Landestheater NÖ streamt – Name: Sophie Scholl
April 10, 2021 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Die lebenswichtige Loyalität zu sich selbst

Bettina Kerl als Sophie Scholl. Bild: © Alexi Pelekanos
„Ich heiße Sophie Scholl. Ja, und? Das ist ein Zufall, weiter nichts“, mit diesen Worten beginnt Bettina Kerl ihr Soliloquium. Scholl, dieser Name, er steht für Zivilcourage und Mut zum zivilen Ungehorsam, für eine Beherztheit und ein Heldinnen- tum, die Sophie in sich zu finden hofft. Die Jus-Studentin nämlich, auf deren Schultern die Bürde der Namens- gleichheit mit der Ikone des Widerstands schwer lastet.
„Name: Sophie Scholl“ heißt folgerichtig das Stück von Rike Reiniger, in dem die Berliner Autorin die beiden jungen Frauen einander gegenüberstellt. Vom Landestheater Niederösterreich als Klassenzimmertheater angedacht, ist die Inszenierung von Jana Vetten nun bis Sonntagabend auf www.landestheater.net als kostenloser Online-Stream zu sehen. Die Produktion wurde eigens für die #wirkommenwieder-Reihe neu verfilmt, die Protagonistin ist nach „Gandhi – Der schmale Grat“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=44780) einmal mehr Ensemblemitglied Bettina Kerl – und das Ganze von der Theaterpädagogik um eine Materialmappe ergänzt.
Die Brillanz des Textes liegt naturgemäß in der Doppelfigur. Da ist die eine, die heute vor Gericht aussagen soll, lange weiß man nicht was und warum, die auf den Aufruf in den Zeugenstand wartet, und sich derweil allerhand Gedanken macht – bis dahin, auf ihrem Recht zu schweigen zu beharren. Eine Sophie Scholl, ausgerechnet! So führt das Grübeln zur anderen, zu deren letzten Tagen im Februar 1943. Eben haben Bruder Hans und Mitstreiter Alex Schmorell das sechste Flugblatt abgezogen, nun soll die Schrift, da bei Postzustellung die Briefe [und wie wunderbar wär’s gewesen, hätte man das Wort „eintüten“ gegen „kuvertieren“ ersetzt] meist bei der Gestapo abgegeben wurden, per Hand verteilt werden.
Rike Reiniger verwebt die Parallelführung der beiden Sophies klug und leichthändig, und in der Regie von Jana Vetten spielt Bettina Kerl wie stets unprätentiös und klar. Eindringlich, eindrücklich ist ihre Performance sowieso, und Kerl bräuchte auch nicht auf die darstellerische Tube drücken, denn die Sophie-Scholl-Sätze schneiden tief ins staatsbürgerliche Schuldbewusstsein. Wenn sie fragt: „Warum duldet ihr, dass diese Gewalthaber Schritt für Schritt, offen und im Verborgenen, eine Domäne eures Rechts nach der anderen rauben?“ Wenn sie davor warnt, dass „Selbstdenken und Selbstwerten im Nebel hohler Phrasen erstickt werden“. Wenn sie von der „sittlichen Pflicht“ spricht gegen das System aufzubegehren.
„Freiheit!“, sagt Bettina Kerl, hätten Hans, Alex und Willi Graf mit Teerfarbe an die Wände geschrieben, sie selber sprayt. Der Balkon, das Stiegenhaus, die Gasse vorm Theater, alles ist ihr Spielort, in dem sie die Pamphlete der Weißen Rose auslegt. Welch ein Bild vom Theatersaal, ein Sinnbild – die leeren Sitze im Parkett, körperlich abwesend, abtransportiert die einen, geistig und moralisch nicht vorhanden die anderen, und bemerkenswert, was Kerl alles aus dem Peter-Brook‘schen leeren Raum der Theaterwerkstatt rausholt.
Hausmeister Jakob Schmid schließlich hält die Geschwister Scholl nach ihrer Uni-Aktion fest. Gestapo-Haft wegen Hochverrats, Kriminalobersekretär Robert Mohr will mit Sophie um ihr Leben schachern. „Ich bereue nicht“, sagt sie im Verhör, und verlangt nur die Hinrichtungsart zu wissen. Ein Schauprozess am Volksgerichtshof unter Richter Roland Freisler. Aufrecht, sagt Sophie, sei Sophie zur Guillotine geschritten, und: „Ich will, dass mein Name die Geschichte anders erzählt, anspruchsloser, heutiger.“

Bild: © Alexi Pelekanos

Bild: © Alexi Pelekanos

Bild: © Alexi Pelekanos

Bild: © Alexi Pelekanos
Gesagt, getan. Bettina Kerl bringt einem die Antifa-Kämpferin näher, indem sie sie aus der Walhalla [Gedenkstätte, in der ihre Büste steht, Anm.] holt. Mehr und mehr wird der Monolog zur Zwiesprache, mehr und mehr überlappen die Charaktere. Welche Sophie raucht auf der Studentenparty? Welche der zwei tanzt mit ihrem Verlobten Fritz? Was sie gemeinsam haben, ist: beide sind sie Mädchen vom Land, die in der Stadt studieren, etwas bewirken wollen.
Nun enträtselt es sich – Achtung: Spoiler! Die Sophie der Jetztzeit ist in einen Prüfungsbetrug verwickelt. Justament jener Professor, der ihr schwuppdiwupp einen der begehrten Plätze in seinem Einser-Kurs beschaffte, hat um teures Geld mit den Prüfungsaufgaben gehandelt. Einmal aufgeflogen will er Sekretärin Frau Mühl zur Täterin abstempeln, und Sophie, die deren Unschuld beweisen kann, findet sich als Entlastungszeugin der Verteidigung wieder. Worauf ihr der Herr Professor ein unsauberes Geschäft vorschlägt …
Derart wird die unbeabsichtigte Namensverwandtschaft zum Prüfstein für Sophie Scholls Gewissen. In die Enge getrieben zwischen Gerechtigkeit und der persönlichen Zukunft im Rechtswesen, in der Zwickmühle zwischen der Aussicht auf einen Job mit astronomischem Einsteigergehalt und ihrem Glauben an den Rechtsstaat, muss sich die Studentin fragen, was es wert ist, „die Löschtaste fürs eigene Leben zu drücken“. Soll sie „aufrecht gehen“ und damit ihre Existenz zu Grabe tragen.
„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“, formulierte Hannah Arendt, und dass man einen harten Geist und ein weiches Herz haben müsse, meinte die historische Sophie Scholl. Freilich könne man deren Situation im Nationalsozialismus nicht mit der ihrigen vergleichen, erklärt Bettina Kerl als Sophie II, extrem gelungen ist das, dieser Ansatz wichtige gesellschaftspolitische Ansichten zu vermitteln, ohne „pädagogisch“ zu werden. Das Damen-Trio Reiniger, Vetten und – welch ein(e) – Kerl! hat das Thema fürs Klassenzimmertheater gekonnt auf die Realität seines jugendlichen Publikums heruntergebrochen. Entstanden ist daraus ein Filmprojekt für Zuschauerinnen und Zuschauer ab 14 Jahren bis 120.
Die StudentInnenbewegung der sich Sophie II gegenübersieht, hat statt Guerilla die Karriere im Sinn. „Sei ehrlich“, sagt eine Freundin. „Wir hätten die Flugblätter damals nicht einmal angefasst.“ „Das stimmt nicht“, erwidert Sophie. „Wir haben die Maßstäbe für unser Handeln in uns selbst.“ Die letzten sechs Sekunden vom 22. 2. 1943 fehlen. Als Scharfrichter Johann Reichert das Fallbeil auslöste. Was empfand Sophie Scholl während dieses Wimpernschlags? Panik? Reue? Eine innere Leere? Sophie Scholl glaubt: „Glück!“ Entscheidend ist, sagt Bettina Kerl, „die Loyalität zu sich selbst“. Ein bedeutsamer, auf den Nägeln brennender, unter die Haut gehender Abend!
Trailer: www.youtube.com/watch?v=_o7nZlDjap0&t=1s www.landestheater.net
Zur Materialmappe: www.landestheater.net/de/theatervermittlung/schule-und-kindergarten/materialmappen/materialmappe-sophie-scholl
- 4. 2021