Volkstheater: Die Politiker

September 5, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sozialsystem reimt sich auf Hände in der Creme

Andreas Beck, Rebekka Biener, Bettina Lieder, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Samouil Stoyanov, Stefan Suske, Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

„Gibt es Fragen bis hierher?“, so wendet sich Samouil Stoyanov zwischendurch ans Publikum. Äh – jein? Dessen fast noch neuer Intendant Kay Voges eröffnete die neue Saison am Volkstheater mit Wolfram Lotz‘ „Die Politiker“. Eine österreichische Erstaufführung, die Anmerkung dazu später. Was Lotz liefert und Voges ausstellt, ist dramatisierte Lyrik, ein für die Bühne erdachtes Gedicht, ein Sprachsoundtrack, aus dessen Wortkaskaden vor allem eines deutlich wird: Politiker, Politika, Politikae, Politiker et cetera pp …

Daraus Erkenntnisgewinn ziehen zu wollen, ist ebenso sinnvoll, wie einem Frosch das Singen beizubringen, vielmehr muss man sich von diesem Gedankenstrom, diesem Un-/Bewusstseinsstrom mitreißen lassen, der die Akustik politischer Gegenwärtigkeiten unter reichlich Rauschen über die Rampe schwappt, hinein in einen Zuschauerraum Fleisch gewordener Fragezeichen. Die Assoziationskette wie der Geduldsfaden, sie reißen mancher und manchem schon beizeiten.

Was man aus diesem Abend jedenfalls mitnehmen kann, ist dies: Das renovierte Haus kann technisch Tausend, was gut ist, denn Voges ist mit dieser Grandiositätsapparatur offensichtlich nicht angetreten, um zu kleckern, sondern zu klotzen. Und er hat dafür ein wunderbares, wortdeutliches Ensemble um sich versammelt, Charakterköpfe, wie von FX Messerschmidt gemeiselt, die mit einer Verve durch den Textraum turnen, die Gefühle, Zitate, Gerüchte, Beobachtungen derart hochmusikalisch ineinander morphen, dass man sich auf weitere Begegnungen mit ihnen freut.

Bevor Andreas Beck, Rebekka Biener, Bettina Lieder, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Samouil Stoyanov, Stefan Suske, Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich zum Zug kommen, ist aber erst mal ein kleiner Kameraroboter in Reihe sieben dran, der Naturaufnahmen des kanadischen Filmemachers Michael Snow mit Livebildern des Publikums überblendet. Zu leuchtend-luziden 3D-Anmutungen, die Lotz‘isch kaleidoskopisch rotieren, während die Live-Musik von Dana Schechter und Paul Wallfisch dröhnt, dass die Tribüne es einem durch Mark und Bein vibriert.

Uwe Schmieder, Samouil Stoyanov, Nick Romeo Reimann, Stefan Suske und Christoph Schüchner. Bild: © Marcel Urlaub

Die großartige Gitte Reppin2 dank der Live-Kamera. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Andreas Beck vor dem gläsernen Büro-Karussell. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Bettina Lieder, Samouil Stoyanov, Rebekka Biener und Uwe Schmieder. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

„Die Politiker“, da wird nicht nur für die Augen was geboten, da gibt’s auch ordentlich was auf die Ohren. Aus dem Halbdunkel schälen sich dreizehn Gestalten in Weiß, noch schlafen sie in ihrer Brutstätte, doch gleich werden sich die Areopagiten erheben, als choreografierter Chor à la griechischer Tragödie, in die Jetztzeit geworfen, um die Polis über „Die Politiker“, die πολιτικά/politiká zu unterrichten. Im Setting von Michael Sieberock-Serafimo- witsch – Kostüme: Mona Ulrich, Video Art: Max Hammel, Marvin Kanas, Roboter-Programmierung: Mauritius Luczynski, Live-Kamera: Manuel Bader – dreht sich ein Karussell gläserner Büros um eine Art Agora, der antike Eindruck verstärkt durch die mit Bildschirmen bewehrten David von Michelangelo und Nike von Samothrake.

Was nun auf diversen Screens, groß, klein, überdimensional, multiperspektivisch anhebt, ist ein Klagelied, und ja, der Chor singt auch, eine poetische Überflutung an Erwartungen, Entsolidarisierungen, Verärgerungen, Klischees, alternativen Wahrheiten, Stammtisch-Weisheiten, Paranoia – und Absurdität. „Die Politiker“, sie sind Hass-Subjekte, Hoffnungsträger, Un-/Heilsbringer, Projektionsfläche, Verantwortliche für eigenes und fürs eigene Versagen. All dies ist nicht bis zum heraufdämmernden Erklärungsnotstand durchdekliniert. Kay Voges‘ Inszenierung ist ein Gesamt-Überforderungs-Kunstwerk, Theater der Grausamkeit reloaded, dass der alte Artaud seinen Spaß daran gehabt hätte.

Voges‘ Albtraum-Ringelspiel ist intensiv, aufwühlend, amüsant, irrwitzig, ironisch, und wer die Sogwirkung der Performance leugnet, der lügt. Lotz fabuliert nach reim dich, oder ich fress dich, Sozialsystem auf Hände in der Creme; eins der lässigsten Gadgets ist die Gesichterparade von Caesaren über Stalin, Mao, die Kennedys, Obama, Putin … bis zu Super Mario. Die Spielerinnen und Spieler sind allesamt Autoren-Ichs (einmal auch Lotz‘ Katze), die – mal die, mal der – aus der Reihe und zu einer spezifischen Suada antreten.

Bettina Lieder, Ensemble, vorne: Uwe Rohbeck. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Zwischen hausbackener Kauzigkeit, Marktschreierei und dem Aufzählen von Salatsorten, zwischen Hauskatzen und Hitler fällt einem Anke Zillich auf, Andreas Beck nach dem „Theatermacher“ einmal mehr, ebenso wie Uwe Rohbeck (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=46859), immer wieder Stefan Suske, Gitte Reppin2 dank der Live-Kamera, Nick Romeo Reimann mit den

totenweißen Augen, Heimkehrer Christoph Schüchner, der in Sofia geborene, in Linz aufgewachsene Samouil Stoyanov, der die Sympathiewerte, wie’s die Wienerinnen und Wiener so gern haben, zum Publikumsliebling mitbringt – wie Beck und Stoyanov fassungslos einem flüchtenden Zuschauerpaar nachgaffen, wirkt’s wie bestellt.

Uwe Schmieder schließlich, per se ein Teiresias, dem die zweifelhafte Ehre eines Arschfickerei-Monologs zukommt, dada-gaga, doch ein bundesdeutsches Namedropping, zu dem sich hierzulande kaum Bezug herstellen lässt. Eingedenk der Tatsache, wo die Herrschaften nunmehr Theater machen, und da Lotz bei der Premiere ohnedies anwesend war, ließe sich dieser Absatz vielleicht verösterreichern?

„Wollen wir in so einer Kultur leben?“, fragt Schmieder. Durchaus. Zumal als nächstes eine Dostojewski-Dramatisierung und Susanne Kennedys „Drei Schwestern“ nach Tschechow anstehen. Theater, dies nicht zu vergessen, darf polarisieren, die Geister scheiden und erboste Buh-Rufe provozieren. Es darf nur eines nicht: langweilen. Und das tun Kay Voges und Team keineswegs. In diesem Sinne ist „Die Politiker“ eine Herausforderung, eindreiviertel pausenlose Stunden an genüsslich zelebrierter Repetitionserotik mit einem Ensemble, dass sich mit Lust die Lotz’schen Un-/Sinnsätze auf der Zunge zergehen lässt. Was das Weitere betrifft: Herausforderung angenommen!

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  1. 9. 2021

Volkstheater: Der Theatermacher

Mai 27, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Thomas. Bernhard. Dekonstruktion

Der Theater-Blutwursttag war manchem im Publikum nicht Blunzn: Uwe Rohbeck, Nick Romeo Reimann, Anna Rieser und Anke Zillich. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

„Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“, das ist seit 35 Jahren des Publikums liebstes Thomas-Bernhard-En­t­rée, in launiger Runde längst zum Zitat geworden, und man erinnert sich: Traugott Buhre, Kirsten Dene, Josefin Platt, Martin Schwab, Bibiana Zeller, der sprachlos seine Hängebäckchen schwabbeln lassende Hugo Lindinger. „Als ob ich es geahnt hätte“, brachte der neue Volkstheaterdirektor Kay Voges, wie’s alle antretenden Intendanten tun, seine

bühnenerprobte Inszenierung vom „Theatermacher“ mit nach Wien. Gestern Dortmund, heute V°T, übermorgen …? … Fotzbach. Hatte man auch schon überlegt, diese Rezension zu titeln. Oder: Thomas. Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall. Doch das ist ja aus dessen Prosa, und mit seinem „Mein Gott / nicht einmal zum Wasserlassen / habe ich diese Art von (Gast-)Häusern betreten“, fährt Andreas Beck den ersten Lacher ein, denn – Text-Bild-Schere – das Volkstheater glänzt derart in seiner frischrenovierten Pracht, dass es eine Freude ist. Von wegen Utzbach wie Butzbach, die zum House Warming angetretene Truppe wird sich damit arrangieren müssen, dass Wien sich für den Theaternabel der Welt hält.

Immerhin: Voges und Team wurden freundlicher empfangen, als ihre VorgängerInnen, bis auf ein paar vehemente Buh-Rufer gab’s viel Applaus, vor allem absolut verdient für die Darstellerinnen und Darsteller. Der Rest wird die Geister scheiden, in jene, die jedes Bernhard’sche Wort für sakrosankt halten, und jene, die dem postmodernen Dekonstrukteur und notorischen Theatertechnikinnovator Kay Voges bereit sind, auf seinem Weg zu folgen. Die zuletzt verloren gegebene Schlacht ums Stammpublikum – tja, man wird sehen. Leicht konsumierbar ist, was zu erwarten war, jedenfalls nicht.

Zum Atemanhalten also die Frage, ob’s und wie’s den – schon wieder – deutschen Theatermachern gelingen wird, den urösterreichischen Nestbeschmutzer über die Rampe zu bringen. Und die erste Dreiviertelstunde wird man tatsächlich im Alles-Roger-Glauben gehalten. Die Bühne von Daniel Roskampf ist eine Baustelle, wie‘s das Dortmunder Schauspielhaus weiland war. Sichtbeton, Staub, eine Sprinkleranlage, zwei Rolltore, vier Feuermelder, fünf Notbeleuchtungen, neun Feuerlöscher. Alles sehr vorschriftsmäßig.

Auch Andreas Beck, ein Bär (den’s später aus der Requisite geben wird) von einem Mann, der den Bruscon ohne die üblichen Mimen-Mätzchen anlegt, mit funkelnder Sprache und glasklaren Schimpftiraden, hinter denen die Gefährlichkeit der Verzweiflung lauert. Kongenial an seiner Seite Uwe Rohbeck als wieselflinker, spindeldürrer Wirt des „Goldenen Hirschen“, in dessen Tanzsaal der Staatsschauspieler mit seiner Sippschaft seine selbstverfasste Menschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“ aufführen will.

Jeder darf Bruscon sein: N. R. Reimann. Bild: © N. Ostermann / Volkstheater

Anke Zillich, hi.: Uwe Rohbeck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

und Punk Anna Rieser. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Beck ist ein mächtiger Bruscon, der sich dessen überschnappende Suada auf der Zunge zergehen lässt. Zu den Schwerfälligkeitsmenschen, den Inkompetenzschmierern, der hustenden Gattin, den untalentierten Kindern, dem Machtmenschen Feuerwehrhauptmann Attwenger, im Saal sitzend, „seltsam verwachsene Menschen, hässlich, mit Masken, wahrscheinlich eine Seuche, Schweinepest“, fügt er andere hinzu: „Intendantenpipi, Intendanten- pimmel“, „Ist doch alles zu, nur bis 22 Uhr offen“, „Die nächsten 14 Tage werden entscheidend sein“. Und etwas stutzig macht hier der queere Wirt und wie er seinen enormen Gast studiert, ihn kopiert. Warum das alles?

Weil sich hier das Rad der Geschichte unablässig dreht, nach ein wenig Verdi beginnt alles von vorne, die Theaterwiederholungsqual, die lebenslängliche Theaterkerkerhaft. Oben am Portal leuchtet von neunen nun die Zahl zwei auf, jahaha, so oft wird’s revolviert werden, „Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“. Runde zwei ist schneller, härter, schnoddriger. Beck spielt mit verschärftem Tempo, gelockerter Zunge und würzt den Text mit mehr und mehr improvisiert-aktuellen Anspielungen.

Ein Eisbär, dessen Augen rot glühen, wird auf die Bühne geschoben und schließlich, um deutlich zu machen, wer der wichtigste Theatermacher im Lande ist: eine Hakenkreuz-Parodie. Die eingegipsten Arme von Sohn Ferruccio, Nick Romeo Reimann, verdoppeln sich von eins auf zwei. Wieder bei der Frittatensuppe angekommen, geht’s zur #3, Beck und Rohbeck tauschen die Rollen, die beiden ein grandioses Komödiantenduo und der spillerige Rohbeck im Nadelstreif eindeutig ein Kay-Voges-Lookalike. Wohingegen Beck nun der denkbar schlechteste Stichwortgeber ist, körperlich ein Rohbeck hoch3, der dem hippelig hampelnden Hochkulturgenius hinterherhinkt.

Das beiläufige „Heute ist Blutwursttag“ wird zum Minimelodram, nicht jeder auf den Rängen goutierte die dazu servierten Hakenkreuz-Tutus. Wie auch immer, Beck und Rohbeck werden dem Wiener Prädikat Publikumsliebling wohl nicht mehr entgehen. Und weiter geht’s zur Leuchtziffer vier unterm Castorf’schen Räuberrad. Nun wird Sohnemann Reimann zum hellblau-gestreiften Theatermacher und singt den Bruscon-Text im grausigen Musicalton, während Andreas Beck als voll vergipster Sohn im Elektrorollstuhl herumfährt. Das Tempo beschleunigt sich weiter, die Späße werden gröber.

Tauschen alsbald die Rollen: Andreas Beck und Uwe Rohbeck. Bild: © Birgit Hupfeld / Volkstheater

So stellt man sich den Theatermacher vor: Uwe Rohbeck. Bild: © Birgit Hupfeld / Volkstheater

Andreas Beck, Anna Rieser, Nick Romeo Reimann und Eisbär. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Nick Romeo Reimann und im Ganzkörpergips Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Danach rast das Ensemble bei den Nummern 5 bis 8 in die Abgründe eines Albtraums, in dem die Mutter, Anke Zillich, die Theaterhölle dirigiert. Sie und Tochter Sarah, die herrlich koboldhafte Anna Rieser als Macho-Punk, den Busen mit schwarzen Klebestreifen ausgeixt und die Schrift „Fickt die Väter“ auf dem Jackett tobt sie durch die Zuschauerreihen, sind jetzt die Theatermacherinnen und verkehren alle Machosprüche in ihr Gegenteil: „Mit Männern Theater zu machen ist eine Katastrophe.“ Das ist das ultimative Gendern der Kunst. So manche freut’s, so mancher, der Herr hinter einem etwa, reagiert, als hätte es wer gewagt, die Bibel umzuschreiben.

Theaterblut fließt am Blutwursttag, die Spielregeln zwischen dies- und jenseits der Bühnenrampe, diese „jahrtausendealte Perversität, in die die Menschheit vernarrt ist“, löst sich auf in chaotische Effekte. Die Theatertechnik zieht ein Register nach dem anderen. Harte Beats, rotierende Scheinwerfer, wirbelnde Schriftprojektionen von Schimpfwörtern, verzerrte Stimmen. Nebel und horrorbunte Farben fluten die Bühne, an den Wänden schlängeln sich grandiose halluzinogene Videos von Mario Simon.

Dass die Echoräume des Bernhard’schen Stücks sich verschoben hätten, wo heute doch jede und jeder seine Rants und rückkoppelnden Empörungsschleifen in den Social Media loswerden könne, beschreibt Kay Voges seine Arbeit. Sein Performance-Parforceritt ist eine Tiefenbohrung sowohl in Text als auch zeitgenössische Theatergeschichte, von Apostel Peymann zu Zertrümmerer Castorf, von Musical-Kitsch zu aktionistischem Feminismus, von Diskurstheater zu toxischer Männlichkeit. Ein Horror. Ein Horror, der nicht ohne sich stetig schneller drehenden Empörungsspirale, theatraler Selbstironie und kritischer Selbstbefragung abgeht. Wie noch Schauspiel, wie Volkstheater machen im post-post-post-Zeitalter?

Voges fördert zutage, was Bernhard heute und für alle Zeiten ausmacht. Eine Aktualität, die in den Eingeweiden der Theaterhäuser rumort, und Voges sticht mitten hinein ins Schweizerhaus-Stelzenfett* der hiesigen Bernhard-Verehrung. Nun heißt es gespannt sein auf Lucia Bihlers, sie die Hausregisseurin der Berliner Volksbühne, Version der „Jagdgesellschaft“ am Akademietheater. Prognose: So frisch, provokant und kontroversiell wie im Jahr seines 90. Geburtstages hat man den mittlerweile Salonklassiker Thomas Bernhard auf heimischen Bühnen lang nicht mehr gesehen.

[Anm.: www.youtube.com/watch?v=hh4haKOmm68]

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  1. 5. 2021

Volkstheater calling: Tausend Wege – Ein Telefonat

März 31, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Auf der Suche nach dem tieferen Sinn

Bild: pixabay.com

Nach dem grandiosen Audiowalk „Black Box“ von Rimini Protokoll (www.mottingers-meinung.at/?p=44747, Termine für April sind geplant) präsentiert das unter der neuen Intendanz von Kay Voges der Wiedereröffnung harrende Volkstheater ein weiteres Lockdown-taugliches theatrales Erlebnis. Das US-amerikanische Kollektiv 600 Highwaymen aka Abigail Browde und Michael Silverstone unterbreitet seine

hochgelobte Produktion „Tausend Wege – Ein Telefonat“ erstmals einem deutschsprachigen Publikum, der Text dafür eigens vom Volkstheater ins Deutsche übersetzt und angepasst – und seit gestern via Telefonat mitzuerleben. 600 Highwaymen arbeiten stets an der Schnittstelle von Theater, Tanz, zeitgenössischer Performance und Begegnung mit dem Publikum. Die Truppe wurde von Le Monde als „Vorreiter des zeitgenössischen Theaters“ und vom New Yorker als „eine der besten unkonventionellsten Theatergruppen New Yorks“ bezeichnet. Neben ihrer Arbeit in den Vereinigten Staaten ist das Kollektiv regelmäßig international tätig, auch in Europa, wo es unter anderem bei den Salzburger Festspielen gastierte.

2017 waren Browde und Silverstone für einen Nestroy in der Kategorie „Spezialpreis“ nominiert, für ihre ebendort zu sehende „Neuerfindung“ von Horváths „Kasimir und Karoline“ (www.mottingers-meinung.at/?p=26529). Enigmatisch ist ein Wort, das man mit den Projekten von 600 Highwaymen getrost verbinden kann, dieses gleichsam ein Synonym für „Kennst dich eh aus?“, und „Tausend Wege – Ein Telefonat“ nun eine Stunde Telefontheater mit einer Computerstimme und einer unbekannten Person, im konkreten Fall einer zweiten Zuhörerin, die sich ebenso wie man selbst via einer zugemailten Nummer einwählt, eine am Küchen-, eine am Schreibtisch, zwei Handys und ein wenig guter Wille für ein bisschen Kopfkino.

Person A und Person B folgen dazu einer Reihe von Anweisungen. Zwei Fremde, dies die Intention dahinter, nämlich Intimität zu erzeugen in einer Gesellschaft, die sich mit Intimität zunehmend schwerer tut, sollen so ihr Bild des jeweils anderen entwerfen und dabei im besten Falle die Grenze zwischen Unbekanntem und Vertrautem, die Wirkung von Distanz und Nähe in Zeiten der Isolation erforschen. Die KI-Generalissima der ganzen Chose, eindeutig mit zu wenig I programmiert, veranlasst einen sich in der Vorstellung sichtbar zu machen, Vorstellung in doppeltem Sinne, soll doch das so skizzierte Selbstporträt vorm inneren Auge des anderen erscheinen.

Wen liebt man, was ist einem wichtig?, gute Charaktereigenschaften, auch schlechte Angewohnheiten, mehr und mehr wird die Stunde zum Seelenstrip, Hemmungen hat man kaum, weil man den anderen ja weder kennt noch sieht, doch „wie einer der sieht“, soll man das Gegenüber festhalten. Dazu erzählt die Computerstimme in Etappen eine Story: Als A und B ist man offenbar mit dem Auto in einer Wüste liegengeblieben, eine menschenleere Sandpiste, Qualm aus dem Motor, im Hintergrund – hört man da wirklich einen Mann rufen: „Raus mit euch! Schnell!“, soll man zur nächsten Stadt laufen?, die Haut bald trocken und staubig, zu dritt verirrt im Nirgendwo … Das alles entwickelt sich enervierend langsam, und dass die Computerstimme teilweise fast unverständlich ist, macht das Telefonat nicht weniger anstrengend.

Tausend Wege – Ein Telefonat. Bild: © Ulrike Schild/Volkstheater

Tausend Wege – Ein Telefonat. Bild: © Ulrike Schild/Volkstheater

Tausend Wege – Ein Telefonat. Bild: © Ulrike Schild/Volkstheater

Tausend Wege – Ein Telefonat. Bild: © Ulrike Schild/Volkstheater

Auf ein keck herausforderndes „Wir haben dich nicht verstanden, Suri!“ kann die Stereotype nicht reagieren, sie geht auf ihre Mittelefoniererinnen und deren Angaben gar nicht ein – zum Beispiel: „Kannst du nähen?“- Ich: „Nein.“- „Klasse!“ -, sie redet einfach weiter. Längst schon unterhält man sich mit der anderen Teilnehmerin über „Suris“ Gesäusel hinweg, man hatte Glück mit einer sehr sympathischen Partnerin, die im Bereich künstlerischer Ausbildung tätig ist. Dieses Gespräch ist spannend.

Die Suche nach dem tieferen Sinn. Wenn’s das ist, was 600 Highwaymen geplant hatten, ist die Übung geglückt. Am Ende der 60 Minuten tauscht man Klarnamen und Kontaktdaten aus, eine Fremde wurde einem tatsächlich nähergebracht. „Eines Tages“, sagt die Computerstimme, „werden wir hierüber lachen. Eines Tages wird das eine tolle Geschichte sein, wird das hier etwas sein, dass wir niemals vergessen werden.“ Nicht übertreiben, Fräulein Sprachassistentin! Da halten wir uns lieber an deinen Satz: „Das hier sind bloß Fragmente, lückenhaft.“

Denn das ist es auch, und mutmaßlich der Grund, warum „Tausend Wege – Ein Telefonat“ nicht so recht zündet. „A Thousand Ways“ ist von 600 Highwaymen als Triptychon entworfen. Auf den vom Volkstheater umgesetzten „Part One: A Phone Call“ folgt „Part Two: An Encounter“, bei dem die Mitmachenden an einem Tisch einem Fremden gegenübersitzen, mit einem Stapel von Indexkarten, einer Handvoll Objekte und einem Satz von Anweisungen. Darauf folgt „Part Three: An Assembly“, eine Zusammenkunft aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ein abschließendes kollektives Erlebnis.

Vielleicht hat Kay Voges diesbezüglich Post-Corona-Pläne? [Beim Singapore Int’l Festival of Arts und im Walker Art Center in Minneapolis läuft Part Two bereits ab Mitte April.] Dann sollte man sich „Tausend Wege – Ein Telefonat“ nicht entgehen lassen. Es wäre doch schade, nicht Teil davon zu sein, wenn sich die Frage, wo die Reise hingeht, endlich aufklärt …

Termine bis 22. April, jeweils 17.30, 19.00 und 20.30 Uhr.

www.volkstheater.at           www.600highwaymen.org           Trailer: www.youtube.com/watch?v=wjvfMiwsc5Q

  1. 3. 2021

Volkstheater online: Die Recherche-Show

Februar 13, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine trashige Talkshow verleiht sich Flüüügel

Red-Bull-Song: Thomas Pfeffer und Martina Zinner. Bild: © Nikolaus Ostermann

Nach dreißig Sekunden sind alle Stimmen abgegeben und die Auszählung ergibt: 75 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer trinken nie Red Bull. Später wird im Chat jemand fragen: „Antwortet ihr ehrlich?“, und Ja! – man kann sie nicht einmal riechen, die picksüßen Dosen. „Ein Geschmack, der im Körpergedächtnis bleibt“, sagt Schauspielerin Martina Zinner. Und in derart deftigen, Dosen nämlich, beginnt die „Recherche-Show“.

Dieser Mix aus investigativer Journalismus meets trashige Talkshowparodie meets Publikumsinteraktion, freundlich vielleicht Forum-, sicher aber dokumentarisches Theater zu nennen, ist des neuen Direktors Kay Voges erster Streich. Das heißt: eigentlich der von Calle Fuhr, dem das V°T//Bezirke seit Jänner ja überantwortet ist – doch ging man, da die übliche Tour Corona-bedingt nicht möglich ist, via Zoom-Meeting mit dem Projekt online.

Das war zunächst eines des Recherche-Magazins Dossier, dessen Redaktion monatelang über den Weltkonzern, den reichsten Mann Österreichs aka Dietrich Mateschitz und seine schöne neue Medienwelt forschte. Kein leichtes Unterfangen, da der Selfmademilliardär his story am liebsten gar nicht, wenn aber, dann mit €€€€ an Eigenmarketing erzählt, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Schweigegelübde ernster nehmen als die Chartreuse-Mönche.

Man kennt das aus eigener Erfahrung, Servus TV ist selbst dann keine Silbe zu entlocken, wenn man über eine seiner Sendungen positiv berichten will. Die bitteren Wahrheiten übers Zuckerwasser haben nun Regisseur Ed. Hauswirth und Kreation Kollektiv in der neuen Spielstätte Dunkelkammer ans Licht gezerrt.

In Form einer Satirediskussionsrunde, die Pia Hierzegger moderiert, während „ihre Gäste“ Rupert Lehofer, Julia Franz Richter und Martina Zinner Geheimnisse wie Dosen knacken, und Live-Musiker Thomas Pfeffer Synthesizerklänge zum Besten gibt. Die Bühnen- ist eine Sitzlandschaft, eine Aerosole abschmetternde Riesencouch, rundum glitzert’s und funkelt’s, wenn die Vorhänge nicht gerade für die Feldarbeit freigeben werden.

Die dabei entstandenen kurzen Filmclips werden es auch sein, die einem von diesem Abend im Gedächtnis bleiben. Der Vater von Mich Kemeter, der schon die Mateschitz-Mama, „die Frau Lehrerin“, in Hymnen preist. Frau Gerti, die an Servus TV-Intendant Ferdinand Wegscheider lobt, dass er sagt, was man heute nicht sagen darf. Zum Beispiel über den ganzen Corona-Schmäh. Es wird ja sofort die Nazikeule geschwungen, dabei ist man nur Patriot! Zwischendurch befragt Hierzegger den Dossier-Journalisten Georg Eckelsberger.

Er, der daheim vorm Laptop sitzende, sachliche Ruhepol in all der Skurrilität, die er doch selbst mitverantwortet. Denn was zum Teil enthüllt wird, ist zu gut, um ausgedacht zu sein. Die Red Bull Favela Challenge, Downhill-Biken in den Slums von Rio de Janeiro … Rupert Lehofer wollt’s grad erfinden, und kriegt einen halben Nervenzusammenbruch, als er erfährt, dass nichts zu blöde ist, um nicht banal zu sein. Rupert, der die Rolle des Verstehers und Verteidigers dieses blausilbrigen Lebensgefühls innehatte – nun vom Glauben abgefallen.

Rupert Lehofer stellt sich der Red Bull Favela Challenge und wird schwer enttäuscht. Bild: © Nikolaus Ostermann

Das Lächeln trügt: Pia Hierzegger ist eine strenge Moderatorin der Recherche-Show. Bild: © Nikolaus Ostermann

An ihren Händen klebt „Trakehnerblut“: Julia Franz Richter mit Pia Hierzegger und Martina Zinner. Bild: © Nikolaus Ostermann

Erst die „Gummibärlis“ machten Red Bull zum Erfolg: Hierzegger, Zinner und Richter. Bild: © Nikolaus Osterman

Viel mehr Neues ist über mutmaßlich nicht gefundene Leichen im Fuschlsee nicht zu erfahren, zum undurch- sichtigen Steuerverhalten verlangen in einer weiteren Umfrage immerhin 32 Prozent ein hartes Durchgreifen, das Ende der Recherche-Plattform Addendum, die Kündigung aller Servus TV-Mitarbeiter in einem Aufwaschen als Strafe für Betriebsratsgelüste … eine Weltkarte wird mit Stieren zugepflastert, Dididampf in allen Gassen, Hierzegger serviert Sankt Mareiner Stierhoden auf – Achtung! – Blattsalat, Felix „Spaceballs“ Baumgartner darf nicht fehlen, samt einem Baumgartner-Höhe-Wortspiel. Nun werden „Gummibärlis“/Wodka-Red-Bull gemixt.

Es wird ein Lied aus den 3600 von Mateschitz markenrechtlich geschützten Wörtern gesungen, Zinner, die Poetin der Runde, trägt Gedichte vor. Eines erinnert an den verstorbenen Cory Terry. Julia Franz Richter muss sich aufziehen lassen, weil sie die Hauptrolle in „Trakehnerblut“ hatte. Die seriösen Stellen sind Männerbündlern und ihrer Kreislaufwirtschaft gewidmet – Richters feministischer Lieblingsfokus. Überzeugt davon, dass die Red-Bull-AnwältInnen zuschauen –  ja, Pia Hierzegger, deren grantig-grimmiger Humor den Klang des Abends ausmacht, kann das Binnen-I sogar sprechen -, gibt es kurz Tonausfall. Ein Anschlag auf das Studio – jahaha! Auge!

Den authentischsten Moment hat das Ganze aber ausgerechnet bei der Abrechnung mit dem Pferde-Soap-Star. Wie Julia Franz Richter ihr TV-Gestütserbin-Dasein runterspielt, mit vor Peinlichkeit fast versinkender Stimme: Stimmt, es waren 50 Drehtage! Wie sie ein schrilles „Wenn mein Freund mir alle Rollen schreiben würde, dann würd‘ ich auch nicht in solchen Serien mitspielen“ Richtung Josef-Hader-Gefährtin Hierzegger schleudert, und Martina Zinner als „Schärdingermagd“ anprangert, solch Selbstreflexion übers „Wie man lebt“ hätte die Aufführung an mehr Stellen vertragen – wird sie via Umfragen doch auch von unsereins verlangt. Doch Hierzegger regiert mit Schweigt-stille-Blick und Nur-Ruhe-Pose.

Zum Schluss gab es für die „Recherche-Show“, die deutlich weniger aufklärerisch als schräg ist, virtuellen Applaus mittels Hand-Emojis. „Jedem Mensch‘ wachsn zwa Flüüügerl“ wird noch intoniert, und schade ist nur, dass der hochspannende Chat des Publikums – von wegen interaktiv – in keiner Weise in den Abend eingeflossen ist. Auch hätte man sich mit Ensemble und Eckelsberger eine gemeinsame Nachbetrachtung im Nesterval-Stil gewünscht – bei „Goodbye Kreisky“ wurde bis eine Stunde nach Ende der Aufführung miteinander diskutiert. Hier sieht man Kay Voges und die Seinen Sekt süffeln. Auch schön. Und verdient.

www.volkstheater.at           www.dossier.at

  1. 2. 2021

Volkstheater: Kay Voges präsentiert den ersten Spielplan

November 10, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Start mit Jandl, Bernard, Jelinek; neue „Black Box“ unterm Dach; Calle Fuhr übernimmt die Bezirke

Kay Voges beim Videodreh. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Mitten aus der Baustelle Volkstheater meldet sich der neue Direktor des Hauses zu Wort: #Corona-bedingt präsentiert Kay Voges seinen ersten Spielplan via Videobotschaft – und die ist schon eine Inszenierung für sich. Umringt von lebenden Mädchenpuppen, Napoleons und Nazis beschreibt er das Volkstheater neu als Raumgeber für darstellende wie bildende Kunst, und für den politischen Diskurs. „Das Volkstheater ist ein Ort der Kunst und der

Auseinandersetzung, für Literatur und Grenzerfahrung, Gegenwart und Utopie, Diskurs und Pop“, sagt Voges über seine Pläne. Vom Ensemble sind Evi Kehrstephan, Claudia Sabitzer, Stefan Suske und Günther Wiederschwinger geblieben, Birgit Stöger beispielsweise zeigt bereits im Kosmos Theater mit „Frau verschwindet (Versionen)“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=42119) ein weiteres Mal ihr Können, die anderen von Voges vorgestellten Schauspielerinnen und Schauspieler kennt man in Wien noch nicht, man darf also gespannt sein. Auf diesen, wie Voges es nennt, „Teamsport mit einem eingeschworenen, respektvoll und auf Augenhöhe miteinander arbeitenden Team“, 20 Akteurinnen und Akteuren aus Wien, Dortmund, Berlin, München, Linz und Graz, das „frech, laut und mutig an gedanklich scharfen Gegenwartsbeschreibungen“ tüfteln will.

Im seit Anna Badora um fünf Köpfe gewachsenen Ensemble ist mit Nick Romeo Reiman ein vor allem aus Filmen, etwa „Türkisch für Anfänger“, bekanntes Gesicht. Julia Franz Richter war zuletzt am Schauspielhaus Graz engagiert, Samouil Stoyanov an den Münchner Kammerspielen, er arbeitet in „Der Alte“ oder „Soko München“ auch fürs Fernsehen. Mit Anna Rieser kommt die 2019 mit dem Nestroy-Preis als „Bester Nachwuchs“ ausgezeichnete Akteurin aus dem Landestheater Linz nach Wien. Für die kommende Saison hofft Voges noch weitere vier neue Ensemblemitglieder aufzunehmen.

Das sanierte Theater startet (hoffentlich) am 8. Jänner mit „Der Raum“ von Ernst Jandl in der Regie von Kay Voges.In dieser ersten, verkürzten Spielzeit zeigen wir knapp 30 Veranstaltungen, davon unter anderem vier Uraufführungen, sechs Übernahmen, Musikveranstaltungen, ein Festival, eine Österreichische Erstaufführung und eine Universums-Uraufführung – von der Bühne im Haupthaus, dem Volx in Margareten, bis hin zu den Produktionen in den Bezirken“, so Voges. Die unter dem Namen Black Box/Dunkelkammer wiederentdeckte Spielstätte unter dem Dach des Hauses, von Emmy Werner „Am Plafond“ genannt, von Michael Schottenberg als „Schwarzer Salon“ bespielt, soll die Spielorte des Volkstheaters erweitern.

Darüber hinaus gibt es ein umfangreiches Programm in der Roten Bar: Diskussionsabende, Lecture Performances und musikalische Late Night Shows zum Gespräch und zum partizipativen Austausch. Die Startproduktion „Der Raum“ sieht Dramaturg und Kurator Henning Nass als „szenisches Gedicht für Beleuchter und Tontechniker“, ein #Corona-taugliches Stück“ aus den frühen Siebzigerjahren, eine Produktion, die ohne Schauspieler und ohne Sprache auskommt, eine Hymne an den Sehnsuchtsort Theater und an die Bühne. „Oder ganz böse gesagt: Dieser Abend könnte sogar ohne Zuschauer auskommen. Das wäre eine Erzählung, wie es den Theatern derzeit geht. Dass sie auch leer noch ein Leben haben. Das wird, glaube ich, eine schöne Meditation zur Eröffnung des neuen Hauses“, ergänzt Voges.

Calle Fuhr. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Christoph Gurk. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Danach folgt ein Premierenreigen. Den Auftakt macht Rimini Protokoll mit „Black Box“, einem „Phantomtheater für eine Person“ am 9. Jänner, in der, wie Dramaturg und Kurator Christoph Gurk erläutert, im Fünfminutentakt jeweils ein mit einem Kopfhörer ausgerüstet Zuschauer auf einen Hausrundgang geschickt wird. Gurk: „Am besten erklärt ist das Stück wohl als Audiowalk durch alle Abteilungen, die an der Entstehung von Theater beteiligt sind, und währenddessen hört man die Stimmen der Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeit erläutern. Schnitt auf Stefan Suske, der als „Bühnenarbeiter“ Holzbalken und Plastikkanister von A nach B trägt …

Tags darauf am 10. Jänner  folgt die Wien-Premiere von Voges’ Dortmunder „Theatermacher“-Inszenierung aus dem Jahr 2018. Am 14. Jänner steht Susanne Kennedys Tschechow-Bearbeitung von „Drei Schwestern“ an, deren Gastspiel mit „Ultraworld“ bei den diesjährigen Wiener Festwochen aufgrund der Reisebeschränkungen ausfallen musste und mit der eine längerfristige Zusammenarbeit am Volkstheater geplant ist. „Kennedy wird in ihrer Fassung den Tschechow-Text mit geschichtsphilosophischen Reflexionen verknüpfen, zum Beispiel mit Nietzsches ,Lehre von der ewigen Wiederkehr‘“, so Gurk. „Das fügt sich sehr gut in einen unserer Schwerpunkte für die Spielzeit ein, in dem es um Loops und Wiederholungen geht.“

Wie die Kennedy-Inszenierung kommt auch Florentina Holzingers für Mai geplante und für Wien adaptierte „Etude for an Emergency“ von den Münchner Kammerspielen. Die erste Uraufführung trägt den Titel „1. Kreuz brechen oder Also alle Arschlöcher abschlachten“. Der Text ist – Nass: „ein unendlicher, emotionaler und obszöner Strom von Wörtern – der erste Teil eines mehrteiligen Werks der neuen Hausautorin Lydia Haider, die im Sommer den Publikumspreis beim Bachmann-Wettlesen gewann und deren Stück „Am Ball“ im Dezember im Schauspielhaus Wien uraufgeführt wird. Die Inszenierung übernimmt Intendant Voges, Premiere ist am 16. Jänner.

Eine Herausforderung, wie er zugibt: „Es ist ein Stück, das von den Regieanweisungen her einfach nicht spielbar ist. Da kommt Lydia Haider uns sehr in unserem Bestreben entgegen, herauszufinden, wie das unmögliche Theater möglich gemacht werden kann“, sagt Voges im APA-Interview. Mit „Bliss“ von Ragnar Kjartansson, der filmischen Montage einer Live-Performance in Los Angeles, beschließt man am 17. Jänner die turbulente Eröffnungswoche. „Bliss“ ist eine zwölfstündige Oper über Mozarts finale Arie aus „Die Hochzeit des Figaro“. „Kjartansson lässt diese Arie von großem Ensemble und großem Orchester endlos wiederholen“, so Nass.

Des Weiteren auf dem Programm stehen „Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann und „Endspiel“ von Samuel Becket. Den Hauptmann wird Jan Friedrich auf die Bühne heben, „der Newcomer“, wie Dramaturgin Jennifer Weiß sagt, während hinter ihr lebensgroße Puppen Unzucht treiben. „Jan Friedrich kommt vom Puppenspiel und zeichnet sich durch seine queer-poppige Ästhetik aus.“ Das Volkstheater zeigt ab März außerdem „Erniedrigte und Beleidigte“ nach dem Roman von Dostojewski und „In den Alpen/ Après les Alpes“.

Jennifer Weiß. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Letzteres eine Collage von Elfriede Jelinek mit Fiston Mwanza Mujila, inszeniert von Claudia Bossard, die sich bereits im Kosmos Theater mit dem Thema beschäftigte (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=37418). Weiß über Fiston Mwanza Mujila (Rezension „Zu der Zeit der Königinmutter“ am Akademietheater: www.mottingers-meinung.at/?p=32130): „Wir haben dem österreichisch-kongolesischen Autor einen Stückauftrag gegeben. Im Text wird es um die postalpine Zukunft nach Après-Ski gehen, es ist ein Ausblick von den kolonialen Ursprüngen des Alpenraums à la ,Heart of Darkness‘.“

Den verschwurbeltsten Titel liefert der Erzkünstler und Neo-Opernregisseur (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=25228) Jonathan Meese im März mit „KAMPF L.O.L.I.T.A. (EVOLUTION IST CHEF) oder L.O.L.I.T.A.D.Z.I.O. (Zardoz fliegt wieder!) oder L.O.L.I.T.A. DE LARGE (Das 3. Baby) oder DIE BARBARENLOLITAS (Kampf um Kunst) oder DR. ERZLOLITA DE L.O.L.I.T.A. (ZARDOZ LEBT) oder DIE ZARDOZLOLITAS (Keine Angst)“, einer „Universums-Uraufführung“, die, so der langjährige Meese-Intimus Henning Nass, auf Nabokovs Skandalroman basiert. „Da können wir uns auf was gefasst machen“, verspricht Voges.

Gespannt sein darf man auch auf die Österreichische Erstaufführung von Wolfram Lotz‘ „Die Politiker“ im April. Das Volx/Margareten wird im kommenden Jahr mit einer neuen Produktion bespielt: Am 15. Jänner kommt dort „Humane Metholds [Exhale]“ der Gruppe Fronte Vacuo zur Uraufführung, bei der der Mensch auf Algorithmen trifft. Die neue Black Box unter dem Dach wird von zwei Wien-Premieren bespielt: Für das Frühjahr ist „Konstellationen“ von Nick Payne angekündigt, im April steht „Uncanny Valley / Unheimliches Tal“ von Thomas Melle und Stefan Kaegi und dem Rimini Protokoll auf dem Programm.

Das Volkstheater in den Bezirken, bisher eher konventionell programmiert, soll unter der Leitung des Düsseldorfers Calle Fuhr „der subversive Zwilling des Haupthauses“ werden, Fuhr wird dort etwa den Monolog „Heldenplätze“ aufführen, Ed. Hauswirth kümmert sich um die „Recherche Show“. Bestrickend klingt jetzt schon das Format „Lesen & Tschechern“ in der Roten Bar. „Wir laden Sie herzlich zu einer gemeinsamen Reise durch gegenwärtige und neu gelesene Dramatik, zu Grenzgängen zwischen darstellender und bildender Kunst, zu musikalischen und choreographischen Produktionen, zu diskursiven und partizipativen Formaten und zur lustvollen Auseinandersetzung mit unserer Zeit ein“, endet Kay Voges seine Programmvorschau.

Er singe schon seit Tagen Bert Brechts „Ja, mach‘ nur einen Plan“ vor sich hin, sagt er. Das Erbe, das er an dem kriselnden, unter Zuschauerschwund leidenden Hauses antritt, ist kein leichtes. Doch dem Team, das sich via Video so sympathisch und engagiert präsentiert, und dem die besorgte Presse bereits die Frage nachwirft, wie „Wienerisch“ das Haus wohl bleiben werde, kann es durchaus gelingen, das hiesige Publikum für sich zu gewinnen. In diesem Sinne: Volkstheater unter Kay Voges, gemmas an!

www.volkstheater.at

  1. 11.2020