryte mit ClubMusik zwischen Ghana und UK und Sicaria Sound mit Dubstep und HipHop.
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Public Moves: Katrin Blantar. Bild: © Karolina Miernik

Public Moves: Futurelove Sibanda. Bild: © yako.one

Public Moves 2020: Karine LaBel. Bild: © yako.one

Public Moves: Vera Rosner & Frans Poelstra. Bild: © yako.one

Infos zu Festival, Workshops, Public-Moves-Klassen und die Festival Lounge

Tickets sind auf www.impulstanz.com telefonisch unter +43.1.523 55 5839 sowie an der Tageskasse erhältlich. Workshops können online auf www.impulstanz.com/workshops und im Workshop Office gebucht werden. Die Anmeldung zu den Public-Moves-Klassen ist jeweils einen Tag vor Klassenbeginn ab 10 Uhr morgens über www.impulstanz.com oder telefonisch unter +43.1.523 55 58 möglich. Die Festival Lounge ist von Sonntag bis Donnerstag gratis, Freitag und Samstag sind 8 Euro Eintritt zu bezahlen, Tickets sind nur vor Ort erhältlich. Festivalgäste genießen freien Eintritt. Tickets für die beiden ImPulsTanz Partys sind ab sofort zu 12 Euro auf www.impulstanz.com, telefonisch unter +43.1.523 55 58-39 oder an der Tageskasse erhältlich.

www.impulstanz.com           Trailer: www.youtube.com/watch?v=JlmGmIMtQP4           www.youtube.com/watch?v=1XEYb5F7a2U         www.youtube.com/watch?v=jKaN3HpXy10

1. 7. 2022

Werk X: Geschichten aus dem Wiener Wald

Oktober 14, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sportgymnastik mit Fascesbündeln

Die deutsch-afrikanischen Performer Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star, Annick Prisca Agbadou, Hauke Heumann und Gotta Depri. Bild: © Alexander Gotter

Dass Faschisten den Antifaschisten dieser Tage Faschismus vorwerfen, hält Hauke Heumann für eine beängstigende Skurrilität. Und während der Performer im Weiteren und mit Verweis auf aktuelle Vorkommnisse, Walter Lübcke und NPD-Stephan E., Halle und Stephan B., gelöschte Akten beim Verfassungsschutz, NSU, Beate Zschäpe und keine Suche nach etwaigen Unterstützern im Hintergrund, Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ins Heute fortentwickelt, hat sich Annick

Prisca Agbadou einen Kittel mit Qualtinger-Prints übergeworfen, fungiert Gotta Depri längst als Lederhosenträger. Heimatkitsch trifft auf Kritik an ebendieser, und die Frage ist, wie viel faschistoide Tendenzen in diesem abgegriffenen Begriff stecken. Die sich diese stellen, sind das Künstlerkollektiv Gintersdorfer/Klaßen, Monika Gintersdorfer, Knut Klaßen und neben den bereits erwähnten Akteuren noch Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star, die im Werk X ihre Version des „Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück“ (© Erich Kästner) zur Aufführung bringen. Dies mit den bewährten Methoden der deutsch-afrikanischen Truppe an ihrer einmaligen Schnittmenge von Drama und Tanz, Theater und Coupé Décalé, letzteres ein Musikstil von der Côte d’Ivoire, woher drei der Auftretenden stammen.

Ihr transkulturelles Konzept haben Gintersdorfer/Klaßen diesmal um die Musiker Der Nino aus Wien und Partnerin Natalie Ofenböck erweitert, für beide ist es die erste Theaterarbeit, in der sie nicht nur selbst komponierte Songs, teilweise nach Horváth-Originaltexten oder Ernst Arnolds „Draußen in der Wachau“ singen, sondern auch aus dieser Rolle treten, um eine auf der Spielfläche zu verkörpern. Die – auch im soziologischen Sinne – Struktur des Ganzen ist die Nacherzählung. Konkret geschieht’s da beispielsweise, dass Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star etwas auf Französisch berichtet, und wie er wichtig vor dem Publikum auf- und abstapft und dabei ausladend gestikuliert, folgt ihm Hauke Heumann in gleichem Schritt und Geste.

Heumanns Live-Übersetzungen sind sozusagen ein Gintersdorfer/Klaßen’sches Stilmittel, sein Nachhaken, Andersformulieren, Auslassen der Reibungskoeffizient zwischen den Ausdrucksformen, zwischen Charakter und Darsteller, zwischen Verstehen und Verhandeln. Heumanns Anmerkungen zur gezeigten Horváth-Interpretation, zu Stückinhalt und Inszenierungsweise ist die Inszenierung. Erklärt also Yao die Figur eines jungen, gut angezogenen Manns, konkretisiert ihn Heumann als Alfred, und stellt Der Nino lapidar fest: „Strizzi halt.“

Tanz den Horváth! Annick Prisca Agbadou, Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star und Gotta Depri. Bild: © Alexander Gotter

Pervertierung der Sportgymnastik: Depri, Yao, Heumann und Agbadou beim Turnen mit den Fasces. Bild: © Alexander Gotter

Wie Afrika als Fundament unterm „Wiener Wald“ liegt, so die Kommentare vom Nino als komödiantisch-sarkastische Folie darüber. „Difficile est satiram non scribere“, bemerkt Der Nino dazu. Aus der Beschreibung wird allmählich Darstellung, Szene um Szene schält sich aus dem Geschilderten. Yao kriecht als – böse, man weiß es – Großmutter wie eine Spinne über den Boden und kreischt gellend nach der sauren Milch. Agbadou macht die Marianne, Yao als Rittmeister einen Rückwärtssalto, Depri tritt als wuchtiger Zauberkönig auf.

Yao protestiert, geriert sich als großer Schauspieler und will zum Gaudium der Zuschauer sofort alle Rollen übernehmen. Depri und Yao schwärmen von der Valerie als selbstbewusster Frau, die Witwe sei ihre Lieblingsfigur, so die beiden, die „Draffiggantin“ führt Der Nino im Depressiv-Dialekt aus, weil sie eine ist, die sich nimmt, was sie braucht. Heißt: Sex. Und apropos: Später im Maxim wird Heumann mitteilen, dass auf Valeries hysterische Anfälle hier verzichtet wird: „Die Frauenschreie müssen wir auslassen, wir machen nicht so psychologisches Theater“, sagt er heiter entschuldigend.

In dieser Ansage über Verfremdung liegt ein tieferes Verständnis für Horváth, trotz oder eben gerade wegen der Anti-Einstellung des Abends – anti- psychologischer Annäherung, anti- kathartischem Effekt, anti- sogar Exzess. Wer wen oder über wen spricht, ändert sich ständig. Der Text durchläuft das Ensemble. Das uneigentliche Sprechen der Horváth’schen Figuren erfindet sich bei Gintersdorfer/Klaßen solcherart neu und aufs Extrem zugespitzt. Über den grotesk energischen Studenten Erich, dieser ein Vorbote des Nationalsozialismus, er laut Heumann die Repräsentationsfigur Deutschlands, kommt der zum eingangs beschriebenen Exkurs.

Und zur Rhythmischen Sportgymnastik als Kern der Gintersdorfer/Klaßen-Arbeit. Ausgehend von Mariannes Wunsch, diese einmal zu studieren, und der Pervertierung desselben, wenn sie am Ende ihres Weges als Nackttänzerin strippt, befasst sich die Gruppe sowohl mit den Theorien eines Émile Jaques-Dalcrozes, der durch die Gymnastik die Gesellschaft von ihren Zwängen befreit wissen wollte, als auch mit der Förderung der „organischen Volksgemeinschaft“ im Dritten Reich.

Neue Wienerlieder nach Horváth-Texten: Yao, Der Nino aus Wien, Heumann, Natalie Ofenböck im Spiegel und Depri. Bild: © Alexander Gotter

Qualtingerkittel trifft auf Lederhosenträger: Annick Prisca Agbadou und Gotta Depri, hinten: Natalie Ofenböck. Bild: © Alexander Gotter

In ihren „Geschichten aus dem Wiener Wald“ bewegen sich die Performer permanent im Raum, nach Art der Turnsportchoreografien vollführen sie Tanzschritte und Sprünge, „verbiegen“ sich im Wortsinn und in politischem, und verwenden als „Gerät“ schließlich schwarze Fasces, die Rutenbündel der italienischen Faschisten, übernommen von den Römern als äußeres Attribut der Herrschergewalt. Ein krasses Bild, wie die körperliche Offenbarung der Seele in Riefenstahl-Optik versinkt, wie Freikörperkultur und Reformpädagogik in NSDAP’sche Zucht und Ordnung kippen. Derart geben einem Gintersdorfer/Klaßen kaltwarm.

Auf eine großartige Szene an der schönen blauen Donau, wo Heumann als Valerie beim Umziehen von Alfred, vom Zauberkönig und von Erich bespechtelt wird, folgt die „pikante“, in Wahrheit brutale im Nachtclub, Der Nino aus Wien und Natalie Ofenböck singen „Jeder hat einen Traum, aber wahr wird er kaum“. Beim Heurigen zeigen die alsbaldigen Herrenmenschen im Spiegel ihre Fratzen, und drehen diesen natürlich genüsslich Richtung Zuschauertribüne. Wie’s für die Marianne ausgeht, ist bekannt, und als abschließendes Lied erklingt Oskars Verlobungsfeierdrohung: „Du wirst meiner Liebe nicht entgehen …“

Fazit: Diese zugleich Innenschau- wie Außenblickproduktion, die eine schon wieder nach rechts schunkelnde Gesellschaft in ihrer volksdümmlichen Gemütlichkeit und ihrem entmenschten Ausgrenzertum aufs Korn nimmt, ist eine der hervorragendsten, die das Werk X bis dato geboten hat. Ein würdiger Auftakt der unter dem Spielzeitmotto „Heimat und Arschloch“ stehenden Saison, der mit Bravour abgeschlossene Beweis, dass weder „Vaterland“ noch „Muttersprache“, sondern nur Individualität Identität erschafft.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=deXvxHFhwbY                werk-x.at           www.gintersdorferklassen.org

  1. 10. 2019