Volkstheater: Die Zehn Gebote

Dezember 16, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Gottes verlorene Seelen in ihren vorletzten Zuckungen

Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen: Jutta Schwarz, Nadine Quittner und Gábor Biedermann. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Dem Volkstheater beschert Stephan Kimmig mit „Die Zehn Gebote“ einen tadellosen Theaterabend. Gemeinsam mit Roland Koberg hat der Regisseur Krzysztof Kieślowskis zehnteiligen Filmzyklus „Dekalog“ für die Bühne bearbeitet, mit einer Prise mehr schwarzen Humors gewürzt, als er dem polnischen Filmemacher eigen war, und die Übung gilt als gelungen anzusehen. Im ersten Teil zwar noch ein bisschen träge, ist die Verschränkung der Szenen nach der Pause ganz fabelhaft.

Dazu agiert das achtköpfige Ensemble in mehr als 30 Rollen auf höchstem Niveau. 1988/89 hat Kieślowski, der später unter anderem mit der Drei-Farben-Trilogie internationalen Ruhm erlangte, sein Meisterwerk für das polnische Fernsehen produziert. Keine klassische Fernsehserie war‘s geworden, sondern zehn an die Bibel angelehnte Episoden, die das Leben in einer tristen Warschauer Neubausiedlung ausstellen. Vor allem aber freilich Liebe, Glaube, Eifersucht, Tod und Verbrechen.

Kimmig hält sich nicht an die Reihenfolge des Tanach. Er erzählt erst von Ewa und Janusz, die eine Affäre haben und ausgerechnet am Heiligen Abend Ewas verschwundenen Mann suchen müssen, in der Ahnung, dass er sich etwas angetan hat (Du sollst den Feiertag heiligen). Dann erfährt Anka, dass der Mann, den sie dafür hielt, nicht ihr leiblicher Vater ist, und versteht, warum sie ihm mehr Gefühle entgegenbringt, als schicklich ist (Du sollst Vater und Mutter ehren). Dorota macht von der chefärztlichen Diagnose, ob ihr krebskranker Mann sterben wird oder nicht, abhängig, ob sie das Kind ihres Geliebten abtreiben wird (Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen). Majka, die als Teenager schwanger wurde, entführt ihr Kind, das ihre Mutter aus Scham und Besitzgier als ihr eigenes ausgegeben hat (Du sollst nicht stehlen). Rechtsanwalt Piotr muss einen Mörder verteidigen, der dennoch hingerichtet werden wird (Du sollst nicht töten).

Du sollst nicht ehebrechen: Anja Herden und Peter Fasching … Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

… und mit Jan Thümer in Dekalog sechs. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Später steigern sich zwei Brüder so sehr in den Philatelie-Fanatismus ihres verstorbenen Vaters, dass einer für eine Briefmarke sogar eine Niere gibt (Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus). Der alleinerziehende Vater und Computernarr Krzysztof muss seinem Sohn erklären, was es mit dem Tod auf sich hat (Du sollst keine Götter haben neben mir). Roman erfährt, dass seine Impotenz unheilbar ist, und will seine Frau freigeben, doch die hat längst einen Geliebten (Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib). Spanner Tomek beobachtet Magda bei ihren sexuellen Erlebnissen (Du sollst nicht ehebrechen). Und schließlich begegnet eine Holocaust-Überlebende der Frau, die ihr einst die Hilfe verweigert hat (Du sollst nicht falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten).

Kimmig lässt die Episoden ineinanderfließen. Zwei, manchmal drei von ihnen laufen wie gleichzeitig ab und offenbaren dabei ihre Doppelbödigkeit. Im Hintergrund die Lastwagenfahrerkabine, die man auch aus den Filmen kennt (Bühne: Oliver Helf), und auch die allegorische Figur, der Engel, in den Filmen war es der Schauspieler Artur Barciś, ist mit Jutta Schwarz allzeit auf der Bühne präsent. Kimmigs Arbeit ist sehr körperlich, er setzt auf Elemente aus dem Bewegungs- und Tanztheater, als lägen Gottes verlorene Seelen in ihren vorletzten Zuckungen. „Original-80er-Plattenbau“ sind die Kostüme und die Perücken von Anja Rabes.

So angetan zeigen Gábor Biedermann, Peter Fasching, Anja Herden, Lukas Holzhausen, Nadine Quittner, Seyneb Saleh und Jan Thümer Schauspielkunst vom Feinsten. Vor allem Volkstheater-Neuzugang Fasching versteht es, sich in Kimmigs Körperkonzept perfekt einzufügen. Es wird sich verrenkt und gereckt, jede Geste ein emotionaler Ausbruch von etwas Unausgesprochenem, des Unaussprechlichen auch, jede Gebärde ein Zeichen von von Umständen in die Enge getriebenen Menschen. Eine aufgeregte Inszenierung sind „Die Zehn Gebote“ zweifellos, eine ohne Ruhepole, eine durchchoreografierte, dennoch nie gekünstelte, was die Qualität der Darstellung unter Beweis stellt. Es wird sich verletzt und verziehen, und wie’s schon so ist, wenig geht hier gut aus, eine Geschichte sogar tragisch.

Du sollst Vater und Mutter ehren: Seyneb Saleh und Lukas Holzhausen. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Zwei Episoden stechen hervor: Anja Herden, Peter Fasching und Jan Thümer in Dekalog sechs, da kann das Publikum kurz befreit lachen, wenn sie ihren Stalker aufs Glatteis führt, bis er mit im Wortsinn heruntergelassener Hose flüchten muss. Und Dekalog acht, Nadine Quittner als Holocaust-Überlebende, die auf Seyneb Saleh trifft, die der Jüdin damals den Unterschlupf als „getauftes Kind“ nicht gewährte.

Dies, weil sie glaubte, die Menschen, die die Sache eingefädelt hatten, wären von der Gestapo, das Ganze eine Falle. Mit ihrer Verfehlung konfrontiert sagt diese Zofia den Satz, der als Leitmotiv über dem Abend steht: „Eine Situation, die uns zum Handeln zwingt, weckt entweder die Bosheit oder die Güte in uns auf.“

Peter Fasching im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=27674

www.volkstheater.at

  1. 12. 2017

Neu am Volkstheater: Peter Fasching

Dezember 14, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Er spielt in „Die Zehn Gebote“ nach Krzysztof Kieślowski

Peter Fasching in „Die Zehn Gebote“. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Seit Beginn der Spielzeit 2017/18 ist Peter Fasching (mehr: www.volkstheater.at/person/peter-fasching/) Ensemblemitglied des Volkstheaters. Nach der aufsehenerregenden Aufführung von „Extremophil“ im Volx/Margareten hat er am Freitag mit „Die Zehn Gebote“ in der Regie von Stephan Kimmig die nächste Premiere. Ein Gespräch über Mörder, Moral, Musik – und Josef Hader als Einstiegsdroge:

MM: „Die Zehn Gebote“ sind nicht aus der Bibel …

Peter Fasching: Genau. Es ist nach einem Filmzyklus namens „Dekalog“ von Krzysztof Kieślowski. Wir nehmen die Geschichten, die Kieślowski verfilmt hat, nun für die Bühne und adaptieren sie. Gezeigt werden Menschen, die vor großen Problemen stehen, oder vor großen Fragen, die an die Zehn Gebote gebunden sind.

MM: Ihre Figur beispielsweise?

Fasching: Ich spiele fünf, davon zwei große Rollen. Eine behandelt zum Beispiel das Gebot „Du sollst nicht töten“, da wird von einem Rechtsanwalt erzählt, der einen Mörder verteidigen muss, der einen Taxifahrer bestialisch umgebracht hat, und jetzt zum Tode verurteilt wird. Also das Gebot trifft immer wieder zu. Bei uns lernt man erst den Rechtsanwalt kennen, der diese Geschichte erzählt, danach komme ich als Mörder. Kurz bevor ich erhängt werden soll. Die zweite ist ein junger Mann, der eine Frau durchs Fenster beobachtet, ganz obsessiv, heute würde man sagen, ein Stalker. Es hat jeder viel zu tun, es gibt viele Umzüge und sehr viele Perücken.

MM: Was soll uns am Kosmos Kieślowski heute interessieren?

Fasching: Die Universalität der Themen. Wir stellen die Frage: Wie leben wir zusammen? Was tun wir uns gegenseitig an? Wollen oder können wir nicht anders? Ganz eigenartig ist, wie viel sich die Figuren gegenseitig verzeihen. Es gibt wahnsinnige Verletzungen, aber auch sehr viel Vergebung. Das finde ich interessant zu spielen in einer Welt, in der sich gerade gegenseitig sehr wenig verziehen wird.

MM: Stephan Kimmig ist das, was man einen Starregisseur nennt. Wie ist arbeiten mit ihm?

Fasching: Ganz toll. Manchmal bricht schon Melancholie aus, weil wir wissen, am Freitag ist die Probenzeit vorbei. Man merkt, dass er schon sehr lange dabei ist, viel Erfahrung hat. Er schaut ganz sensibel. Eine Schauspielerin hat mal gesagt, sie wünsche sich von einem Regisseur „Luft unter die Flügel“, und das gibt er einem.

MM: In einem Interview sagt Kimmig, die Inszenierung würde von „expressiver Körperlichkeit“, mit Tanz und Musik sein. Das heißt, Sie sind gefordert?

Fasching: Wir sind sehr gefordert. Es gibt immer wieder Momente, wo die Sprache nicht mehr reicht, dann gibt es sehr expressive körperliche Einlagen, die einen als Spieler außer Atem bringen. Nach den drei Stunden ist man ziemlich durch.

MM: Seit Anna Badora das Volkstheater leitet, sind Aufführungen immer wieder nahe am Tanz. Etwas, das Ihnen entgegenkommt?

Fasching: Ich genieße das sehr. Ich habe in der Schauspielschule sehr gerne körperlich gespielt, in Bremen hat mir das sehr gefehlt. Ich habe manchmal versucht, es einzubauen, aber das kam nicht so gut an. Hier war „Extremophil“ meine erste Premiere und wir hatten gleich eine richtige Choreografie. In den „Zehn Geboten“ gibt es wiederum ganz freie Tanzgeschichten, ich finde das toll. Endlich wieder richtig sich austoben!

Mit Anja Herden in „Die Zehn Gebote“. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Erste Premiere in Wien: In „Extremophil“. Bild: © Robert Polster / Volkstheater

MM: Wie ist denn Ihre Leidenschaft zum Theater entfacht?

Fasching: Ich komme aus Braunau am Inn, und was sieht man dort als Theater? Die großen österreichischen Kabarettisten. Das hat mit 15, 16 angefangen, da habe ich meine ersten Erinnerungen an Abende mit Josef Hader. Der ja an der Grenze zwischen Theater und Kabarett sich bewegt, das hat mich total fasziniert. Wir haben dann Schultheater gespielt, auch in Linz eine Produktion gemacht – das war der Moment! „Andorra“ von Max Frisch, jeden Tag, eine Woche lang. Danach war ich so müde, wie noch nie, aber gleichzeitig dachte ich mir, am Montag könnt’s wieder losgehen. Da dachte ich erstmals: Vielleicht ist das ein Beruf?

MM: Hat Ihre Familie das auch so gesehen?

Fasching: (Er lacht.) Die waren eigentlich ganz cool. Viel später hat mir meine Mutter erzählt, dass sie dachte, das wird eh nix und dann kann er was Richtiges machen. Aber da ich gleich an der Otto-Falckenberg-Schule bestanden habe, war ihnen der Wind aus den Segeln genommen und alle Zweifel beseitigt.

MM: Sie haben den O.E. Hasse-Preis erhalten.

Fasching: Ja, das war für eine Arbeit mit Christiane Pohle, eine performative Inszenierung. Die Jury hat die Inszenierung gesehen, und beschlossen, dass ich den Preis kriegen soll.

MM: Dann Bremen, das Volkstheater ist „erst“ die zweite Station.

Fasching: Ja, das waren aber auch die einzigen Angebote – und natürlich zwei, die man sofort annimmt. Der Weg war vorgegeben. Ich habe Roland Koberg kennengelernt, als wir bei den Festwochen vor zwei Jahren den „Schwejk“ gespielt haben, seither verfolgte ich das Volkstheater, und war immer wieder hier, um mir die Inszenierungen anzusehen. „Lost and Found“ war das erste Stück, das ich hier gesehen habe – und es war einfach nur Wow!

MM: Was treibt Sie als Künstler an?

Fasching: Für mich ist wichtig, was ein Haus sich auf die Fahnen schreibt. Da geht es gar nicht darum, ob das ein das ein prominentes Haus oder eine kleine Bühne ist. Ich finde es toll, dass das Volkstheater ein Anliegen hat, und das auch rüberbringen kann. Hier sieht man, dass sich Humor und Inhalt nicht ausschließen, oder Zugänglichkeit und Inhalt. Das andere ist, wie gut dieses Ensemble ist. Das war in den ersten Wochen ganz eigenartig, weil ich als Fan plötzlich Teil davon war. Das Volkstheater macht Theater für die Stadt, hört hin, was gerade die Fragen und Probleme sind. Es gilt nicht nur, schöne Kunst zu machen, man muss auch eine Haltung haben und die mit Theaterstücken vertreten.

MM: Kieślowski hat ja in Interviews immer beteuert, er sei kein Moralist. Finden Sie, man darf in Zeiten wie diesen ruhig ein Moralist sein? Hat man ein Recht darauf?

Fasching: Man sollte auf jeden Fall Fragen aufwerfen, oder eine Aufmerksamkeit mal auf eine Sache lenken, die nicht so im allgemeinen Bewusstsein ist. Man kann extrem tagespolitisch sein, wie bei der Nestroy-Preisverleihung, oder wie in den „Zehn Geboten“ einen philosophischen Überbau zum Leben an sich bieten.

MM: Was machen Sie, wenn Sie nicht Theater spielen?

Fasching: Musik. Tatsächlich interessiere ich mich für Theatermusik. Damit habe ich schon in Bremen angefangen, ich habe mich an ein paar musikalische Leiter rangeschmissen, dann selber komponiert für ein Stück. Das ist ein schöner Ausgleich. Da kann man sich an einem freien Wochenende in Texten, Liedern und auch Computerprogrammen verlieren.

Mit Birgit Stöger in „Extremophil“. Bild: © Robert Polster / Volkstheater

MM: Da könnten Sie ja eigentlich mal in der Roten Bar auftreten.

Fasching: Wir hatten neulich eine erste Veranstaltung von „Spiel mir das Lied“, da durfte ich zwei Weihnachtslieder interpretieren. Das schätze ich auch als Qualität am Volkstheater, das man so vielseitig sein kann, und das man als das, was man ist und kann, auch gesehen und geschätzt wird.

 

MM: Nach „Die Zehn Gebote“ sieht man Sie in einem Shakespeare.

Fasching: Im März kommt „Viel Lärm um nichts“, Sebastian Schug inszeniert, und ich spiele den Borachio, den Intriganten. Das wird meine erste komödiantische Rolle, zum allerersten Mal Komödienfach. Ich freue mich darauf, weil ich das gerne mag,und noch nie machen durfte. Vielleicht schließt sich da der Kreis zur Einstiegsdroge Josef Hader.

www.volkstheater.at

14. 12. 2017

Stephan Kimmigs „Kinder der Sonne“

März 14, 2013 in Tipps

Gastspiel am Burgtheater

Mit einer “ Sternstunde nicht allein des Berliner Theaters“ habe man es hier zu tun. Nie habe Stephan Kimmig „Besseres, in sich Stimmigeres gemacht“, schrieb die Welt. Der Regisseur führe uns „in seiner brillanten Inszenierung“ die Folge des „Weltabhandengekommenseins“ bei Gorki „mit größtmöglicher Ironie“ vor, jubelte die Frankfurter Rundschau. Und über die Darsteller berichtet die Berliner Zeitung: „Sie sind allesamt hinreißend!“ Ein Schauspielhochglanzabend.

 

Kinder der Sonne

Ulrich Matthes (Pawel Fjodorowitsch Protassow), Nina Hoss (Jelena Nikolajewna, seine Frau)
Bild: Arno Declair
Eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin

Kimmigs vielgelobte Inszenierung – er bekam dafür den deutschen Theaterpreis „Faust“ in der Kategorie Beste Regie – von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ ist am 16. und 17. März  als Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin am Burgtheater zu sehen. Inhalt: Im Haus des Wissenschaftlers Protassow und seiner Ehefrau Jelena gehen ein und aus: der Künstler Wagin, der in Jelena verliebt ist, die reiche Witwe Melanija, die ihrerseits Protassow liebt, sowie der Tierarzt Tschepurnoj, der seit langem Protassows Schwester Lisa zugetan ist. Schließlich der Hausmeister Jegor, der seinen Beruf versteht, aber trinkt und seine Frau schlägt. Alle sind auf der Suche nach einem erfüllten, einem besseren, einem wertvollen Leben. Wie muss man arbeiten, wie miteinander leben, um so etwas wie Sinn zu verspüren? Sie verstehen einander nicht – neurotisch, unglücklich, egoistisch und zutiefst komisch hat sich jeder in seinem Kokon eingerichtet. Draußen auf der Straße, „unten“, findet eine wirkliche Revolte nicht statt. Eine Utopie ist nicht in Sicht.

Maxim Gorki schrieb ‚Kinder der Sonne‘ 1905 in der Peter-Paul-Festung, wo er wegen seiner Teilnahme an Protesten gegen die Militäraktion des so genannten „Blutsonntags“ in Arrest gehalten wurde. Die Schüsse auf die Demonstration von Arbeitern leiteten die erste russische Revolution ein. In seinem Stück nimmt Gorki die Cholera-Unruhen von 1890 zum Vorwand und erzählt von der Vorausahnung einer politischen wie gesellschaftlichen Katastrophe. Er zeichnet das düsterkomische Bild einer Gesellschaft, die, von sozialen wie kulturellen Konflikten zerrissen, unfähig ist zur Schaffung einer besseren Welt.

Es spielen u. a. Ulrich Matthes, Nina Hoss, Sven Lehmann und Alexander Khuon.

www.burgtheater.at

Von Michaela Mottinger

Wien, 14. 3. 2013

Interview mit Elisabeth Orth und Daniel Strässer

Februar 8, 2013 in Bühne

29.04.2012, von Michaela Mottinger, http://kurier.at/autor/mag-michaela-mottinger/8.527/6

„Wastwater“: Jeder hat Leichen im Keller

Am Sonntag hat Simon Stephens‘ Bühnentriptychon „Wastwater“ Premiere. Elisabeth Orth und Daniel Sträßer im Gespräch.

Wastwater, das ist der tiefste See in England. Still, unheimlich, nie von Tageslicht erhellt. Simon Stephens’ Großvater wusste Horrorgeschichten darüber. Leichen sollen da unten liegen, die nicht geborgen werden können. Manche von freiwillig, manche von unfreiwillig ins Wasser gegangenen. Der britische Erfolgsdramatiker nannte ein Stück danach – obwohl es in und um den Flughafen Heathrow angesiedelt ist. „Wastwater“ ist ein Triptychon der Angst.

Drei Paare treffen in drei Episoden aufeinander. In der ersten verabschiedet eine Ziehmutter ihren Pflegesohn, der auf Nimmerwiedersehen wegfliegt. In der zweiten entgleist ein Blind Date im Flughafenhotel zum Sado-Maso-Spiel. In der dritten warten Käufer und Verkäuferin in einer Lagerhalle auf eine Lieferung von den Philippinen. Ein Kind.

Stephan Kimmig inszeniert am Akademietheater die österreichische Erstaufführung mit Andrea Clausen und Peter Knaack, Mavie Hörbiger und Tilo Nest. Szene eins spielen Grande Dame Elisabeth Orth und Daniel Sträßer, der 25-Jährige, den Burg-Chef Matthias Hartmann direkt von der Schauspielschule weg zum neuen „Romeo“ machte.

KURIER: Herr Sträßer, ist Harry eine Figur, wie Sie sie mögen?

Daniel Sträßer: Eine tolle Figur. Bei der ersten Lektüre des Stücks – in einer schlaflosen Vollmondnacht – ist mir gleich diese besondere Stimmung aufgefallen. Harry war mir sympathisch, aber auch unheimlich; ich habe viel an dem zerbrechlichen Charakter nicht verstanden. Je mehr ich mich mit der Rolle beschäftige, umso tiefer wird sie. Die Metapher Wastwater ist ja die Aufgabe an den Schauspieler: Diesen See zu spielen. Harry – Harry-See.

Im Vergleich zu den folgenden Episoden könnte man glauben, Ihre ist die harmlose. Dem ist natürlich nicht so. Gibt es auch in dieser Szene eine sexuelle Komponente?

Elisabeth Orth: Die gibt es wahrscheinlich immer von Pflegemüttern zu Pflegesöhnen. Harmlos würde ich nicht zu Frieda sagen. Ohne Harm: Ja. Harry ist ihr letztes Pflegekind, das, um das sie die größte Sorge hat. Als sie diesen besonders schwierigen, der Polizei bekannten Jungen aufgenommen hat, muss mehr als Liebe aufgeflammt sein. Etwas in der Art von: Der könnte mich am meisten brauchen. Was für ihr Ego gut war. Das kommt zwischen den Zeilen durch.

Das Stück spielt nicht umsonst in Flughafennähe. Ein Transitort, den man durcheilt, ohne zu kommunizieren. Ist es das, was die Figuren im Stück tun: Sprechen, aber nicht miteinander reden?

Orth: Ja, und ich hoffe, als Zuschauer merkt man, wie schwer es ist. Obwohl die Situation einfach ist: Wir verabschieden uns, er geht.

Sträßer: Das ist Harrys Thema: Sein Trieb. Er hat bei Frieda ein Zuhause gefunden, aber das ersetzt nicht, was er verloren hat: Sein Elternhaus, seine Wurzeln. Er ist auf der Flucht, er muss immer weg. Er sucht – die Frage ist nur was. Ich glaube, er wird ewig rastlos bleiben.

Im Stück hat jeder eine Leiche im Keller und wenn`s er selber ist. Der Text ist verrätselt und trotzdem klar. Wie spielt man Doppelbödigkeit?

Sträßer: Ja, da ist ein großer, bewegter Untergrund und darüber ruhige Oberfläche …

Orth:… auf der man nicht sicher steht. Man ist ständig am Kippen. Man hält sich an den Dialog und weiß, in der übernächsten Zeile wird das Gesagte nicht mehr stimmen. Das bedingt beim Spielen, dass man sehr in den anderen hineinhört.

Sträßer: Es ist eine Herausforderung, weil man selber so viel mehr über die Figur weiß, als man dem Publikum sagt. Denn natürlich hängen die Episoden zusammen.

Und zwar durch Ihre Figur. Sie sind gut beschäftigt, spielen derzeit auch „Romeo und Julia“ und „Endstation Sehnsucht“, werden von Publikum und Presse gelobt. Ist es so, wie Sie sich`s vorgestellt haben?

Sträßer: Ich war nicht größenwahnsinnig genug, mir vorzustellen, dass ich mal am Burgtheater spiele. Für mich ist mit diesen großen Kollegen spielen zu dürfen einfach enorm gut. Das macht mich besser, das bringt mich weiter. Ich bin hier ganz toll aufgenommen worden.

Sie sind nun unter den Herren im Ensemble der jüngste. Der Dramaturg dieser Produktion, Klaus Missbach, ist Ihr „Entdecker“.

Sträßer: Er war beim Theatertreffen der deutschsprachigen Schauspielschulen 2011 in der Jury. Und zwei Tage später rief das Burgtheater an. Am Abend vor dem Vorsprechen war ich das erste Mal im Haus, am dritten Rang. Dabei wollte ich ursprünglich Opernsänger werden, ich habe auch klassisch Fagott gelernt und in Saarbrücken Musikwissenschaften studiert. Dann bin ich zum Glück in die Schauspielklasse am Salzburger Mozarteum gewechselt …

Frau Orth, Sie haben einige Kollegen auf ihrem Weg begleitet. Wie ist die Jugend?

Orth: Die Jugend ist jung. Und das hat viele Facetten. Es gibt fleißige, es gibt faule, arrogante. Manche mauern, lehnen ab, viele sind offen. Es kann wahnsinnig viel verdorben werden, wenn die Begleitung nicht aufpasst, wenn sie sich selber zu wichtig nimmt. Es gehört eine gewisse Form von Hingabe dazu, wenn man mit jungen Leuten spielt. Wer’s nimmt, wird gut. Daniel nimmt’s.

Sträßer: Ja. Wir sind ein gutes Doppel, glaube ich.

Die üblichen Verdächtigen

Februar 8, 2013 in Bühne

Ein Psychothriller: Mavie Hörbiger macht mit Tilo Nest ernst.
30.04.2012, von Michaela Mottinger, http://kurier.at/autor/mag-michaela-mottinger/8.527/5

„Wastwater“: Triptychon der Angst

Stephan Kimmig zeigt am Akademietheater „Wastwater“ von Simon Stephens in Luxusbesetzung. Und die zeigt natürlich, was sie kann.

Schnörkellos, karg, pur. Es ist ein morastiger, devastierter Unort, den Regisseur Stephan Kimmig und Bühnenbildnerin Anne Ehrlich für ihre Version von Simon Stephens’ Bühnentriptychon „Wastwater“ erfunden haben. Eine nackte Bühne, Säulen, Wasserlacken, ein Mal zwei Stühle, ein Mal ein Campingtisch. Aus.

Wer noch Katie Mitchells Londoner Uraufführungshyperrealismus (die Produktion war im Vorjahr bei den Wiener Festwochen zu Gast) mit schmutzigem Gartenhäuschen und putzigem Hotelzimmer vor Augen hat, begreift schnell: Kimmig am Akademietheater wird andere Bilder im Kopf zum Laufen bringen.

Drei Geschichten von Angst, Schuldigsein und Schuldigwerden

Er inszeniert das „Nicht“. Das Nicht-miteinander-reden-Können. Das Einander-nicht-berühren-Können. Das Bitte-nicht-in-Tränen-Ausbrechen. Die Schauspieler stehen im Vordergrund. Und die Geschichten. Drei erzählt Stephens.
Von Angst und Abschied, Schuldigsein und Schuldigwerden. So mysteriös wie Wastwater, der tiefste und düsterste See Englands, so rästelhaft ist der nach ihm benannte, in und um den Flughafen Heathrow angesiedelte Text. Die Szenen hängen zusammen. Den roten Faden hält der Autor in Händen. Er macht klar, dass nichts etwas bedeuten muss, dass alles etwas bedeuten kann, ganz wie er’s will. Kimmig unterwirft sich dem Diktat. Rührt die Leerstellen nicht an. Geheimnis muss Geheimnis bleiben. Die Bilder im Kopf rotieren…

Herausragende Schauspielkunst

Burg-Grande-Dame Elisabeth Orth und Neuzugang Daniel Sträßer eröffnen den Reigen herausragender Schauspielkunst. Als Ziehmutter Frieda und ihr in die kanadische Fremde ziehender Pflegesohn Harry zeigen sie, wie weh Liebe tut.
Oder Abhängigkeit. Oder Hilflosigkeit. Sie versteckt ihren Abschiedsschmerz hinter trockenem Humor und Brummeligkeit; er ist längst ein Glucken-Flüchtling. Ein getriebener, hypernervöser, Nägel und Pullover zerbeißender. Daniel Sträßer, ein James Dean von Wien.

Aus Szene zwei – 2011 der Schwachpunkt in Mitchells Inszenierung – machen Andrea Clausen und Peter Knaack ein Kabinett(stück) des Grauens. Die Clausen ist sehr schön spooky, wenn sich beim Blind Date in ihren Augen langsam der Wahnsinn Bahn bricht. Polizistin Lisa, die ihre Drogen- und Pornovergangenheit schildert. Wozu „Mark“ Knaack irritiert und erstaunt Erdnüsse aus der Minibar futtert.
Im Wastwater, soweit eine Horrorstory von Stephens’ Großvater, sollen unter der stillen Oberfläche Tote am Grund liegen. Im Stück hat jeder eine Leiche im Keller – und wenn er’s selber ist.

Psychothriller des Abends ist Episode drei mit Mavie Hörbiger und Tilo Nest. Sie – ein ehemaliger Zögling Friedas – verkauft ihm ein Kind von den Philippinen. Eine illegale Adoption oder ein Fall von Pädophilie? Hörbiger, die als Gewalttäterin in radikalem Tempo ihre Stimmungen wechselt, ist absolut sehenswert. Dazu Nest als jämmerlicher Feigling.
Da gibt es keine „Distanz zur Rolle“ und kein artifizielles Zuviel. Nest ist. Gut.