Burgtheater: „Komplizen“ von Simon Stone

September 27, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Wer im Glashaus sitzt …, oder: Das Warten auf die wahrhaft neue Volkspartei

Birgit Minichmayr, Michael Maertens, Lilith Häßle und Roland Koch. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Es sind zwei Sätze, die Peter Simonischek als Matthias spricht, die die Klammer dieses Abends und damit die Rotationsachse der derzeitigen Geschehnisse bilden – der erste: „Ich habe nichts gegen Nächstenliebe, aber sie ist ein Privileg, dass diejenigen von uns, die sich nach oben gekämpft haben, denen gewähren, die unten geblieben sind“, der letzte: „Es ist alles aus, und wir sind selber schuld daran.“ Dazwischen entfaltet Regisseur Simon Stone ein in

doppeltem Sinne beziehungsreiches Gesellschaftspanorama, und setzt dafür seine Figuren einer künstlerisch-wissenschaftlichen Upperclass vs. der sogenannten wirtschaftlich Abgehängten in ein derart träges Karussell aus Räumen, dass man sich Fortschritt hier schier unmöglich denkt. Das heißt, Stones Figuren sind’s und sind doch geborgte, die gestern am Burgtheater als „Komplizen“ ihre Uraufführung hatten. Getreu Mark Twains „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ hat der Australier mit europäischem Background, der 2018 am Haus für sein „Hotel Strindberg“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=28131) gefeiert wurde und der statt Twain lieber Friedrich Nietzsches zentralen philosophischen Gedanken der Ewigen Wiederkunft des Gleichen zitiert, Maxim Gorkis Dramen „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ in aktuellem Kontext neugeschrieben.

Das eine vom russischen Autor 1905 in der Peter-und-Paul-Festung verfasst, wo er wegen seines Aufrufs zum „brüderlichen Kampf gegen die Autokratie“ inhaftiert war, ein Stück über einen großbürgerlichen Intellektuellenkreis, der seinen Ennui und sein Unglück pflegt, während vor seinen Toren Cholera-Aufstände wüten. Das andere von einer Amerika-Reise im Jahr 1906 mitgebracht, Gorki von Lenin nach Übersee verfrachtet, um einer neuerlichen Gefangennahme zu entgehen und Propaganda für die kommunistische Sache zu machen, „Feinde“, in dem es zum in Gewalt eskalierenden Konflikt zwischen einem Fabrikbesitzer, dessen Direktor und den Arbeitern kommt.

Diesen „Komplizen“, und Stone meint damit wohl jene Kontrahenten, die ihr Klassendenken, ihr Klassenzwang in Tateinheit mit ihrer elitären Unbeweglichkeit und einem narzisstischen Kollektiv-Egoismus zu Systemerhaltern eines sozialpolitischen Stillstands macht, diesen Komplizen hat Bob Cousins eine Grinzinger Glasvilla auf die Bühne gestellt, Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad voll funktionsfähig, und hebt sich der Vorhang, sieht man zuallererst das Personal die unzähligen Fensterscheiben putzen. Das modernistische Manor rotiert träge, alldieweil die Intelligenzija nicht minder behäbig um sich selbst kreist – wiewohl immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird, dass Behäbigkeit, schweizerisch für die Eigenschaft, wohlhabend zu sein, und Hysterie einander nicht ausschließen.

In diesem Glashaus, der Vergleich mit einem Museumsschaukasten drängt sich auf, sitzt nun Michael Maertens, vor fast 120 Jahren noch der Chemiker Protassow, anno 2021 schlicht Paul genannt, nach einem alkoholintensiven Abend und muss sich die kommenden vier verkaterten Stunden von Freud, Freund, Feind und Familie quälen lassen. Maertens legt das bei der Nobelpreis-Vergabe vergessene Genie mit der seiner Rollengestaltung eigenen Quengelei an, wie überhaupt das ganze Star-Ensemble perfekt einem beiläufigen, herrlich voneinander angeödetem Konversationston huldigt. Man hat sich Status und Lifestyle mit einer Selbstgewissheit angeeignet, mit einem Abgehoben-Sein, das sich durch Finanzstärke rechtfertigt.

Roland Koch und Mavie Hörbiger. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Birgit Minichmayr und Michael Maertens. Bild: © M. Ruiz Cruz

Rainer Galke und Michael Maertens. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Lilith Häßle und Michael Maertens. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Peter Simonischek gibt den leutseligen, mit einer Noblesse-oblige-Rücksichtslosigkeit gesegneten Fabriksbesitzer Matthias Prositsch, Pauls Onkel, Mavie Hörbiger Pauls revoltierende, NGO-engagierte, vom Depressiven ins Manische changierenden Schwester Lisa, von der sofort klar ist, dass sie emotional ebenso wenig stabil ist, wie die exaltiert und hypernervös agierende Birgit Minichmayr als in erster Linie autokommunikative Anwältin Melanie, ehemals Melanija Kirpitschowa, die den versponnenen Mikrokosmonauten Maertens stalkt.

Melanies Bruder, Felix Rech als Botho, ist vom Veterinär zu Lisas in sie verliebten Psychotherapeuten geworden. Pauls Frau Tanya, Lilith Häßle, ist eine durchaus unliebenswerte, krisengebeutelt-egomanische (Burgtheater-)Schauspielerin, die Roland Koch, als Dietmar nicht mehr Maler, sondern Filmemacher und Fotograf, zu einem Porträt und einer Affäre überreden will – und sage nun keiner, Simon Stone könne es weniger delikat-diffizil als die russischen Literaten.

Auf der Gegenüberseite stehen: Der brillante Rainer Galke als Hausmeister Igor, ein Handwerker mit Golfhandicap und dem Hausherrn unentbehrlicher WLAN-Auskenner, Safira Robens als Reinigungsfrau Farida, Falk Rockstroh – wie von Gorki in die Gegenwart gezaubert – und Reinhardt-Seminarist Dalibor Nikolic als Fabriksarbeiter Jürgen und „Gastarbeiter“ Goran, und irgendwo dazwischen Annamária Láng als Pauls Haushälterin Anita sowie Bardo Böhlefeld als Matthias‘ Geschäftsführer Raschid nebst verteufelt schlauer Ehefrau und Bankangestellter Cleo, Stacyian Jackson – diese beiden der Mittelstand zwischen den Standesdünkeln von Arm und Reich, und wenn man so will, bei Simon Stone am Ende die Gewinner.

In der Übersetzung von Martin Thomas Pesl wird’s einem mit trocken-zynischem Humor so richtig reingesagt. Die schwelenden Konflikte in den Dioramen sprengen bald den Rahmen, ein Durchräuspern des Textes, ein gelegentliches Husten, die Erwähnung von Quarantäne und PCR-Tests, weisen auf die aktuelle Infektionsgefahr hin, auch wenn die Nachrichten von draußen, übervolle Intensivstationen und bald brennende Autos, der Arbeitsk(r)ampf und die sozialen Verwerfungen dieser Tage die Scheibenwelt nur glasig gefiltert durchdringen. Doch die umstürzlerische Durchseuchung macht auch vor tollem Design nicht halt, wie sich alsbald erkennen lässt, Geschäftsführer Raschid, ganz Typ Slim Fit, will die Fabrik wegen Streikandrohung der Gewerkschaft – es geht um Maskenpausen für die Belegschaft – schließen. Was ihn, wie den erschossenen Michail Skrobotow, beinah das Leben kosten wird.

Peter Simonischek und Stacyian Jackson. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Mavie Hörbiger mitten im Nerven- zusammenbruch. Bild: © M. Ruiz Cruz

Peter Simonischek, Bardo Böhlefeld und Stacyian Jackson. Bild: © M. Ruiz Cruz

Beide von Gorkis Vorlagen wurden von der zaristischen Zensur mit einem Bühnenbann belegt, zu regional beschränkt glaubte man die ersten Erschütterungen, die ein Jahrzehnt später zur Oktoberrevolution führen sollten. Ähnliches ortet und verortet Stone in seinem Gegenwartsdrama, und dieser Gedankengang lässt doch gehörig Gänsehaut aufkommen – das dumpfe Gefühl einiger, Manövriermasse der obszönen Geliebten Politik und Wirtschaft zu sein, das Rumoren im Souterrain bei gleichzeitigem Champagnisieren einer Jeunesse dorée in der Beletage, Turbokapitalismus, während der ehrenwerte Proletarier, die Proletarierin zum Prekariat degradiert wurde. Stone nimmt diese Zustände um nichts weniger ernst als weiland Gorki.

Und er nimmt, zwischen gutmenschlichem Gedankengut bei schleunigstem Rückzug in die bourgeoise Deckung, sobald es ans Eingemachte geht, dies vor allem Lisas von Mavie Hörbiger glänzend fahrig verkörperte Charakterisierung, auch die eigene Zunft aufs Korn. In Lilith Häßle als Tanya mit der Künstlerseele, die in ihrem Nichtwissen(-wollen), durch ihre Realitätsflucht vor allem Ruhe fürs Rollenstudium will. Härtester Spruch, als sie Igor-Galke ins Krankenhaus zu dessen an COV19-verstorbener Ehefrau fährt und sie seinen Schmerz mitansieht: „Merk dir das Tanya für die Bühne, das ist echter Verlust!“ In Roland Kochs Dietmar, dem Salonsozialisten, der sich auf seiner Suche nach Authentizität selbst links von Ken Loach wähnt, während er doch nur ein von der Sozialfotografie in die Konventionen der Kulturschickeria aufgestiegener Auswegloser im Maßanzug ist.

Versteht sich, dass Stone, alldieweil er Innerstes offenlegt, auch Situationskomik kann. „Komplizen“ vergeht wie im Flug, nur zum Ende hin bei den Erklärungsmonologen könnte man die Schraube ein wenig anziehen, und apropos, Authentizität: Auf die verstehen sich vor allem die „Unterschicht“-Darstellerinnen und Darsteller, der grundaggressive Galke, ein zwielichtiger Geselle, der, was Farida betrifft, am Rande von #MeToo balanciert, was aber Paul angesichts seiner Internet-Qualitäten ohnedies wurscht ist, bis er sich in einer ergreifenden Schlussszene bei seinem Opfer entschuldigt. Der wie fürs Burgtheater gemachte Dalibor Nikolic, dessen Goran – siehe Raschid – Täter und Opfer zugleich ist. Falk Rockstroh als brav-ergebener Vorarbeiter Jürgen, den seine lebenslange Nähe zum Establishment lähmt.

Schließlich Annamária Láng als dienstbarer, guter Geist Anita, bis ihr im Selbstmitleidssumpf ihrer ignoranten Arbeitgeber deren Dreck bis hier steht. Mit der aus Ungarn kommenden Schauspielerin und dem serbischen Nikolic greift Simon Stone auch Themen wie – welch ein Unwort – „Migrationshintergrund“ und Multikulturalität auf. Einer wie Theatermacher Stone, weiß auch jeder und jedem in seinem Cast eine Sternstunde zu verschaffen, was diese mit scharfkantiger Rollengestaltung weidlich zu nutzen wissen, mit bravourösen Auftritten und grandios aufgeblähten Ansagen, die die Versagensangst und das schlussendliche Versagen der Figuren gar nicht verschleiern wollen, sondern als eine Art „C’est la vie!“ ausstellen, dann wieder mit leisen Augenblicken des Zweifels und der Verzweiflung – Felix Rechs Botho, der die selbstmörderische Konsequenz zieht und sich – Tschepurnoi hatte sich einst an einer Weide am Fluss erhängt – statt zwischen die sich verhärtenden Fronten vor die Wiener U-Bahn wirft.

Bardo Böhlefeld und Safira Robens. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Felix Rech und Mavie Hörbiger. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Michael Maertens und Annamária Láng. Bild: © M. Ruiz Cruz

Rainer Galke, Falk Rockstroh und Dalibor Nikolic. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Es wird der Moment dräuen, da die aufgebrachte, aufgestachelte Masse an die Glasfassade ein „Fickt euch alle!“ sprayen wird, wer sich erinnert, denn damals sorgte dies für öffentliche Debatten, bei Achim Benning 1988 zog die Arbeiterschaft mit wehenden roten Fahnen an der demolierten Datscha vorbei, und es ist als größtes Kompliment an Simon Stones „Komplizen“ gemeint, dass dies eigenständige Stück Dramatik, so nah es auch der Gorki-Dramaturgie ist, auch versteht, wer den Gorki nicht studiert hat.

Es kommt – Achtung: Spoiler! – zum großen Aufräumen. Nicht nur der Glasscherben, sondern auch der Gesellschaftssplitter. Der wiederauferstandene, zumindest im Rollstuhl sitzende Raschid hat sich via Wertpapiere zum Mehrheitseigentümer von Matthias‘ Fabrik gemacht, der Spross eingewanderter Gemüsehändler als Big Boss im Eingelegte-Gurkerl-Business, und man sieht die Kündigungswelle schon anrollen, Cleo sich der Paul’schen Hypotheken bemächtigt, was diesen um Haus und Hof bringt. Die neoliberale Ausbeuterin mit dem königlichen Namen hat schon Pläne für Tennisplatz und Swimmingpool, der Mittelstand steigt auf und entpuppt sich als Neureiche als noch gnadenloser als der alte, sich noch vom Gemeindebau ins Villenparadies hochgearbeitet habende Geldadel. Welch ein Symbolbild.

Und zwischen denen, die ihren Kummer über den „toten Traum“ (© Matthias-Simonischek) im Wein ertränken, den „vertrottelten Spielen von Stolz und Vorurteil“, dem Nachsinnen über „Besitz als neue Waffe der Unterdrückung“, den Wohlstandsverlierern da wie dort, den Generationen- und Familienkonflikten, den Betroffenen und den Performern von Betroffenheit, Anitas Zornesausbruch und dem endgültigen Irre-Werden von Lisa und Melanie ob Bothos Suizid, Wissenschaftler Paul-Maertens‘ Furor und Revolutionsästhet Dietmar-Kochs Resignation, alle entfremdet oder: jeder überlebt für sich allein, steigt ein Phönix aus den Trümmern. Safira Robens als Unterste-der-Unteren-, wie’s auf Wienerisch heißt: -Bedienerin, die ihre Zulassung zum Medizinstudium geschafft hat.

Was bleibt zu sagen? Am Premierenabend hat in Graz die KPÖ die Gemeinderatswahl gewonnen. Laut Wählerstromanalyse mit Stimmen, die bisher für andere Parteien abgegeben wurden und einem großen Zulauf von bis dato Nichtwählerinnen und -wählern. „Es ist alles aus, und wir sind selber schuld daran“, sagt Simonischeks Prositsch. Doch wer weiß, vielleicht lugt an der Wahlurne endlich eine echte, wahrhaft neue Volkspartei aus der Zukunft ins Heute?

Teaser: www.youtube.com/watch?v=BO2R6ZllyYY&t=1s           www.burgtheater.at

  1. 9. 2021

Schauspielhaus Wien: Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)

November 10, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Hinterlassenschaft ist auch ein Wort für Scheiße

Sophia Löffler und der Chor. Bild: © Matthias Heschl

Thomas Köck ist wieder zu Hause. Künstlerisch zumindest ist das im Schauspielhaus Wien, wo die Diskurstexte des oberösterreichischen Dramatikers aufs perfekteste für die Bühne umgesetzt werden. Diesmal hat Köck erstmals selbst Hand an sein Stück gelegt, gemeinsam mit Elsa-Sophie Jach zeichnet er auch für die Regie von „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ verantwortlich, das am Donnerstagabend in der Porzellangasse zur Uraufführung gebracht wurde.

Köck, ein Meister im Verfassen von poetisch-bedeutungsvoll raunenden Satzkaskaden, befasst sich diesmal mit dem Komplex Schulden/Erben. Ein überreifes Feld, um seine liebsten Problematiken zu beackern, und so mäandern des Autors Gedanken auch diesmal von Weltpolitik zu Weltfinanzkrise zu Weltklimakatastrophe und anderen De-facto-Pleiten wie Donald Trump. Heißt zu dem, was eine gewesene und eine jetzige Generation der zukünftigen mit ins Leben geben werden, eine Hinterlassenschaft aus Miseren und Konflikten, all die Scheiße also, die diese aber nicht länger hin- und annehmen will.

„kann aber nicht sein dass wir uns die hände nicht / schmutzig machen wollen es / wird nicht ohne hässliche bilder gehen es / es wird nicht ohne hässliche bilder gehen kurz / hätt ich was falsches gesagt / kurz / hätt ich mich verplappert / kurz“, steht dazu an einer Stelle über einen feschen, gegelten Sunnyboy, einem „alten Blutbad“ entstiegen, ein Strahlemann als Wiedergänger …

Wohl weil Misere zu Miserere führt, hat Köck seinen Text als Kantate angelegt, als Werk für Solistin und einen Chor. Erstere ist Sophia Löffler in ihrer ersten Rolle nach der Babypause. Die Musik stammt von Bach („Klagt, Kinder, klagt“ natürlich), reicht von Chinawoman, Alive She Died und Roy Orbison bis William Basinski und Max Richter. Köck hat sich für „Die Zukunft reicht uns nicht …“ eine eigene Zeitform erfunden, eine Art „Plusquamfutur“, in der Überlegung, die Sprache verlaufe nicht linear, sondern könne sich wie der Raum krümmen, und ergo alles immer gleichzeitig sein.

Bild: © Matthias Heschl

Bild: © Matthias Heschl

Und so ist Löfflers Figur zunächst eine gewesene alte Frau, eine Seherin, Kassandra (später ein zukünftig reicher Erbe in New York), die wahrsagt, was gewesen sein wird werden. Mit ihr, eigentlich gegen sie, spielt ein 14-köpfiger Chor aus Jugendlichen, und die da gekommen sein werden, wollen sich nicht mehr von Sachlage, Schicksal und „Erbschuld“ verschaukeln lassen. Sie fordern Sophia Löffler, sie animieren sie zum Zwietracht säen. Es wird zum Konflikt gekommen sein müssen.

Jach und Köck lassen das alles auf weißer Bühne verhandeln, Leichensäcke liegen herum, ein Plastikvogel fliegt und stürzt ab, und eine Drohne, die stürzt nicht ab, mehr brauchen die beiden nicht an Ausstattung. Die schlanke Optik tut Köcks Text gut, sie unterstreicht ihn an den aussagestarken Stellen. Bemerkenswert ist, wie präsent der Chor im Geschehen ist, junge Menschen, Mona Abdel Baky, Nils Arztmann, Hanna Donald, Nathan Eckert, Magdalena Frauenberger, Alexander Gerlini, Ljubica Jaksic, Daniel Kisielow, Anna Kubiak, Rhea Kurzemann, Cordula Rieger, Karoline Sachslehner, Gemma Vanuzzi und Juri Zanger, die von der Musik, vom Tanz kommen, nur teilweise Theater-, etliche gar keine Bühnenerfahrung hatten. Mit kalkweißen Gesichtern und Glitzerleggings sind sie wie eine Legion von Verlorenen, eigentlich vermutete man sie in den Säcken, doch mit ihrem langsamen Auftritt ist klar, da kommt was auf uns zu. Präpotenz, Stolz, Provokation steht auf den blutig ernsten Mienen.

Bild: © Matthias Heschl

„ich scrolle gelangweilt durch / schneemangel waldsterben überhitzung desertifikation scrolle / mich erschöpft durch verbrannte erde / scheißhaus übermüllung wohin das auge reicht scrolle / durch plastikinseln in kontinentalem ausmaß scrolle / … durch sinkende rettungsboote scrolle / durch frisch gezogene außengrenzen mythologischen ausmaßes …“, skandieren sie, vier von ihnen, mit den Schriftzügen „Game over“, „No specials“, „Bad liar“ und „Eure Party ist Scheiße“ auf den Rücken ihrer Bomberjacken, stechen dabei aus der Masse heraus. Mit dem Chor entwickelt die Aufführung im doppelten Wortsinn eine ungeheure Wucht.

Noch schmeicheln sie, sehen in der Seherin Schutz und Schirm, eine Mutter, die diese nie hat sein wollen. Kassandra mutiert zu „Ivanka Kassandra on the 68th floor“, beide Seiten spekulieren über Mutter/Vater/Elternmord. Wurde ihr bisher zugesetzt, greift nun sie an. Beschuldigt den Klage-Chor, als die privilegierteste, überfüttertste aller Generationen nur zu schreien und zu jammern, „du mittelstandschor was hast du denn für zukunftssorgen?“. Pickt schließlich einen heraus, „der den halben kuchen ganz alleine kriegt“. So genüsslich humorvoll dieser Hakenschlag, so hart die darin liegende Realität. Laut aktueller Oxfam-Studie besitzen acht Milliardäre mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Es steht derzeit 426 Milliarden US$ zu 409 Milliarden.

Und schon ist auf der Bühne Krieg. Blut wird fließen – sehr effektvoll vom Balkon herunter. In der letzten halben Stunde gewinnt die Inszenierung von Jach und Köck rasant an Fahrt. Und mit ihr vieles von dem, das ohnedies so klar scheint, an neuaufgeladener Bedeutung. Man fühlt sich gemeint und gemein, der eigene ökologische Fußabdruck sich plötzlich wie der eines Riesen an. So macht man das, macht Texte, wie diesen, fürs Theater unverzichtbar. Im Epilog auf seinen Abgesang bietet Köck übrigens einen Ausweg, eine Art Lösung an. „THE FUTURE IS FEMALE“ lautet sein letzter Satz. Wie schön. Dann darf sie aber nicht die May machen.

Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=27173

Trailer: www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=8K_Yz8_feIU

www.schauspielhaus.at

  1. 11. 2017

Schauspielhaus Wien: Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach im Gespräch

November 8, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Vom Erben, Schulden erben und von der Erbschuld

Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck in einem Bühnenbild von Stephan Weber. Bild: Oliver Matthias Kratochwill

Morgen wird am Schauspielhaus Wien Thomas Köcks neuer Text „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ uraufgeführt. Köck, einer der derzeit erfolgreichsten jungen Gegenwartsdramatiker, denkt in seiner „postheroischen Schuldenkantate“ über das individuelle und das kollektive Erbe nach. Erstmals führt der Autor, gemeinsam mit Elsa-Sophie Jach, auch Regie. Es treten auf: Sophia Löffler und ein Chor von Jugendlichen. Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach im Gespräch:

MM: „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ heißt Ihr neuester Text, der am Donnerstag am Schauspielhaus Wien zur Uraufführung gebracht wird. Keine Interpretation, sondern eine Inhaltsangabe: Worum geht’s? Um Ihre Themen von Weltfinanzkrise bis Weltklimakatastrophe …

Thomas Köck: Ein kurzes, knappes Ja. Es geht um Schulden, um historische Schulden, die beim Geld anfangen und bei der Natur aufhören, und die die Familien durchwandern. Es geht ums Erben dieser Schulden – als Erbe der vorangegangenen Generation.

MM: Das ist ein sehr katholischer Gedanke: die „Erbschuld“. Ist der auch dem Umstand geschuldet, dass Sie aus dem sehr katholischen Bundesland Oberösterreich stammen?

Köck: Wahrscheinlich liegt mir Schuld auch, es geht im Stück auch viel um Tote, wahrscheinlich ist das mein verdrängter Katholizismus, wie bei jedem oberösterreichischen Autor. (Er lacht.) Mein Grundgedanke beim Schreiben des Textes war, von der Generation aus zu denken, die jetzt gerade wachsen wird, die jetzt aus der Pubertät rauskommt, und welche Welt die erben wird. Man lebt ja jetzt schon in den Schulden, die die einmal kriegen werden, siehe Brexit und der Generationen-Gap, den es in den Wahlumfragen gab. Politik wird von komischen, alten, weißen Herren gemacht, und die Generation, die die Welt ausbaden muss, die die nun erfinden, wird nicht gefragt oder überstimmt, und hat keine Optionen. Sie muss diese Welt so oder so annehmen. In dem Sinne meinen wir Schuld.

MM: Erzählen Sie wieder durch verschiedene Linsen und auf verschiedenen Zeitebenen?

Köck: Wir bewegen uns von der Antike bis weit in die Zukunft, wo keine Menschen mehr auf dem Planeten sein werden, aber man wird dem sehr einfach folgen können.

Elsa-Sophie Jach: Es geht auch um die Möglichkeit eines utopischen anderen Zeitverständnisses, nämlich eines, das davon ausgeht, dass die Zeit physikalisch gesehen begehbar sein müsste wie ein Raum, um das Stück zu zitieren.

MM: Also Stephen Hawking?

Jach: Ja.

Köck: Aber wir gehen davon aus, dass die grammatikalischen Regeln unserer Sprache das nicht zulassen. Wir können mit unserer Sprache, die Gleichzeitigkeit, die die Physik annimmt, nicht beschreiben.

MM: Das heißt, wir müssten in jeder Bedeutung des Wortes eine neue Zeit erfinden.

Köck: Genau, ein Plusquampräsensfutur.20.

MM: Ihre Texte sind immer Welttheater. Es geht um alles. Wenn Sie schreiben, denken Sie sich Think big?

Köck: Noch ein Zitat aus dem Stück, das allerdings ein O-Ton ist. Nein, es ist witzigerweise immer so, dass ich mir am Anfang immer Stille im Raum vorstelle. Und darin Raum für die großen Fragen: Was heißt Zeit? Was heißt Geschichte? Was heißt Leben? Ich fange also immer mit der maximalen Ruhe an, und denke mir, du machst was Kleines, Minimales über Menschen, die sich unterhalten und so. Es passiert dann immer wieder, dass sich die Dinge verselbstständigen, ich setze mich aber auf keinen Fall hin und denke Think big. Ich sehe beim Schreiben plötzlich einen großen Sehnsuchtsraum vor mir, das, was Theater im Idealfall sein kann für zwei Stunden. Das ist das Schöne an einem Theaterraum, dass er mit einfachen Mitteln, mit Licht einfach alles sein kann. Ich ritze nur Buchstaben auf Papier, die dann am Theater große Fantasien und Utopien anschieben.

MM: Sie knüpfen für den Zuschauer girlandenartige Assoziationsketten. Sie wollen sich selber nicht interpretieren und erklären, aber wenn man Texte wie die Ihren schreibt, gibt man doch gleichsam automatisch eine Message mit?

Köck: Die Message ist nach verschiedenen Richtungen offen. Es gibt nicht eine klare, lesbare Deutung, die ich vorgebe. Ich versuche immer mit Regisseuren zu reden, die noch zu verwirren und anzustacheln und sie andere Ebenen einschieben zu lassen, als ich selbst erkenne. Die Interpretation meines Stoffs ist mir also sehr wichtig, aber sie soll nicht von mir kommen, sondern von den Menschen, die sich damit beschäftigen. Von der Regie bis zum Publikum.

MM: Sie nennen diesen Text nun eine Kantate. Folgen Sie dem auch formal – mit Rezitativ, Arie und Chorsatz?

Köck: Mittlerweile kann ich das bejahen.

Jach: Es gibt Arien- und Mehrstimmigkeit, und es wird Musik geben, auch Bach. Thomas Texte sind wie Sedimente und wir arbeiten uns von Schicht zu Schicht zu Schicht und schauen, wo sind die Ablagerungen. Wir waren während der Proben auch im Naturhistorischen Museum und im mumok in „Naturgeschichten. Spuren des Politischen“. Und haben da viel fürs Stück mitgenommen. Fragen wie, was ist Welt „geworden“ durch Kultur oder Wirtschaft und was ist „natürlich“. Das sind Dinge, die auch im Text vorkommen.

Köck: Denn der Mensch greift in die Natur und beschreibt sie …

MM: Und was er nicht beschreibt, existiert nicht?

Köck: Genau. Die Sprache macht die Dinge. Das ist ein Gedanke der Aufklärung.

MM: Sie führen mit Frau Jach gemeinsam Regie. Für Sie ist das das erste Mal, ein Wunsch, entstanden aus einer gewesenen Enttäuschung oder in der Hoffnung auf zukünftige Entwicklung?

Köck: Die Lust am Probieren, die treibt mich auch beim Schreiben an. Ich habe ja auch bei „Strotter“ mit Tomas Schweigen zusammengearbeitet, das interessiert mich am Theater: Zusammenzuarbeiten. Ich versuche Theater als Gesamtheit zu begreifen. Wobei wir nicht reine Regie gemacht haben, sondern mit dem Chor auch Basic Training, wie Körperhaltung und Stimmbildung. Wobei es sicherlich ein Unterschied ist, einen Klassiker zu inszenieren, mit Sekundärliteratur und der Suche nach neuen Textstellen, als einen eigenen Text, bei dem ich uns der größtmöglichen Freiheit und den größtmöglichen Wahnsinn hingeben möchte. Das ist eine Gratwanderung.

MM: Aber ist das nicht eine Schizophrenie? Sie sind ein Autor, der in seinen Texten nie Anweisungen, Erläuterungen gibt, Vorschläge macht, nun müssen Sie’s als Regisseur?

Köck: Ich habe mich verflucht dafür. Das war wirklich so das Ding, dass ich bei diesem Text erstmals angefangen habe, Regieanweisungen zu schreiben, um mir klarzuwerden, welchen Raum ich da öffne und betrete. Es war jedenfalls eine ganz schöne Arbeit.

MM: Wie geht der Autor Köck mit dem Regisseur Köck um? Wie stehen die Mutterinstinkte gegenüber dem Text zu seiner Entjungferung durch die Inszenierung?

Jach: Ich fand, dass er ziemlich hart mit seinem eigenen Text war. Auf eine gute Art und Weise. Wie viel wir gestrichen haben, umgestellt, Szenen rausgenommen, Handlungsstränge rausgenommen, das muss man erst einmal aushalten. Thomas hat auf den Proben auch noch viel entwickelt und war an sehr vielen Stellen bereit, umzuschmeißen, neuzudenken. Eigentlich ist er radikaler mit dem Text umgegangen, als man am Anfang gedacht hätte.

MM: Es ist also von Vorteil, wenn man vom Schreibtisch wegkommt, und direkt an der Materie arbeitet?

Köck: Yes and no. Es gibt Texte, die ich gerne für mich entwickle, denen ich gerne auf Papier Form gebe, „paradies fluten“ beispielsweise. Das würde ich nie inszenieren wollen, sondern den Text herführen und verdichten. Bei „paradies fluten“ ist der Text schon dicht, da kann man sich als Regie daran reiben, und überlegen und suchen und sich bedienen an den Bildern. Dieser Text aber ist offen und in gewisser Weise „unfertig“, da macht es Spaß, mit den Kids zu quatschen und gemeinsam noch daran zu arbeiten.

MM: Sie haben die „Kids“ nun schon angesprochen. Es gibt einen Chor von Jugendlichen. Wie haben Sie die gecastet?

Jach: Wir haben mehrere Aufrufe und Castings gemacht. Wir haben auf unterschiedlichsten Wegen gesucht, weil wir nicht nur Leute mit Theatererfahrung wollten, sondern auch welche, die von der Musik oder vom Tanz kommen oder noch nie auf einer Bühne standen. Unser Chor besteht jetzt aus Jugendlichen von 15 bis 19 Jahren, eine ziemlich coole Gruppe. Die sich von 15 auf 14 reduziert hat, weil eine schon am Max-Reinhardt-Seminar aufgenommen wurde. Die Probenzeit war sehr intensiv, die Kids mussten viel Zeit investieren, drei, vier Mal die Woche Probe während der Schulzeit. Wir haben auch viel über das Thema gesprochen, haben zu den ersten Proben Texte von Maurizio Lazzarato, einem linken italienischen Philosophen, mitgebracht, der „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ geschrieben hat, wahnsinnig kompliziert, und es war schön, wie wir uns da durchdiskutiert haben. Auch durch Julia Friedrichs „Wir Erben“, die sehr genau aufarbeitet, dass nun die größte wirtschaftliche Erbmasse der Geschichte ansteht, die eine Generation an die nächste weitergibt.

MM: Kam da Input? Von den Betroffenen?

Jach: Auf jeden Fall! Sehr viel von den Gedanken ist auch in den Text gekommen. Friedrichs These ist tatsächlich, dass wir uns von einer Leistungs- zu einer Erbengesellschaft weiterbewegen, dass der Gedanke „wenn wir uns anstrengen, werden wir’s schaffen und aufsteigen“ eine Illusion ist, und dass Dynastien das Sagen übernehmen werden.

MM: Sophia Löffler kommt für eine Rolle aus der Babypause zurück.

Jach: Und das freut mich sehr, weil wir uns schon vom Staatsschauspiel Dresden kennen, seit mehr als sieben Jahren also. Damals war ich noch Regieassistentin und sie Schauspielstudentin. Sie wird die Protagonistin zum Chor sein.

Köck: Sie spricht über ein antikes Erbe und über ein futuristisches Erbe.

Jach: Wir haben Aspekte einer reichen Erbin in New York, und von der Anlage her spielt auch die antike Seherin Kassandra eine große Rolle, die unter einem Fluch steht, der ja in der Antike meist mehrere Generationen trifft und damit auch ein Erbe ist. Sie sieht, weil sie die Zukunft sieht, schon das Erbe. Eigentlich starten wir mit einer klassisch-antiken Situation: Kassandra und der Chor vor dem Palast, daraus entwickelt sich alles. Und all diese „verfluchten“ Frauen in einer verkörpert Sophia. Sie ist wirklich toll! Es ist ein Abend, an dem sie sehr viel zu tun hat, und wir ihr gerne dabei zuschauen.

MM: Wie steht es um Ihrer beider „Erbe“?

Köck: Jetzt sind wir bei den Erb-Massen. Ich gucke immer gern in die Richtung: was wird gewesen sein. Man ahnt ja jetzt schon, was man mal kriegen wird – im globalen Zusammenhang natürlich. Eines, das man nicht nicht erben kann, ist die Sprache, in die man wirklich hineingeworfen wird. Und damit erbt man die gesamte Struktur des Denkens. Das ist etwas, das mich interessiert:  Welche Denkregeln gibt einem die grammatikalische Struktur der Sprache vor? Kann man sich darüber hinwegsetzen? Das ist ein „Erbe“, das mich beschäftigt.

MM: Man erbt also Muttersprache. Erbt man auch Vaterland?

Köck: Dem versuche ich zu entgehen.

Jach: Ich würde gerne mit einem Zitat aus dem Stück antworten: „Europa Blut und Boden, tausend Jahre Männerkult“. Das finde ich auf jeden Fall ein Erbe, mit dem man viel zu kämpfen hat, das aber Gottseidank eines ist, das man auch verändern kann. Das ist ein Erbe, das man ungern mitnimmt, mit dem man lernen muss, umzugehen. Die letzte Regieanweisung in Thomas‘ Stück ist zum Glück: The Future is female. Damit hört es auf.

Die Rezension „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, Klagt!)“: www.mottingers-meinung.at/?p=27228

Trailer: www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=8K_Yz8_feIU

www.schauspielhaus.at

8. 11. 2017

Armes Theater Wien: Kinder der Sonne

August 19, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Gorki ganz ohne Russische-Seele-Klischees

Krista Pauer, Florine Schnitzel, Simon Stockinger, Klaus Fischer, Alexandra-Yoana Alexandrova, Daniel Ruben Rüb Bild: © Vondru

Krista Pauer, Florine Schnitzel, Simon Stockinger, Klaus Fischer, Alexandra-Yoana Alexandrova, Daniel Ruben Rüb
Bild: © Vondru

Zu Beginn wechselt Jegor kaputte Lampen im Kronleuchter aus. Ganz nah kommt er mit der Leiter ans Publikum, berührt fast die Fußspitzen der Zuschauer in der ersten Reihe, eine Frau zuckt, weicht aus, doch da ist es schon passiert – sie ist gefesselt vom Geschehen. Seit zehn Jahren gehört dies zum Konzept des Armen Theater Wien: Schauorte öffnen, Distanz abschaffen, auf Augenhöhe agieren, so dass man mit dem nur um Armeslänge entfernten Schauspieler frei nach Jerzy Grotowski mitatmen, mitfühlen kann. Die Szene wird sich später am Abend wiederholen. Da haben die Intelligenzler den Proletarier verjagt und müssen die Mühsal mit den Glühbirnen auf sich nehmen. Protassow scheitert beim Versuch. Natürlich.

Das Arme Theater Wien zeigt zu seinem Jubiläum Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“. Gorki, Sturmvogel der russischen Revolution, den die Bekanntschaft mit dem eigenen Volk „bitter“ machte, erfand die Tragikomödie in einer Gefängniszelle der Peter-und-Pauls-Festung, wo er wegen seiner Sympathien für die Petersburger Blutsonntagsrevolte eingesperrt war. Das Stück ist ein Beziehungsreigen, zeigt mehr als eine Sozialstudie die Kluft zwischen den Klassen, zeigt die Tagalbträume eines fühligen Sextetts, zeigt des Autors Hoffnung, die Kreativen könnten gesellschaftspolitisch wegweisend sein, zeigt einen Albtraum namens nackte Existenz, der das Volk beutelt, zeigt, wie der Mensch nicht über seinen Tellerrand blicken kann. Gorki soll beim Schreiben, so zumindest überliefert, laut gelacht haben.

Ein Vergnügen, dass Regisseur Erhard Pauer da ansetzt. Seine Arbeit befreit die „Kinder der Sonne“ von allem, was – allzu oft schon so gesehen – tonnenschwer bedeutungsschwanger ist. Seine Inszenierung strahlt Leichtigkeit, besser gesagt: eine gewisse fatalistische Grandezza aus. In nicht ganz zwei Stunden erzählt er knackig eine hochaktuelle Geschichte, befreit von den üblichen Klischees des Russischen-Seele-Ballasts. Dabei verfehlt er nicht, die Standpunkte der Gorki’schen Charaktere und auch seinen eigenen künstlerischen klar zu machen. Diese „Kinder der Sonne“-Produktion ist in dieser Klarheit zweifellos eine der besten, die man in Wien bis dato sehen konnte. Großen Anteil am Gelingen hat die unter der Ägide von Krista Pauer erstellte Textfassung des Armen Theater Wien. Man hat die Worte zugeschliffen, bis ihre Spitzen sitzen und stechen. Man verwehrt sich den Begriff Pointe, um den wunderbaren Abend nicht im Schenkelklopfbiotop anzusiedeln, aber wie Protassow angesichts von Melanijas leidenschaftlicher Liebeserklärung emotional schwer überfordert stammelt „Ich kann Ihre Grundidee nicht verstehen“, das hat Pfeffer – die Schauspieler wissen Auftritte damit zu würzen.

Ein durch Bildung und Herkunft begünstigtes Herrentrio stellt die Blickwinkel ein: Kunst hat keinen Wert (Dimitrij Wagin). Es gibt auf der Welt nichts Wertloses (Pawel Protassow). Außer die Welt selbst (Boris Tschepurnoi). Biologe Protassow will an die Möglichkeit des Menschen glauben, sich von jeglichem Joch zu befreien und sich selbst schöpferisch zu vervollkommnen. Auch Gorki glaubte daran, weshalb er sich mit Lenin überwarf und ins Exil musste. Daniel Ruben Rüb gibt den philosophischen Professor als weltfremden Weltverbesserer, dem die Reagenzgläser näher sind als die Realität. Heiß nur der Tee, nach dem er ständig verlangt, er selbst lauwarm. Ganz im Gegensatz zum Wagin von Branimir Agovi, dessen Maler ganz Mannsbild ist, auf Betriebstemperatur wie ein Opernsänger vor der großen Arie. Auch optisch macht Agovi das her. Simon Stockingers Tierarzt Boris hält beiden die ehrlich erarbeitete Überzeugung entgegen, der Mensch sei widerlich. Stockinger gestaltet diesen Ablasser zynischer Wortspenden, diese letztlich tragische Figur als lyrischen, mit bubenhaftem Charme ausgestatteten Helden. So wie alle drei in ihrer Rollengestaltung bestechen, kann man über Letzteren, den Erhard-Pauer-Schüler, ohne Pauer seine Schauspieler wegempfehlen zu wollen, nur sagen: Bühnen, schaut euch nach ihm um!

Krista Pauer besticht als Jelena. Ihre elegische Erscheinung im Duett mit der charakteristisch-rauchigen Gänsehaut-Stimme ist Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Diese Jelena, von Wagin sexuell bestürmt, wie sie es sich von Ehemann Protassow wünschen würde, hat ihren Stoizismus nicht als Geburtsrecht mitbekommen, sondern arbeitet täglich hart daran, um dem stürmischen Meer ihrer Mitmenschen ein Fels in der Brandung zu sein. Alexandra-Yoana Alexandrova wirkt als Melanija angeknipst wie eine Shopping-Queen-Kandidatin kurz vor dem Laufsteg. Umso größer der Effekt, wenn die Kaufmannswitwe ihr Inneres nach außen offenbart, Alexandrova ihrer Figur den Firnis aus Couture und Goldkettchen abkratzt und die Sicht auf eine einsame Frau freigibt. Die von Florine Schnitzel mit mädchenhafter Glut gespielte Lisa ist ein Kummerkind, dessen sehr wahren Umsturzfantasien niemand Beachtung schenkt. Die Nervenkranke wird den verliebten Boris ins Unglück stürzen.

Den Kopfgebürtigen steht eine Körpergestalt gegenüber: Klaus Fischer muss als Jegor von Salontür zu Gartentor auch die meisten Kilometer machen. Sein Schlosser changiert zwischen Unikat und Unikum. Standesstolz gibt sich der Arbeiter als Herr im Haus, doch weiß der Proletarier anno 2015 längst, dass auch ihn die Historie hinter sich gelassen, dass er den Baumeistern der Macht nur als Stützmaterial beim Errichten ihrer kapitalen Türme gedient haben wird. Fischer erzählt das im Tonfall verzweifelter Wut und rundet die tadellose darstellerische Leistung aller damit ab.

Wenn Idee und Ausführung stimmen, kann man auch ohne den „Schnickschnack“ opulenter Bühnenbilder und Kostüme großartiges Theater machen. Das Arme Theater Wien beschenkt mit seiner puren Art zu spielen das Publikum reich. Dass eine Truppe wie diese ohne Subvention gelassen wird, optimiert vielleicht ihre Kreativität und den Idealismus, ist aber kulturpolitisch völlig unverständlich. Da muss sich Wiens Großer Kultur-Gossudar die Kritik gefallen lassen, dass er was versäumt hat. Noch ist Zeit!

Zu sehen bis 28. August im Bockkeller. Im November folgt im WUK „Nach dem Ende“ von Dennis Kelly.

www.armestheaterwien.at

Wien, 19. 8. 2015

Armes Theater Wien: Zehn-Jahres-Jubiläum

August 13, 2015 in Bühne, Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Premiere von Gorkis „Kinder der Sonne“

Bild: Vondru

Bild: Vondru

Das Arme Theater Wien ist immer ein Garant für erstklassige Produktionen. Egal, ob es zuletzt „Liebe und Zufall“ nach Marivaux www.mottingers-meinung.at/?p=10257 oder „Play Pirandello“ www.mottingers-meinung.at/?p=8719  war. Die neueste Arbeit der Theatermacher darf man sich deshalb keinesfalls entgehen lassen: Zum Zehn-Jahres-Jubiläum gibt die ambitionierte Truppe rund um Regisseur Erhard Pauer Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“. Gorki zeichnet das düsterkomische Bild einer Gesellschaft, die, von sozialen wie kulturellen Konflikten zerrissen, unfähig ist zur Schaffung einer besseren Welt. Im Haus des Wissenschaftlers Protassow und seiner Ehefrau Jelena gehen ein und aus: der Künstler Wagin, der in Jelena verliebt ist, die reiche Witwe Melanija, die Protassow liebt, sowie der Tierarzt Tschepurnoi, der schon seit Langem in Protassows Schwester Lisa verliebt ist. Dann gibt es noch den Hausmeister Jegor, der seinen Beruf versteht, aber trinkt und seine Frau schlägt. Und alle sind sie auf der Suche nach einem erfüllten, einem besseren, einem wertvollen Leben.

Es spielen Branimir Agovi, Alexandra-Yoana Alexandrova, Klaus Fischer, Krista Pauer, Daniel Ruben Rüb, Florine Schnitzel und Simon Stockinger. Zu sehen bis 28. August im Wiener Volksliedwerk, 1160 Wien, Gallitzinstraße 1.

Eine Empfehlung!

www.armestheaterwien.at

Wien, 13. 8. 2015