Nicht ganz koscher

August 5, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Nahost-Buddy-Komödie mit brüderlicher Botschaft

Durch die Wüste: Ben (Luzer Twersky) und Adel (Haitham Omari). Bild: © enigma Film

Als Adel Ben etwas von seinem Dosenfleisch anbietet, lehnt der höflich ab. „Weil es nicht koscher ist?“, fragt der Beduine. „Nein, sondern weil die Konserve aus dem Jahr 1987 ist“, antwortet der orthodoxe Jude. Darauf Adel: „Warum? Das war ein gutes Jahr, der Beginn der ersten Intifada!“ Dies ist so ziemlich der Humor der Buddy-Komödie „Nicht ganz koscher“, die heute in den heimischen Kinos anläuft, ein seelenvolles Roadmovie rund um den Sinai, ein eigenwilliges, launiges

Plädoyer für die Verständigung zwischen Juden und Arabern, und gleichzeitig ein ironisches Spiel mit allen nur denklichen Klischees und Vorurteilen. Es sind die Filmemacher Stefan Sarazin und Peter Keller, die ihre Protagonisten statt durch ein Nahostkonflikt-Politdrama mit einer brüderlichen Botschaft auf Reisen schicken. Das Ganze beginnt im ägyptischen Alexandria, wo ein ehrenwertes Mitglied der jüdischen Gemeinde gestorben ist. Doch fürs bevorstehende Pessach-Fest braucht es zehn Männer, und außerdem gibt es zwischen Gemeindevorsteher Gaon und dem Präfekten einen Uralt-Vertrag, dass, sollten für den Minjan, mit dem an den Auszug der Juden aus Ägypten erinnert wird, nicht genügend Männer vorhanden sein, aller jüdischen Besitz an den ägyptischen Staat geht. „Das ist kein Exodus, sondern ein Exitus“, jammert Gaon.

Da kommt’s allen Seiten gerade recht, dass der orthodoxe Neffe Ben von der Familie aus Williamsburg, Brooklyn, nach Jerusalem befohlen wurde, um auf Brautschau zu gehen. Nunmehr auf der Flucht vor dem Heiratsvermittler, denn Ben hat heimlich sein Herz an die „moderne“ Toybe aus Mo’s Bagel Shop verloren, bietet er sich an, die große Mizwe zu erfüllen und die einst größte jüdische Gemeinde in der Diaspora zu retten. „Aber du hast noch gar nichts gegessen“, entsetzt sich die Tante – und bis das getan ist, bis Rogelach und Babke und Falshe Fish für die Verwandtschaft verpackt sind, hat Ben seinen Flug verpasst – und weltfremd und naiv, wie ein New Yorker im „Feindesland“ nur sein kann, beschließt er den Landweg einzuschlagen.

Adel (Haitham Omari) ertappt Ben (Luzer Twersky) beim Pick-up-Klau. Bild: © Holger Jungnickel / enigma Film

Doch die Rostlaube gibt ohnedies bald den Geist auf. Bild: © Ludwig Sibbel / enigma Film

Lernen am Lagerfeuer: Koscher ist nicht gleich halal und Beduinen-Brot braucht Jerusalem-Würze. Bild: © enigma Film

Kamel Adelbaran wird zum Lebensretter für die verunfallten Ben und Adel. Bild: © enigma Film

Dies eine dieser Szenenfolgen, die die Culture-Clash-Komödie bemerkenswert machen: Ben landet in einem von einem vor sich hin räsonierenden Palästinenser gelenkten Taxi an einem sichtlich nie frequentierten Grenzübergang. Aus dem Radio hört man Meldungen von Raketeneinschlägen; die ägyptischen Beamten trauen angesichts von Peyes, Fedora und Zizijot ihren Augen nicht; im Linienbus nach Kairo entspinnt sich eine ins Handgreifliche kippende Diskussion: Den Juden mitnehmen oder nicht? Mittels Abakus wird über dessen Schicksal entschieden. „Das ist ein demokratisches Land“, sagt der Busfahrer demonstrativ bedauernd, weil die muslimische Mehrheit der Fahrgäste für Bens Rauswurf gestimmt hat.

So steht der nun schwerbepackt und denkbar ungünstig gekleidet mitten im Nirgendwo von 60.000 km2 Wüste, die Landschaftsbilder von Holger Jungnickel sind atemberaubend, als ein rostiger Pick-up neben ihm hält, am Steuer ein mürrischer Mann, der kurz und knapp erklärt: „Ich fahr dich, aber erst muss ich mein Kamel finden.“ Warum er das tut, wo ihm die Aufgabe doch offenkundig so zuwider ist? „Beduinen-Gesetz: Ich muss dich beschützen“, so Adel noch nicht ahnend, dass er in weiterer Folge etliche der 613 Gebote der Thora kennenlernen wird …

Ihre beiden Hauptdarsteller hätten die Regisseure und Drehbuchautoren Sarazin und Keller nicht besser casten können. „Ben“ Luzer Twersky wurde 1985 in eine ultraorthodoxe Gemeinde in Brooklyn geboren. Um sich seinen Lebenstraum erfüllen zu können und Schauspieler werden, musste der chassidische Jude erst seine religiöse Gemeinschaft verlassen. In der bewegenden Netflix-Dokumentation „One of Us“ ist er einer der drei portraitierten jungen Menschen, die aus der rigiden Gemeinde der chassidischen Juden in New York ausbrechen, wofür sie einen radikalen Bruch mit ihrer Vergangenheit und ihrer Familie in Kauf nehmen müssen. Die Rolle des Ben weist nicht nur stark autobiografische Züge auf, Twersky war am Set auch ein wichtiger Berater der Filmemacher in allen jüdisch-religiösen Detailfragen.

Luzer Twersky als in der Wüste. Bild: © enigma Film

Adel (Haitham Omari) als Ben. Bild: © enigma Film

Gaon begrüßt „Ben“ beim Pessahmahl. Bild: © enigma Film

Der Präfekt: Yussuf Abu-Warda. Bild: © enigma Film

„Adel“ Haitham Omari, ein muslimischer Palästinenser aus Ostjerusalem, wurde einem internationalen Publikum 2014 mit einer der Hauptrollen im Sundance-Gewinner „Sand Storm“ bekannt. Er spielte unter anderem in dem preisgekrönten Drama „Bethlehem“ on Yval Adler, Dror Zahavis „Crescendo – #Make Music, Not War“ mit Peter Simonischek (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41854) und „Gaza mon Amour“. Die beiden Größen des palästinensisch-jüdischen Kinos, Makram Khoury und Yussuf Abu-Warda, ersterer zu sehen in Julian Schnabels „Miral“, Fatih Akins „The Cut“, der TV-Serie „Homeland“, gerade abgedreht ist Terrence Malicks „The Way of the Wind”, zweiterer auch ein viel verehrter Grand-Seigneur des palästinensisch-jüdischen Theaters, liefern sich als Gaon und Präfekt manch wilde Schlacht – wenn der Präfekt da nur nicht zu früh sein Siegestänzchen tanzt.

Derweil müssen zwischen Felsen und Dünen der in seine Gebräuche versponnene Großstädter und sein Survival Guide mit dem Palästinenser-Tuch zwecks Überlebensstrategie zueinander finden. Ben ahnt nicht, dass seine ausgedehnten Waschzeremonien hier den Tod durch Verdursten bedeuten können, und zumindest der Pick-up gibt wegen zu wenig Kühlflüssigkeit alsbald den Geist auf. Schlafen unter freiem Himmel ist auch nicht wirklich Bens Sache, und, naja, koscher ist eben doch nicht halal. „Dein Gott mag mein Brot nicht?“, beginnt Adel sich darüber zu ärgern, mit welcher Chuzpe Ben das Chubz mit Original-Jerusalem-Gewürz dem Ewigen näherbringt.

Bis es aus ihm herausbricht: „Du kommt in Muslimland, du läufst rum wie Moses, jedes Auto ist für dich ein Taxi, jedes Wasser für wash-wash – und du machst mein Brot koscher!“ Schüchterne Antwort Bens: „Ja, aber Moishe hatte 40 Jahre, ich habe nur vier Tage, und er ging in die andere Richtung.“ Beim Anblick einer weißen Taube nennt Ben sie ein Friedenssymbol. Darauf Adel: „Ihr teilt kein Essen, ihr teilt kein Land. Welcher Frieden?“ Nur beim Einhalten beider Gebetszeiten, sind die zwei ein Team. Und beim Backen eines Versöhnungs-Kugel.

 

Möge Gott, Hashem, Allah uns allen Geduld mit uns allen geben. Das Trennende ist stets auch das Verbindende, und jedes Missverständnis kann, wenn man’s zulässt, zu mehr Verständnis führen. „Sehr gutes Restaurant, hier müssen wir öfter essen“, feixt Adel beim Verzehr des überm Lagerfeuer zubereiteten traditionell-jüdischen Nudelauflaufs. Mit diesem Satz wird es eine Schlusspointe haben, heißt der Film doch im Englischen, in das sich die Doppeldeutigkeit von „Nicht ganz koscher“ nicht übersetzen lässt, „No Name Restaurant“.

„Nicht ganz koscher“ ist ein wundersames „Was Menschen einander näherbringt“-Märchen, das keinen Zynismus zum Glauben gestattet. Um das bis ins Letzte zu bezeugen, soll hier gespoilert werden, denn auch die dritte abrahamitische Religion kommt noch ins Spiel – in Gestalt der Mönche aus dem Kloster „Zum Brennenden Dornbusch“. Kurz: Adel und Ben haben einen Unfall, der sich zum Überlebenskampf ausweitet. Die beiden werden zwar vom plötzlich wie aus dem Nichts erscheinenden Kamel Adelbaran gerettet, doch Ben ist fiebrig, hustet, hat wohl eine Lungenentzündung.

Die christlich-orthodoxen Mönche nehmen die beiden auf, pflegen Ben – doch was wird aus Pessach? Während dem delirierenden Ben ein Krankenlager gerichtet wird, verbringt Adel die Nacht grübelnd auf dem heiligen Berg. Bei Sonnenaufgang hat er dann die vielleicht rettende Idee: Mit der Kleidung und den abgeschnittenen Schläfenlocken des bewusstlosen Ben sowie einem Begleitschreiben des Popen im Gepäck, macht er sich im Dienstwagen des Klosters eiligst auf den Weg nach Alexandria. Wo ihn Gaon mit den Worten empfängt: „Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich weiß der Himmel schickt Sie.“

 

Während der Präfekt, dem die Wahrheit natürlich nicht verborgen bleibt, ein Adel denunzierendes Schreiben mit seinem Zigarrenanzünder verbrennt, will er doch seinen lebenslangen Schachgegner Gaon nicht verlieren. Und als nun Adel an der feierlichen Sedertafel der jüdischen Gemeinde bravourös versucht, seine völlige Unkenntnis der rituellen Gepflogenheiten zu verbergen, nimmt Ben im Kloster all seinen Mut zusammen und greift zum Telefon. Zaghaft beginnt er zum ersten Mal ein Gespräch mit seiner angebeten Toybe, seiner Taube.

Alle Menschen sind schon Brüder – und Schwestern. Dass Stefan Sarazin und Peter Keller ihre Ode an die Freu(n)de mit einem charmanten Lächeln erzählen, ist per se das Statement, sich von Politik, Religion und Machtgehabe nicht in eine Ecke drängen zu lassen. Denn unter der zauberhaften Oberfläche verbirgt sich ein reeller Kern. Im Interview erzählen die Regisseure, dass sie bei ihren Recherchen immer wieder festgestellt haben, im Alltag ist das Zusammenleben gar nicht so konfliktbeladen – etwa in Haifa, wo Juden, Muslime und Christen weitgehend entspannte Nachbarn sind.

Es seien die politischen Eliten, deren jeweilige Interessen ein Aufeinander-Zugehen verhindern, sind die Filmemacher überzeugt. Da braucht es eben ein komödiantisches Paar wie Ben und Adel, um die Hintergründe immer gleicher Nachrichten zu beleuchten. Zum Ende der Utopie sitzen Juden, Christen und Muslime im tatsächlichen Symbol des gemeinsamen Bootes. Im „No Name Restaurant“, denn Gott hat nicht einen, sondern viele Namen, gibt es beides: „Adel‘s gegrilte Fish“ und „Ben‘s gefilte Fish“.

 www.nichtganzkoscher-film.de

 

BUCHTIPP

Hoffmann und Campe Verlag, Goldie Goldbloom: „Eine ganze Welt“, Rezension www.mottingers-meinung.at/?p=45739: Surie Eckstein ist die Protagonistin in Goldie Goldblooms Roman „Eine ganze Welt“, „eine Frau, von der die anderen Leute glaubten, sie wüssten alles über sie – Ausländerin [denn zu dieser macht sie sich freiwillig im eigenen Land], religiöse Fanatikerin, ein anachronistischer Witz, eine ungebildete Mutter“, die kaum englisch, sondern jiddisch spricht, die unter der obligaten Perücke kahlgeschoren ist und den Körper verhüllende Kleidung trägt.

Surie lebt in Williamsburg, New York, als wertgeschätztes Mitglied der chassidischen Gemeinde, ihr Mann Yidel ist der Sofer des Tempels. Dass ausgerechnet die Rebezn Eckstein im „biblischen“ Alter von 57 Jahren noch einmal schwanger wird, ist ein Skandal. Ein Sex-Skandal, würde die Geburt doch bekanntmachen, dass Yidel sie „über das normale Alter hinaus“ begehrenswert findet …

FILMTIPP

Der Netflix-Zweiteiler „Unorthodox“ von Regisseurin Maria Schrader erzählt von der 19-jährigen Chassidin Esty, die vor einer arrangierten Ehe aus Williamsburg nach Berlin flieht, und dort ungeahnte Freiheiten kennenlernt. Während sie an der Barenboim-Said-Akademie Musik zu studieren beginnt, reisen ihr Ehemann Yakov und dessen Cousin Moische an, um sie gegebenenfalls mit Gewalt zurückzuholen … www.netflix.com   Trailer: www.youtube.com/watch?v=t5mzqg-d_tU

  1. 8. 2022

Theater Nestroyhof Hamakom: Zu ebener Erde und im tiefen Keller

Dezember 12, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Freizeitgesellschaft für alle Workaholics

Der französische Sozialist Paul Lafargue mit seiner Ehefrau und Karl-Marx-Tochter Laura beim Tango de la mort: Hubsi Kramar und Jaschka Lämmert. Bild: © Marcel Koehler, 2019

Während das Publikum noch zwischen vorweihnachtlichem Negroni oder doch dem klassischen Glas Rotwein schwankt, sich vielleicht auch über den ausgesprochen zuvorkommenden Service freut, laufen auf den Videowänden schon erste Filme schwer schuftender Menschen. Traditionell im Dezember hat sich das Theater Nestroyhof Hamakom wieder in Sam’s Bar verwandelt, und einer deren freundlicher Keeper ist selbstverständlich Schauspieler Florian Haslinger.

Der einem beginnend mit Zitaten von Oscar Wilde über Sully Prudhomme, seines Zeichens französischer Lyriker und Philosoph und erster Literaturnobelpreisträger, bis Boris Becker Sinn und Zweck des Abends beibringt. „Zu ebener Erde und im tiefen Keller“ heißt die von Hausherr Frederic Lion erdachte Inszenierung, eine Gegenüberstellung des Prinzips Arbeit mit der Abscheu vor ebendieser, ein buchstäbliches Gegeneinander-Ausspielen von Adam Smiths Schrift „Wohlstand der Nationen“ aus dem Jahr 1776 versus Paul Lafargues Spottpamphlet „Das Recht auf Faulheit“ von 1880. Zwei visionäre Texte – und auch zwei fantastisch verstaubte Sackgassen, deren Abschreiten einen durch die gesamte Architektur des Hamakom führt.

Wobei bei dieser performativen Bildbeschreibung dem Kapitalismus nur das Parterresein, dem Kommunismus hingegen nur noch die Katakomben bestimmt sind. Und so erklimmt Haslinger als sozusagen Adam Smith die Bühne, und versucht als deklarierter „Vater der Nationalökonomie“ wie ein Evangelist des Liberalismus und per Balken- und anderen Grafiken seine Theorien zu erklären. Die da wären, den Ursprung allen Wohlstands in der menschlichen Arbeit zu sehen, weshalb durch Anheizen der Produktivität auch dieser ansteigen werde. Heiß und kalt überläuft es einen, wenn der schottische Aufklärer vorrechnet, wie ein Hackler kaum mehr als eine Nadel pro Tag fertigen könne, aber bei Arbeitsteilung … und ruckzuck ist der Wettbewerbler bei schwindelerregenden 48.000 Stück und schnell steigen einem nicht nur die Grausbirn‘ auf, sondern auch Fließbandbilder, die eintönig vorbeirasenden „Modern Times“.

Das Schlagwort von der „unsichtbaren Hand“ hat Smith postuliert, und während Darsteller Haslinger gerade ausführt, der Mensch sei seinem Wesen nach träge, denn „der Mensch trödelt gewöhnlich ein wenig“, versagt der freien Marktwirtschaft die Technik, stockfinster wird’s im Saal, bis eine Handvoll mit Stirnlampen ausgerüstete Performerinnen und Performer die Zuschauer aus der misslichen Lage erlöst. Sie sind aus dem Augustin-Team, sind über dessen 11% K.Theater zur Kultur gekommen und schreiben wie das Ehepaar Traude und Rudi Lehner für die Rubrik „KulturPASSage“, oder wie Christian Sturm im „Dichter Innenteil“. Es ist tatsächlich der schönste Teil der Aufführung, nach dieser mit den Augustin-Akteuren ins Gespräch zu kommen, ein Gedankenaustausch über Lebenspläne und Werdegänge und die Umleitungen, auf die man geschickt wird.

Geld regiert die Welt: Florian Haslinger erklärt Adam Smiths ökonomische Theorien. Bild: © Peter Katlein

Die Lafargues vor dem gemeinsamen Selbstmord: Jaschka Lämmert und Hubsi Kramar. Bild: © Peter Katlein

Laura Lafargue mit der Grammophonstimme ihres Mannes: Jaschka Lämmert. Bild: © Marcel Koehler, 2019

Der Kommunist im Keller: Hubsi Kramar als Paul Lafague auf der Publikums-Borschtsch-Tafel. Bild: © Peter Katlein

Zuvor freilich geht’s vom Jugendstilsaal in den Backsteinkeller, an hoher, langer Tafel wird Borschtsch serviert, der Alkohol braucht schließlich eine Unterlage, also Eintopf schlürfen und aufmerksam lauschen. Wenn Hubsi Kramar und Jaschka Lämmert als Paul Lafargue und dessen Ehefrau und Karl-Marx-Tochter Laura seine Ideen exemplifizieren, die mitwirkenden Augustinerinnen und Augustiner in diesen Szenen das Salz in der Suppe. Wunderbar, wie sie zu Lukas Goldschmidts Akkordeonklängen den Tango als Totentanz schwofen, Kramar und Lämmert ohnedies auf Leiche geschminkt, denn die Lafargues werden sich mittels Selbstmords von dieser Welt verabschieden. In einer hinterlassenen Notiz steht zu lesen: „Gesund an Körper und Geist, töte ich mich selbst, bevor das unerbittliche Alter mir eine nach der anderen alle Vergnügungen und Freuden des Daseins genommen und mich meiner körperlichen und geistigen Kräfte beraubt hat …“

Auf dem Höhepunkt derselben allerdings ist Kramars Lafargue kämpferisch, der französische Sozialist und Konsumkritiker, der Schwiegervaters Marxismus in seiner Heimat zur Parteigründung verhalf, der auf Kuba geborene, „Mulatte“ geschimpfte Manifesthalter, der die kapitalistische Ideologisierung des Begriffs Arbeitsmoral ablehnte, als dessen Grundübel er die Überproduktion sah. Es hat etwas Bemerkenswertes, wenn der Mitstreiter der Ersten Internationalen vor dem aufgepinseltem Antlitz des „bärtigen und sauertöpfischen Gottes“ – meint er den Allmächtigen oder den Arbeiterbewegten? – die Bergpredigt Christi zitiert: Sehet die Lilien auf dem Felde … Es wirkt absonderlich, wenn Laura/Lämmert am Grammophon Frauenrollen runterkurbelt, die Qualwahl zwischen entweder naturverbunden-gesunde Gebärmaschine oder hohlwangig-ausgelaugte Fabrikarbeiterin.

„O jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie!“, so Lafargue in seinem „Recht auf Faulheit“, und ist der philosophischen Auseinandersetzung im Hamakom eins vorzuhalten, dann dass einem Frederic Lion die weibliche Perspektive vorenthält. Ob nun Laura Lafarge tatsächlich keine eigenständige Meinung hatte oder ihr keine zugebilligt wurde, auch Marxisten sind Machos, so ist Wien doch die Stadt des Erdarbeiterinnenaufstands, der ersten Frauendemonstration in Österreich, der am 23. August 1848 in der sogenannten „Praterschlacht“ blutig endete.

Traditionell im Dezember wird der Jugendstil-Theatersaal umfunktioniert zu Sam’s Bar, wo’s außer Programm auch Cocktails und Snacks gibt. Bild: © Nick Mangafas

Sagt Lion darauf angesprochen, politische Theaterabende können nicht jede rundum glücklich machen, so fordert alldieweil Kramar als grau gepuderter Untoter Lafargue den Drei-Stunden-Tag und Zeit für flotten Müßiggang für des Tages Rest, und weil Smith davor die Leistungsstärke der Maschine gelobt hat, fällt einem zum Computerzeitalter ein, dass vor allem wichtig, dass die Workstation werktätig ist, der Mensch an der Tastatur hastet schon irgendwie hinterher.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, sagen die Bibel und August Bebel, sagen Adolf Hitler und die Stalin-Verfassung, wer’s aber tut, belohnt sich mit von eben jener Wirtschaft, die er mit seiner Arbeitskraft befeuert, künstlich erzeugten Konsumbedürfnissen. Hinauf und zurück in Sam’s Bar, wo zwischenzeitlich die Titanic wie der Teufel an die Wand gemalt worden ist, ein Symbol für den gemeinsamen Schiffbruch aller Klassen, und man fragt sich, wie eine Lafargue’sche Freizeitgesellschaft der Smith’schen Workaholics funktionieren kann, prognostizieren Zukunftsforscher doch erstere, bei gleichzeitiger unternehmerischer Erwartung, der Arbeitnehmer möge via Neuer Medien twentyfourseven erreichbar und einsatzbereit sein.

Derart gibt einem „Zu ebener Erde und im tiefen Keller“ zu denken, die Nestroy-Paraphrase im Nestroyhof, die Localposse, in der auch der Volksdichter zeigt, wie schnell ein Schiff sinken und man von der Beletage im Souterrain landen kann.

www.hamakom.at           augustin.or.at

  1. 12. 2019

Schauspielhaus Wien: Sommer

Februar 10, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Schreckensherrschaft des Loop-Systems

Die Raumfahrerin gerät in die Fänge der Retro-Revolution und kämpft ums Überleben: Sophia Löffler mit Nehle Breer und Vera von Gunten. Bild: © Matthias Heschl

Es ist eine Science-Fiction-Satire über Selbstbewusstsein, die Sean Keller verfasst hat. Selbstbewusst sein, im Sinne von: um den eigenen Wert wissen, und als Bewusstsein von einem selbst als einheitliches Wesen. Doch die Frage „Wer bist du?“ erweist sich im Stück schnell als eine unlösbare. „Sommer“ heißt es, Keller gewann damit das Hans-Gratzer-Stipendium 2018, und Elsa-Sophie Jach, die am Schauspielhaus Wien zuletzt mit Thomas Köck und „die zukunft reicht uns nicht (klagt, kinder, klagt!)“ (Rezension:

www.mottingers-meinung.at/?p=27228) erfolgreich war, hat es nun ebendort zwecks Uraufführung auf die Bühne gehoben. So überbordend der Text, so die Inszenierung. Die Bühne von Stephan Weber zeigt eine Art Future-Bar samt Claw Machine, an der Decke silberglänzende Sechsecke, an einer Seite ein Glaskubus, eine monströse Vitrine, auf deren Boden bereits das Ausstellungssubjekt kauert. Auftritt nun ein Chor, Nehle Breer, Vera von Gunten und Anna Rot, ein choreografiertes Kollektiv, Sprache, Bewegung, Ich-Erkenntnis präzise einstudiert – wobei, was letztere betrifft, das Vokalterzett für deren Beendigung plädiert. „Wir verlieren uns im Warten auf die bessere Zukunft“, schelten sie, da sie diesen Zustand längst überwunden haben, in Wahrheit das Publikum. Dem Individuum soll also ein Dasein als solches abgesprochen, aus einer Einzelidentität sollen viele gemacht werden.

Die Dystopie, die Keller im Wechsel von Wort-Kunst zu Wort-Gewalt entworfen hat, dreht sich im Weiteren um dieses Denkspiel: Individualismus als destruktiver Egoismus oder Gemeinschaftsgefühl als Gleichschaltung der Massen, einfacher formuliert: ein Wir vs ein Ich, ein Hergehören vs ein Fremdsein, ein Geschichtsvergessen vs ein Zukunft-Lernen. Die Story, zu entnehmen dem Programmheft, live verhandelt wird sie kaum, geht so: Das Jahr ist 3000, und da es der Erde davor schon recht schlecht ging, Stichwort: Ressourcenknappheit, hat sich ein Großteil von deren Bevölkerung ins Exil einer Weltraumkolonie begeben, wo man offenbar ein friedliches, freundschaftliches Leben lebt.

An der Claw Machine: Nehle Breer, Sophia Löffler, Anna Rot und Vera von Gunten. Bild: © Matthias Heschl

Beklemmende Tanzperformance im gläsernen Käfig: Esther Balfe. Bild: © Matthias Heschl

Die, die geblieben sind, haben sich als Strategie gegen die widrige Umwelt in einer neokommunistischen Gesellschaft organisiert, haben sich der Schreckensherrschaft eines restriktiven Loop-Systems unterworfen, das eine Zeitschleife betreibt, in der die historisch verklärten Jahre 2000 bis 2020 immer wieder von vorne ablaufen. Durch diesen Minkowski-Raum rennen die Menschen, wie das Huhn auf dem Möbiusband. Da entlässt Keller eine Rückkehrerin in die Szene. Eine Raumfahrerin mit Heiligenscheinhelm, die wissen will, wie’s „unten“ so ist, Sophie Löffler als Frau, die vom Himmel fiel – und die folglich vom Kollektiv mit aller Härte ans Kollektiv angepasst werden muss. Diese Ich-Erzählerin spricht im Irrealis, während sie versucht, halb von ihnen angezogen, halb abgestoßen, die Gruppenrituale zu begreifen.

Man darf Kellers Überfrachtungsstück nicht zu viel Stringenz unterstellen. Weder kümmert er sich um die Phänomene des Raumkontinuums noch des Zeitparadoxons, er schreibt so entfesselt, als hätten Ray Bradbury und Philip K. Dick nie einen Satz zu Papier gebracht, allerdings nimmt er es auch mit der innertextlichen Logik nicht allzu genau. Als würde das Fantastische nicht auch – zugegeben seinen eigenen – Regeln folgen. Derart gilt’s am besten: Nichts à la „Ground Control To Major Sean“ überinterpretieren, sich auf den Ideenreichtum von Elsa-Sophie Jach, die ganz hervorragende Arbeit leistet, einzu- und unterhalten zu lassen. Denn aberwitzig ist der Abend in seiner Verquertheit allemal.

Und während das Ich sich müht, den Code fürs Überleben zu finden und „die Abmachung“ zu kapieren, irgendwann sagt Löffler: „das Geheimnis der Anpassung ist, sich nicht zu wundern“, windet sich Tänzerin Esther Balfe als Gefangene hinter Glas, ihre Zuckungen wie unter Strom in dieser engen Biosphäre, eine Gepeinigte im Gehege ihrer exemplarischen Körperhaftigkeit. Deren Ablehnung Kulturhistoriker Hermann Glaser, gerade auf die Frau als solche bezogen, in seiner „Spießer-Ideologie“ als symptomatisch für die sozialpathologischen Aspekte der modernen Gesellschaft ansah. (Was nun doch gedeutelt ist …)

Die funkelnde Future-Bar unter dem silbernen Sechseckhimmel: Sophia Löffler, Vera von Gunten und Nehle Breer. Bild: © Matthias Heschl

Elsa-Sophie Jach bricht die schlafwandlerische Atmosphäre des Gesprochenen durch Balfes antagonistische Performance. Sie tut ambivalente Bilderwelten auf, von plötzlichen Ausbrüchen von Aggression und Autoaggression bis zum perfekt ausgeführten Zumba zu Backstreet Boys‘ „I Want It That Way“. Schließlich findet sich alles unterm Riesenrad in einem abgewrackten Orlando-Freizeitpark wieder. Ausgerechnet Florida.

Wo Widerstandskämpferinnen, die Astronautenanzüge von Giovanna Bollinger nun lässig um die Hüften geknotet, das Zeitzirkulieren durchbrechen wollen, indem sie über Cheats im Programm neue Portale und damit den Zugang zu einer anderen Wirklichkeit öffnen. Der Plan scheitert, die komplette Annullierung, Wunsch- und Albtraum Auslöschung finden statt. Gesellschaftliche Trägheitsgesetze haben die Retro-Revolution verunmöglicht. Die Menschen erscheinen in Tiermasken und hämmern auf den Boden à la „2001“-Monolith. Brainwashing accomplished.

„Sommer“, warum auch immer er so benannt ist, ist ein hochkomplexer, teilweise auch hermetischer Text, inspiriert inszeniert und mit großer Intensität darstellerisch dargeboten. Ob Sean Keller mit seinem „Sie werden assimiliert werden“ auch auf eine meinungsmacherische Politik, viele Köpfe, ein von bestimmten Medien bestimmter Gedanke, abzielt, ist beim Abgang aus dem Theater Diskussionsgegenstand. Dem „Widerstand ist zwecklos“ der Aufführung kann man sich jedenfalls nicht entziehen.

Trailer: www.youtube.com/watch?time_continue=1&v=vY5DAUhywhI

www.schauspielhaus.at

  1. 2. 2019

Viennale 2017: Valeska Grisebach über „Western“

November 1, 2017 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

„Welch schöner, eleganter Mann“

Meinhard Neumann steht als „Meinhard“ zwischen Dorf und Bautrupp. Bild: © Komplizen Film

Mit „Western“ stellte die deutsche Filmemacherin Valeska Grisebach ihr neuestes Werk bei der Viennale vor. Inhalt: Eine Gruppe deutscher Bauarbeiter macht sich auf den Weg auf eine Auslandsbaustelle in der bulgarischen Provinz. Das fremde Land und die raue, wenig erschlossene Landschaft wecken die Abenteuerlust bei den Männern.

Gleichzeitig sind sie mit ihren eigenen Vorurteilen und ihrem Misstrauen konfrontiert. Das nahe gelegene Dorf wird für zwei der Männer zur Bühne eines Konkurrenzkampfs um die Anerkennung und die Gunst der Dorfbewohner. Kinostart ist am 3. November. Valeska Grisebach im Gespräch:

MM: Sie sind bekannt bevor, dass Sie an Ihren Projekten sehr lange feilen, bis es dann tatsächlich losgeht. Wie lange hat’s diesmal gedauert und wo war der Ausgangspunkt Ihrer Reise?

Valeska Grisebach: Diesmal hat’s lange gedauert, aber ich habe mir tatsächlich Zeit gelassen, weil das Leben zwischen den Filmen auch schon ist. Weil ich meine Tochter bekommen habe, weil ich bei einem anderen Projekt mitgearbeitet und auch unterrichtet habe, aber auch, weil „Western“ eine längere Anlaufphase gebraucht hat. Ich habe lange über das Thema nachgedacht, bis ich das Buch geschrieben habe. Der Ausgangspunkt war meine Faszination für den Western, die herrührt aus der Zeit, als ich noch ein kleines Mädchen war und aus dem Fernsehzimmer meiner Großeltern, wo ich mit meinem Vater Western geguckt habe.

MM: Und?

Grisebach: Dieser Faszination wollte ich als erwachsene Frau auf die Schliche kommen, und diesen männlichen-melancholischen, einsamen Helden auf meine Art verhandeln. Auch die Inszenierung eines Gesichts, das keine Gefühle zeigt, mit jeder Menge Gefühl dahinter. Ich fand das interessant, dass Western viel mit Konstruktion von Gesellschaft zu tun haben, welche Spielregeln gelten – Mitgefühl oder Empathie oder einfach das Gesetz des Stärkeren. Dieser Blick hat mich beschäftigt. Dann habe ich mich über eine assoziative Recherche, die parallel zum Schreiben verlaufen ist, in dieses Projekt begeben. Und war sehr glücklich, als sich für mich diese Situation von diesen Deutschen, die sich mit ihren großen Maschinen und ihrem Wissen nach Bulgarien gehen, die mit Neugier und aber auch Misstrauen dort ankommen, entwickelt hat. Ich bin dann nach Bulgarien gereist – und damit ging auch die Reise dieses Filmes los.

MM: Die Vorurteile funktionieren in Ihrem Film von beiden Seiten. Die bulgarischen Dorfbewohner haben nicht weniger als die deutschen Bauarbeiter.

Grisebach: Das ist klar, weil jede Figur mit einem historischen Subtext auftritt, eine Geschichte und eine unterschiedlich verlaufende Geschichtsschreibung mitbringt. Auf meinen Reisen hat mich das am Anfang fast irritiert, wieviel Respekt mir als Deutsche entgegengebracht wurde. Man wird erstmal fast überhöht, was mit der Geschichte der Bulgaren an der Seite der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu tun hat. Die Leute sagen, die Deutschen haben das alles überwunden, und stehen jetzt 1A in der Welt da. Das müssen wir auch schaffen, wir brauchen den deutschen Stiefel, um unsere Trägheit zu überwinden. Das sind allerdings alles auch Spielregeln eines ersten Kontaktes, ich habe gelernt, solche Sätze als solches zu bewerten.

MM: Sicherlich auch spannend für Drehbuch und Film …

Grisebach: Ja, weil ich mich so fragen konnte, was diese beiden Männer, Meinhard und Vincent, beide Mitte 40/Anfang 50, nicht nur antreibt, sondern, was ihnen auch begegnen wird. Die wollen noch ein Abenteuer, ein Erlebnis, die wollen, weil ihnen eben so viel Respekt entgegengebracht wird, das Dorf als Bühne für ihren Konflikt benutzen. Wer ist der, der hier ankommt? Der Anführer ist? Der vielleicht eine Frau bekommt?

MM: Ein typisches Western-Motiv: Der Anführer der Gruppe gegen den Desperado.

Grisebach: Wobei sich Meinhard und Vincent gar nicht so unähnlich sind in dem, was sie eigentlich wollen. Sie haben eine sehr unterschiedliche Weise, damit umzugehen, der eine aggressiv, der andere, der auf sanfte Art und Weise in Kontakt tritt.

MM: Vincent hat diese Hoppla-jetzt-komm‘-ich-Mentalität, die die Deutschen von der Adria bis zur Costa Brava mäßig beliebt macht …

Grisebach: Ich mag ihn um nichts weniger als Meinhard. Er hat Pflichtbewusstsein, er will für seine Männer nur das Beste. Er muss Stärke zeigen, nachdem er um den Kies betrogen wird. Er macht auch eine Entwicklung durch, wie er dann aus dem Konflikt aussteigt. Aber die ganze Gruppe hat natürlich eine gewisse Grobheit, was für mich auch immer ein Zeichen von Unsicherheit und wenig Selbstbewusstsein ist. Ich habe also nicht wirklich an die Deutschen auf Mallorca gedacht, als ich Vincent geschrieben habe. Dafür habe ich die Jungs dann doch zu gerne. Die Dynamik, die sich in der Gruppe entwickelt, und aus der heraus dann auch Meinhard agiert, ist, dass Angst und Schwäche gar nicht geht.

MM: Ihre Schauspieler sind allesamt Laien. Wie haben Sie die gefunden?

Grisebach: Ich merke immer, dass es so richtig losgeht bei den Proben, wenn ich anfange los zu spazieren und Leute sehe, bei denen ich Herzklopfen kriege, oder denke: Mensch, den will ich kennenlernen. Ich wollte mich am Anfang des Projekts mit Männer und Frauen über ihren Westernmoment im Alltag unterhalten. Über Duelle aus dem Leben. Und hab‘ dann geguckt, mir den Pin-Up-Moment gegönnt, und da landet man für einen Western ganz schnell bei den Jungs auf dem Bau. Wobei ich das altmodische männliche Gefüge von Arbeitern auf dem Bau auch für den Film interessant fand.

MM: Die nun Mitwirkenden …

Grisebach: … hat das Stichwort Western überzeugt. Die waren auch gespannt, wie ich das umsetzen werde, als Frau in einem vermehrt männlichen Ensemble. Das war super, das war für mich eine faszinierende Erfahrung.

Er freundet sich mit Dorfvorsteher Adrian an: Meinhard Neuman und Syuleyman Alilov Letifov. Bild: © Komplizen Film

Und lernt allmählich lächeln: Meinhard Neumann. Bild: © Komplizen Film

MM:  Was haben Sie in den Hauptdarstellern Meinhard Neumann als Meinhard und Reinhardt Wetrek als Vincent gesehen?

Grisebach: Ich habe für die Figur des Meinhard, als die Figur noch gar keinen richtigen Namen hatte, aber Meinhard war dann so bezwingend, ich konnte keinen besseren erfinden, immer einen schillernden Charakter gesucht. Wenn man Meinhard in der Gruppe sieht, denkt man, welch ein schöner, eleganter Mann. Er ist aber auch einer, der gleichzeitig den kleinen Mann in sich trägt, den Untertan, den Opportunisten, der vielleicht eine Lügengeschichte erzählt, wer er ist, der vielleicht auch etwas gut machen muss. Er möchte gleichzeitig aus der Masse herausstechen und in ihr verschwinden. Mich erinnert Meinhard Neumann an Gary Cooper in seinen Filmen. Er ist eine Projektionsfläche, er hat ein unglaubliches Gesicht, wie eine Filmikone, und er ist ein Mann mit Vergangenheit …

MM: Und Reinhardt Wetrek …

Grisebach: … den fand ich einfach so toll, weil er eine andere Körperlichkeit hat, etwas sehr Eindringliches, wie er dasteht und für Meinhard ein Widerstand ist, dann aber wieder etwas ganz Zartes hat. Die Geschichte ist ganz lustig: Er hat beim ersten Mal Casting so ein Blackout hingelegt, was ganz sympathisch war, dass dieser große Schrank dasteht und nicht weiter weiß, dass er fast umgedreht wäre. Er hatte aber seine 12-jährige Tochter dabei, und der wollte er zeigen, dass man im Leben Dinge durchzieht. Er hat sich unheimlich frei gespielt, er ist auch jemand, von dem ich denke, er könnte gut Schauspieler sein, er hat da große Qualitäten. Und er will auch gerne wieder wo spielen.

MM: Sie arbeiten normalerweise nicht mit einem klassischen Drehbuch. Wie war das diesmal? Und haben da die Schauspieler die Möglichkeit, auch „frei Schnauze“ zu sprechen?

Grisebach: Ja und nein. Es gibt einen Text, weil ich finde, was da ist, ist da, er wird aber am Set verhandelt. Ich erzähle Szenen und Dialoge, es ist kein klassisches Improvisieren, sondern ein Moment der Begegnung, und wenn da jemand etwas anders sagen möchte, kann man über alles reden.

MM: Wie war Drehen in Bulgarien?

Grisebach: Für mich toll, weil ich oft so jemand bin, der sich nicht festlegen will. Mich irritiert das eher, wenn alles so fix durchgeplant ist, da habe ich immer das Gefühl, ich muss mal kurz Verwirrung stiften. Für mich ist das das Gegenteil von inspirierend. In Bulgarien habe ich gemerkt, dass die Leute eher irritiert sind, wenn man vier Wochen im Voraus was planen wollte. Da ruft man eine halbe Stunde vorher an und sagt ich brauche bitte das, das und das. Und dann klappt das irgendwie. Und wenn nicht, sind die Bulgaren Meister im Improvisieren. Die Leute waren abenteuerlustig und haben sich auf uns eingelassen. Für mich war das eine schöne Erfahrung, auch ein Kontrollverlust, eine Reise ins Unbekannte, und immer wieder Überraschungen. Ich habe im besten Sinne eine Grenz-Erfahrung gemacht.

MM: Die Bewohner des Dorfes spielen sich auch selber?

Grisebach: Nur wenige. Wir haben auch in Bulgarien ein Casting gemacht, und die Leute kommen alle aus einer Region, aber aus einem größeren Umfeld. Trotzdem war das Dorf präsent mit jeder Art von Hilfestellung. Syuleyman Alilov Letifov, der den Adrian spielt, hat in Wirklichkeit Geschäfte für Autobedarf und auch einen Steinbruch.

MM: Lassen Sie uns über das visuelle Konzept reden.

Grisebach: Wir haben uns auch damit beschäftigt, wie man Western optisch umsetzt, wir wollten nicht die ganze Zeit Cinemascope zitieren, sondern mehr über die Inhalte gehen. Aber es ist schon spannend, Westernräume aufzumachen, den Dorfplatz, die Veranda der Kneipe, oder auch die Landschaft, die vermeintliche Wildnis, die es ja nicht ist. Denn hinter dem nächsten Hügel ist ja was, aber für die Deutschen ist es eben ein Abenteuerland. Es war uns wichtig, nicht zu viel Butter aufs Brot zu schmieren, damit unsere Inszenierungen immer noch Effekt haben.

Als Vincent mit Meinhards Hengst ausreitet, passiert das Unglück, das die Männer entzweit: Reinhardt Wetrek. Bild: © Komplizen Film

MM: Wie geht es aus? Ich vermute, Meinhard bleibt.

Grisebach: Ich weiß es nicht, ich könnte es so nicht sagen. Aber er setzt sich zum ersten Mal etwas aus, seinen Gefühlen, und damit wird etwas in Gang gesetzt werden.

MM: Die Viennale hat Ihnen auch ein Special gewidmet, eine Werkschau verbunden mit einer Carte Blanche.

Grisebach: Mich hat Hans Hurch kontaktiert, was mich wahnsinnig gefreut hat, und was mich jetzt so berührt, dass ich ihn nie so richtig persönlich kennengelernt habe. Mir bedeutet das sehr viel, dass gerade in Wien, wo ich studiert habe, meine Filme „Mein Stern“ und „Sehnsucht“ gezeigt wurden – auch in Verbindung mit der Carte Blanche.

MM: Von den von Ihnen ausgewählten Filmen ist heute noch „Gunfighter“ von Henry King zu sehen – siehe da: ein Western.

Grisebach: (Sie lacht.) Ich freue mich so, den auf der Leinwand zu sehen. Es geht um einen lonely Gunfighter, der älter geworden ist, und zurück will in den Ort, aus dem er kommt, zurück zu der Frau, die er liebt. Aber Gunfighter sein, ist ein Fluch, den er nicht loswird, weil ein jeder, dem er begegnet sich mit ihm messen will. Seine Nachfolger warten nur darauf, sich mit ihm anzulegen … Das ist die Ambivalenz am Western, die mich interessiert: raus und frei sein und dennoch ein Zuhause haben.

MM: Ein Lieblingswestern?

Grisebach: Mmh. Vielleicht „Wincester `73“ von Anthony Mann. Den mag ich sehr gerne, weil James Stewart wie mein Bautrupp so ein normaler Mann ist, der in eine unmögliche Situation gerät. Er hat auch dieses Anständige und muss quasi auf Rache aus sein. Und „One Eyed Jack“ mit Marlon Brando mag ich auch sehr.

Die Filmrezension: www.mottingers-meinung.at/?p=26959

www.western-der-film.de

www.viennale.at

  1. 11. 2017

Viennale 2017: Western

Oktober 27, 2017 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Mann auf dem weißen Pferd ist nicht immer der Gute

Meinhard findet in der Nähe der Baustelle einen weißen Hengst und reitet ihn zu: Meinhard Neumann. Bild: © Komplizen Film

Eine Gruppe Outlaws hat sich unweit eines kleinen Städtchens mitten im Nirgendwo niedergelassen. Sie drangsalieren die Dorfbewohner, vor allem gegenüber deren Frauen benehmen sie sich schlecht. Der Bande angeschlossen hat sich ein schweigsamer Desperado, ein Mann, so scheint es, ohne Vergangenheit.

Er wird sich zwischen die Einheimischen und die Fremden stellen, wird ins Duell mit deren Anführer gehen. Eine Frau kommt vor, und ein weißes Pferd. Und der Mann auf dem weißen Pferd wird nicht immer der Gute sein … Der Film dieses Inhalts heißt, wie es klingt: „Western“. Es ist der neue Spielfilm von Regisseurin und Drehbuchautorin Valeska Grisebach, und hat seine Österreich-Premiere bei der Viennale am 29. Oktober, danach Kinostart am 3. November. Die Viennale widmet der deutschen Filmemacherin außerdem ein Special.

Grisebachs „Western“ ereignet sich in Osteuropa, in Bulgarien. Ein deutscher Bautrupp soll in tiefster Provinz ein Projekt umsetzen, doch wurden sie von einem ansässigen Schottergrubenbesitzer gerade um den Kies betrogen. Die Arbeit stagniert, die Männer langweilen sich. Grisebach stellt zwei von ihnen gegenüber: Vincent, den Vorarbeiter, der mit aller Macht und deutscher Gründlichkeit und vor allem, wird sich zeigen, um jeden Preis, auch um den eines Lebens, versucht, was weiter zu bringen. Und Meinhard, den Neuen, der viel vom Job versteht, aber irgendwie seltsam ist.

Meinhard findet in der Nähe der Baustelle einen weißen Hengst. Er geht ins Dorf, um zu fragen, ob er das Tier reiten darf. Er darf, und kommt immer wieder, leise Freundschaften entwickeln sich, vor allem zum Dorfvorsteher Adrian. Die beiden verstehen einander, ohne die Sprache des anderen zu können. Meinhard hilft den Männern Zäune auszubessern, den Frauen Tabak zum Trocknen aufzuhängen, doch die „Kumpels“ folgen ihm ins Dorf. Die Konflikte, davor war nur eine deutsche Flagge, die die Arbeiter über ihrem Lager gehisst hatten, um die „Dorfis“ zu ärgern, heimlich gestohlen worden, brechen offen aus.

Vorarbeiter Vincent versucht den Bautrupp bei Laune zu halten: Reinhardt Wetrek (Mitte). Bild: © Komplizen Film

Wenig diplomatisch hissen die Männer über ihrem Lager die deutsche Fahne. Bild: © Komplizen Film

Deren schlimmster ist ein Streit um Trinkwasser. Es gibt in der Gegend nicht genug davon, also an der Pumpe an der Quelle einen Hebel, der das Wasser einmal Richtung Dorf, einmal Richtung Lager fließen lässt. Vincent will alles Wasser allein für seine Männer und sich, er wird das weiße Pferd nehmen und zur Pumpe reiten, und ein Unglück wird passieren. Und Meinhard wird es rächen, indem er sich die Frau nimmt, in die Vincent sich verguckt hat …

Es ist großartig, wie Grisebach alle Momente des Western-Genres bedient, ohne in ihnen jemals plakativ zu werden, ohne überkompensieren. Zum Stil im Sinne der beiden Sergios trägt maßgeblich die Kameraarbeit von Bernhard Keller bei, der unter gleisender Sonne eine karge, staubige Landschaft so fotografiert, dass sie fast schon wie abstrakte Malerei wirkt. Inszeniert ist das alles mit einer unruhigen Handkamera, deren Bilder mit langen, statischen Einstellungen wechseln: Wälder, Wege, Unwegsamkeiten –  in Gestalt einer Sisyphos-Arbeit.

Dazwischen werden auch optisch Westernräume aufgemacht, etwa, wenn offene oder geheime Blicke gewechselt werden, und Keller in die für Duelle übliche Schuss-Gegenschuss-Perspektive wechselt. Auch die Darsteller sind mit viel Fingerspitzengefühl in Szene gesetzt. Allen voran Meinhard Neumann als Meinhard, dessen stoische Präsenz die Kamera gekonnt auffängt. Der Schauspieler, hauptberuflich Schausteller, Trödelhändler und Arbeiter in der Automobilindustrie, gibt den Anti-Helden wie aus dem Buche. Ein großer, gebeugter und doch irgendwie eleganter Mann, dem man in seiner Körpersprache, denn gesagt wird im Film ja wenig, durchaus auch Narzissmus unterstellen kann. Einmalig sein Gesicht, das übers Nicht-Zeigen der Gefühle zeigt, wie viele dahinter stecken.

Es arbeitet unablässig in diesem Gesicht, die Angst es zu verlieren, dass die Züge entgleisen und die Kontrolle auf der Strecke bleibt. Denn der Mann, der sich anfangs so klein macht, den alle für einen Loser halten, der augenscheinlich mehr als andere eingesteckt hat, hat natürlich ein Geheimnis. „Legionnaire“, entfährt es ihm einmal, als Adrian fragt, was er früher gemacht hat. Gelächter auf deutsch-bulgarischer Seite, keiner glaubt’s, bis sich Meinhard im Zweikampf – dies ja auch eine berühmte Eastwood-Angelegenheit – enttarnen muss.

Zu Adrian entsteht fast eine Freundschaft: Meinhard Neumann und Syuleyman Alilov Letifov. Bild: © Viennale

Westernheldenpose: Meinhard stellt sich zwischen die „Dorfis“ und die Bauarbeiter: Meinhard Neumann. Bild: © Viennale

Der Ostberliner Reinhardt Wetrek, Gerüstbauer und zum „Western“-Casting nur gekommen, weil er seiner 12-jährigen Tochter zeigen wollte, dass er sich traut, ist Meinhards Gegenspieler, ist Vincent, der Bauleiter der Truppe. Auch er ein vielschichtigerer Charakter, als man auf den ersten Blick glauben möchte, zeigt er doch einerseits eine Großmäuligkeit, die Männer seines Schlages alles andere als beliebt macht, doch auf der anderen Seite ist er von Pflichterfüllung und der Sorge um seine Mitarbeiter zerfressen. Er verkörpert die Landnehmermentalität der Menschen aus Industrieländern, er ist ein Pionier, der sich die Wildnis unterwerfen will.

Wetreks Vincent ist um nichts weniger undurchsichtig als Neumanns Meinhard, sein Spiel ebenso eindrücklich, seine Figur ein ebenfalls schwieriger Charakter, seine ständigen Anrufe daheim, ob seine Frau fremd geht, und er wird Meinhard auch nichts schenken. Diesem vermeintlichen oder tatsächlichen Konkurrenten um die Machtstellung in den Bergen.

Die tatsächlich der Dorfobere Adrian, gespielt von Syuleyman Alilov Letifov, hat. Er ist ein Fädenzieher, der auch die Ostmafia und ihren Kies im Griff hat. Lange Zeit fragt man sich, ob die Dorfbewohner die deutsche Baustelle, die letztlich zu ihrem Wohle sein soll, boykottieren. Vorurteile gibt es jedenfalls auch von dieser Seite, beim Kartenspielen kann man die reichen Nemskis ruhig abzocken, und Missverständnisse und Misstrauen. „Western“ – und der Titel dieses klugen und leisen Films von enormer Tiefe ist so ironisch wie korrekt gewählt – zeigt eine Männerwelt, auf beiden Seiten Macho-Gehabe und Hahnenkämpfe, dass das Testosteron nur so von der Leinwand tropft, und in dieser Welt entpuppen sich nicht alle Dorfbewohner als arglos …

„Die Welt ist Fressen und Gefressen Werden“, sagt Meinhard zu Adrian an einer Stelle. In einer der schönen Szenen, in denen die beiden nächtens über Familie und deren Verlust reden. Nach eineinviertel Stunden Film kommt da von Meinhard die erste (und letzte) Emotion.

Valeska Grisebach im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=27063

www.viennale.at

www.western-der-film.de

  1. 10. 2017