Corsage: Vicky Krieps als verbitterte Kaiserin Elisabeth. Ein Film von Marie Kreutzer

Juli 9, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Gefangen im Korsett aus Rollenbildern und Ritualen

Die Kaiserin raucht Kette: Vicky Krieps zeichnet das Bild einer um ihre Backfisch-Prinzessinnen-Träume gebrachte Elisabeth von 40 Jahren. Bild: © Alamode Film

In ihrer Badewanne, den Kopf unter Wasser, hält sie die Luft an, bis den beiden Kammerzofen angst und bang wird. Abtauchen, das kann sie gut, das hat Wien sie gelehrt. Ebenso wie auf Knopfdruck in Ohnmacht zu fallen: Nach hinten wegkippen, bisschen seufzen, die Augen verdrehen, so macht sie’s später beim Flirt mit ihrem Cousin Ludwig II. vor. Heute noch wird sie diese Strategie des zivilen Ungehorsams anwenden. Es ist das Jahr 1877, Heiliger Abend in der Hofburg,

und ergo für die Hofgesellschaft ein höchst willkommener Anlass, Elisabeth bei einem Festbankett anlässlich ihres 40. Geburtstags hochleben zu lassen. Allein, die Kaiserin von Österreich-Ungarn ist so gar nicht in Feierlaune. Mit 40 ist sie im späten 19. Jahrhundert eine alte Frau, und jedes der unzähligen Porträtgemälde im Palast erinnert sie an die Zahl der Jahre, die hinter ihr liegen.

Ihre natürliche Schönheit, die elfenhafte Figur und die ikonischen Flechtfrisuren, für die sie von Volk und Vaterland so verehrt wird, sind mittlerweile zum täglichen Überlebenskampf geworden. Die Angst vorm Älterwerden, vorm Bedeutungsverlust, vorm Schwinden ihrer Jugendlichkeit bekriegt Elisabeth mit Kälbersaft-Diätwahn und Sportsucht. Jedes ihrer beim dreistündigen Kämmen ausgegangenen Haare (bodenlang und geschätzt mehr als zwei Kilogramm schwer, „Ich bin die Sklavin meiner Haare“, ist ein bekanntes Elisabeth-Zitat) wird gesammelt und in einer Hutschachtel aufbewahrt.

Die Kettenraucherin und Hungerkünstlerin hat für ihre Ankleiderinnen nur einen morgendlichen Befehl: „Fester, fester!“ – und meint damit die Schnürung ihres Mieders. Das Schönheitsideal ist zugleich ein Panzer. Taillenumfang 45 Zentimeter, jedes Gramm mehr als 49,7 Kilo auf der Waage eine tiefe Kränkung, eine Mahnung an ihre Disziplinlosigkeit punkto Selbstkasteiung. Franz Joseph hat es seiner Frau beim Dinner für zwei deutlich mitgeteilt: „Halte dich raus aus der Politik, meine Aufgabe ist es, die Geschicke des Reichs zu lenken, deine Aufgabe ist es, mich zu repräsentieren. Dafür habe ich dich ausgebildet, dafür bist du da.“ Die Gesichtsschleier aus schwarzer Spitze, munkelte man weiland, trage die Anorektikerin, um ihre Hungerödeme zu verbergen.

Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer, bekannt unter anderem für „Was hat uns bloß so ruiniert“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=23103), verwendet sie für eine eigene Lösung. „Corsage“ heißt ihr Film über Ihre Kaiserliche Hoheit Grenzgängerin, und kein Biopic ist, was da am 7. Juli in den Kinos anläuft, sondern ein Spiel mit Stilbrüchen, vom sphärischen Soundtrack der französischen Sängerin Camille, „She Was“ gleichsam das Leitmotiv: https://www.youtube.com/watch?v=Z-YaTKXBNVY, bis zu schwarzweißen Filmaufnahmen, gedreht von Gyula Graf Andrássy, auf denen Elisabeth übermütig über eine Wiese tollt, beinah zwei Jahrzehnte vor den Brüdern Lumière.

Elisabeth-Darstellerin Vicky Krieps gewann für die Hauptrolle im Mai in Cannes/Sektion Un Certain Regard den Preis für die Beste Performance, der ganze Cast liest sich wie das Who‘s Who deutschsprachiger Film- und Theatergrößen: Florian Teichtmeister als Kaiser Franz Joseph, Katharina Lorenz als Hofdame und engste Vertraute Marie Festetics, Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy, Alma Hasun als Friseurin Fanny Feifalik – diese drei Elisabeths innerer Kreis,

Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II., Aaron Friesz als Sympathieträger Kronprinz Rudolf, Alexander Pschill als Hofmaler Georg Raab, Raphael von Bargen als Erster Obersthofmeister Hohenlohe-Schillingsfürst, Regina Fritsch als Gräfin Fürstenberg, Oliver Rosskopf als Kammerdiener Eugen, Marlene Hauser als Kammerzofe Fini, Stefan Puntigam als Majordomus Otto, David Oberkogler als Rudolfs Erzieher Latour von Thurmburg, Norman Hacker als Chefarzt Leidesdorf, Eva Spreizhofer als Marie Hohenlohe, Raphael Nicholas als Earl of Spencer sowie Kajetan Dick als Wiener Bürgermeister Cajetan Felder.

Gewichtskontrolle mit Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy. Bild: © Alamode Film

Tägliche Routine – mehrere Stunden Sport: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: ©Alamode Film

Mit den Haaren fallen geschätzt zwei Kilos: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: © Alamode Film

Engste Vertraute: Katharina Lorenz als Hofdame Marie Festetics (li.) mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Doch zurück zur Stillen Nacht, die Strophe „Schön soll sie bleiben“ wird grad gesungen, da wendet Sisi ihren Synkope-Schmäh an, wegkippen, seufzen, Augenverdrehen, so viel Macht bleibt der Machtlosen, sich einem ihr unlieben Umfeld zu entziehen. Es sind vielleicht folgende zwei Szenen, die Marie Kreutzers Film skizzieren. Die eine: Teichtmeisters Franz Joseph, der an der Türe klingeln muss, um in Elisabeths Gemächer vorgelassen zu werden, wo er erst einmal den berühmten Backenbart abnimmt, als säße er, nun da das Happy-Birthday-„Theater“ vorbei ist, in der Garderobe, in der Maske –

die beiden einander Aug‘ in Augenring gegenüber, ausgelaugt, abgehetzt, und ja, da ist noch was, „mon cœur“ nennt er sie, aber sie können’s nicht mehr (be-)greifen. Teichtmeister ist grandios als in Uniform erstarrter, doch innen drin spürbar sensibler Habsburger, „der erste Diener des Staates“, der Soldat, der über seine Völker wacht – und wer jemals des Kaisers karge Gemächer in Bad Ischl besichtigt hat, weiß, was das bedeutet. Heute würde man sagen: Ein Workaholik.

Die andere Szene: Beim Besuch in einer Heilanstalt für nervenkranke Frauen, etwas, das die empathische Elisabeth wie jenen in Feldlazaretten als ihre vornehmste Pflicht ansah, wird sie von Chefarzt Leidesdorf herumgeführt: tobende Kranke in Gitterbetten, fixierte Frauen, frierende in Eiswasserbädern, heulende, halbverbrühte in der gegenteiligen „Therapie“ … und in der Kaiserin Gesicht die Erkenntnis, wärst du nicht von Rang, du lägest auch hier. Doch auch ein goldener Käfig ist vergittert … Der Kontrast zu den mitgebrachten, üppig verzierten und nun hastig verteilten Törtchen könnte größer kaum sein.

In diesem Spannungsfeld von bewusster Provokation, für die Vicky Krieps der Etikette und den hofzeremoniellen Tableaux Vivants gern auch mal den Mittelfinger oder dem Leibarzt die Zunge zeigt, wenn er die durchschnittliche Lebenserwartung von „Frauen des Volkes“ bei ihr als erfüllt ansieht, zwischen draufgängerischer Exzentrik und depressiver Einsamkeit hält Kreutzer den von ihr angelegten Sisi-Charakter in der Schwebe. Die Possenhofener Posse ist passé. Nun ist sie ausrangiert, hat ausgedient als Vorzeige-Majestät. Franz Joseph flaniert derweil ungeniert mit seiner kindfraulichen Geliebten Anna Nahowski durch den Schönbrunner Schlosspark, alldieweil Elisabeth von allen Seiten für ihr Tun, ihr (Da-)Sein getadelt wird.

Von Rudolf, ihrer Schwester Marie, Königin beider Sizilien, ja sogar von ihrem letzten und jüngsten Kind Valerie: „Maman, ich geniere mich für dich.“ Sie sei für Vater ein Grund zur Sorge bescheidet sie die Tochter … „Hauptsache, wir hinterlassen ein hübsches Bild“, sagt Sisi zu einem Porträt ihrer dreijährig verstorbenen Tochter Sophie. Die Manipulation der Menschen, der Massen durch Bilder, ist hier eines der Hauptthemen …

Einbestellt zum Festbankett: Aaron Friesz als Kronprinz Rudolf, Vicky Krieps und Katharina Lorenz. Bild: © Alamode Film

Bereitmachen für den kaiserlichen Auftritt: Florian Teichtmeister als Franz Joseph mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vater-Sohn-Konflikt nicht zuletzt wegen Non-Kommunikation: Aaron Friesz und Florian Teichtmeister. Bild: © Alamode Film

Seelenverwandt: Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vor den Augen aller verschwindet die brüchig gewordene Elisabeth, diese Idealvorstellung einer Niemandin. Längst schon bereitet sie Marie Festetics als Double vor, eine Aufgabe, die in der Realität wegen größerer körperlicher Ähnlichkeit Fanny Feifalik übernahm, hier nun Lorenz‘ Festetics, die sich nach dem ersten Auftritt mit Gesichtsschleier ob der ihr viel zu engen Korsettschnürung in die Waschschüssel übergibt. „Sie werden sagen, dass ich zugenommen habe, und es wird ihnen gefallen haben“, kommentiert Elisabeth. Katharina Lorenz, das heißt: Marie Festetics spielt ihre Rolle mit dem abgehärmten Stoizismus einer Märtyrerin.

Es ist ein sprödes und schmerzliches Bild, das Kreutzer von der Kaiserin und ihrer Entourage zeichnet. Zwischen all deren violett-schwarzen Roben (Kostüme: Monika Buttinger) beleben die betörende Camille und Judith Kaufmanns düster-symbolhafte Kamerabilder sowie ein skurril-subtiler Humor (siehe Backenbart-Abnahme), der sich wie ein seidener Faden durch das Drehbuch zieht, den Film. Aber es ist die vom leibärztlich verschriebenen „Heilmittel“ Heroin berauschte Elisabeth, die einerseits ungeniert ausscherende und zugleich extrem kontrollierte Darbietung der Krieps, die alles zusammenhält.

Ihr Auftritt ist so kühn wie Kreutzers Film, der sich historischen Zwängen wie ins kollektive Gedächtnis eingeschriebenen Klischees in jeder Einstellung klug und mit Nachdruck zu entziehen weiß. Geschichtliche Unstimmigkeiten verteidigt Kreutzer mit Vehemenz. Für eingefleischte Elisabeth-AuskennerInnen hat die wie stets akribisch recherchierende Kreutzer aber weder auf die Anker-Schulter-Tätowierung noch auf die kandierten Veilchen vom Demel vergessen. Dabei istCorsage“ ein vieldeutiger Titel, der Körper, Geist und Seele miteinschließt. Eingeschnürt-Sein in der Epoche, der Gesellschaftsschicht, dem Geschlecht – der Corsage und wegen all dem dieser stete Mangel an Luft zum Atmen. „Fester, fester!“

In ihrer Sommerresidenz 1878 wird sich Sisi des symbolischen Drucks ihrer Frisuren entledigen, indem sie zur Schere greift – was bei Alma Hasuns Fanny Feifalik einen Nervenzusammenbruch auslöst. „Mein Lebenswerk ist zerstört“, heult sie, was Jeanne Werner als Ida Ferenczy lapidar mit „Blöde Gans!“ kommentiert. Sisi wird lose „Reformkleider“ à la Emilie Flöge und ihr nunmehr kinnkurzes Haar vom Wind zerzaust tragen. „As Tears Go By“ erklingt dazu ein Cover des Rolling-Stones-Songs: „It is the evening of the day …“ Marie Festetics hat längst den Anker in die Haut geritzt bekommen und Elisabeths Unterschrift geübt. Für Franzls Geliebte hat Sisi nur einen Rat: „Der Kaiser hat keine Zeit und ist ungeduldig. Empfangen Sie ihn bereits im Bett und ohne Mieder.“

Einen Luigi Lucheni braucht Marie Kreutzer nicht, an Elisabeths Ende steht Selbstermächtigung. Kreutzers Arbeit ist eine avantgardistisch-feministische Perspektive auf ein Frauenleben, ein scharfer Blick auf toxisch-männliche Strukturen, eine konsequent ins Zeitgemäße weitergedachte Erzählung der gereiften Elisabeth. Sich mit dieser modernen Sisi, etwas, das die tatsächliche Elisabeth zweifellos war, zu identifizieren, fällt leichter, als eine Verbindung zur Technicolor-Sissi zu finden, die in der filmischen Nachkriegs-Heile-Welt als nostalgischer Verdrängungsmechanismus perfekt funktionierte.

Den letzten Absatz für Marie Kreutzer: „Wäre es das alles Elisabeths exklusives Problem gewesen, hätte es mich nicht interessiert. Aber an Frauen werden auch heute noch viele der Erwartungen gestellt, mit denen sie zu kämpfen hatte. Es gilt nach wie vor als die wichtigste und wertvollste Eigenschaft einer Frau, schön zu sein. Daran hat die Geschichte, ja auch die Frauenbewegung und Emanzipation, nichts ändern können. Immer noch gelten Frauen als weniger wertvoll, wenn sie übergewichtig sind oder älter werden. Im Jahr 2022 müssen Frauen zwar noch viel mehr können und erfüllen, aber dabei bitte schön schlank und jung bleiben. Ab einem gewissen Alter kann frau es auch nicht mehr richtig machen – denn lässt sie ,etwas machen‘ wirft man ihr Eitelkeit vor, tut sie es nicht, werden ihre Falten kommentiert.“

mk2films.com/en/film/corsage           www.alamodefilm.de/kino/detail/corsage.html

7. 7. 2022

Wiener Staatsoper streamt: Serebrennikows „Parsifal“

April 20, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Bühnenweihspiel der Häfnbrüder

Kurz vor der Befreiung erscheint der Häftlingsschar der Mensch gewordene Gral (Film oben). Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

In besonderen Zeiten setzt die Kunst gern besondere Zeichen. Das hat in diesem Fall selbstverständlich mit Corona zu tun, aber auch damit, dass der russische Regimekritiker und Regisseur Kirill Serebrennikow, nach einem lachhaften Prozess zu Hausarrest verurteilt, die Inszenierung von seiner Moskauer Wohnung aus besorgte. Die seit Sonntag via TVthek.ORF.at und ARTE Concert gestreamte „Parsifal“-Produktion der

Wiener Staatsoper ist also in doppelter Hinsicht eine Online-Premiere, ein zweifacher Clou auch, da Serebrennikow Jonas Kaufmann und Nikolay Sidorenko als Titelhelden auf die Bühne stellt. Neben allerhand Überraschungen, in Serebrennikows Lesart wird das Wagner’sche zum Bühnenweihspiel der Häfnbrüder, die Gralsburg zur Gefängnisanlage, gibt es allerdings ein herausragendes Ereignis: Elīna Garanča in ihrem Rollendebüt als Kundry, die Sängerin-Schauspielerin, die auf atemberaubende Art überzeugt, ihre Kundry hier eine Fotojournalistin fürs Hochglanzmagazin des Klingsor und unter den Häftlingen auf ambiguer Motivsuche, auf Sinnsuche. Kundry, die Amfortas nicht nur mit Medikamenten versorgt, sondern zum Schluss auch nicht sterben muss und gemeinsam mit dem zurückgetretenen König durch die geöffneten Kerkertore in die Freiheit treten darf.

Und ein schelmisches Teufelchen sieht einen intellektuell geforderten Geheimdienstler neben Serebrennikow am Laptop sitzen, um endlich Anlass zu finden, seines Amtes als Politzensor zu walten … und am Ende kein Speer, keine Pneuma-Taube, keine heiligen Embleme, sondern Serebrennikows Flammenschrift, und deren kleinster Funke noch symbolisch opulent und von subtiler, sehr persönlicher politischer Botschaft. Er liest den „Parsifal“ als Befreiungsoper, auch von überkommenen Ritualen, und führt seine Protagonisten vier Stunden lang zur Erkenntnis, dass der Weg dorthin von jedem selbst einzuschlagen ist. „Durch Mitleid wissend“, das kritzelt Gurnemanz mit Kreide an die Wand, und das trifft freilich auf Parsifal zu, ja, die ganze Gralsgesellschaft wird davon erfasst, mit Kundry als ihrer stärksten Kraft.

Jonas Kaufmanns Parsifal wird sein vergangenes, törichtes, junges Ich, das ihn in Gestalt des deutsch-russischen Schauspielers Nikolaj Sidorenko [der schon mit Frank Castorf, Luk Perceval und Ersan Mondtag gearbeitet hat] in Gedanken und Gefühlen peinigt, hinter sich lassen. Seine Läuterung wird sich auf die anderen Sträflinge übertragen, dies überzeugend und ohne Purifikationskitsch, und der Gral enthüllt sich, wiederaufersteht in Menschengestalt – Gottes „Schatz in irdenen Gefäßen“ [Korinther 2.4], über dessen Ecce-Homo-Moment noch zu sprechen sein wird. Kirill Serebrennikow, dies an etlichen Elementen deutlich, hat sich voll Empathie ins Werk geworfen und dessen Charaktere per psychologischer Tiefenbohrung neugedeutet.

Nikolay Sidorenko und Elīna Garanča. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Nikolay Sidorenko. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Jonas Kaufmann. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Jonas Kaufmann und Nikolay Sidorenko. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Serebrennikows Psychoanalyse des Parsifal wird in der Staatsoper zu dessen Therapiesitzung, Kaufmann beobachtet in der Figur Sidorenkos sich selbst in den Verfehlungen der Vergangenheit. Die Jugendtorheit, die Erinnerung ist ein Film im Kopf. Im Wortsinn, denn als wär’s das Freud’sche Über-Ich flimmern schwarzweiße Videos über den Mauern von Montsalvat. „Ein Weibchen zu suchen flog er …“, von wegen, im Waschraum sieht man den nackten Parsifal unter der Dusche, ein weißblonder Schwanen-Jüngling näher sich in intimer Absicht, schnell die Rasierklinge aus dem Mund, ein Schnitt quer über die Kehle, Blut fließt über die Fliesen … und Jonas Kaufmann sieht’s von seinem Posten auf einer tiefergelegenen Sitzbank aus.

Der „Gefangenen-Chor“ kommt für Sport und Raufhandel zum Hofgang, welch sinistre Typen Serebrennikow da aus den Staatsopern-Kräften gefiltert hat, und ein Bravo dem Team, das die unzähligen Tattoos anfertigte; im Spiel ist Gurnemanz der Tätowierer, die graue Eminenz im Knast, und einer der schönsten Regieeinfälle ist, dass er den Rittern die Gralssaga in den Leib sticht. Auf Armen, Bauch und Rücken erzählen die Körperbilder Amfortas‘ Leidensgeschichte. Mit Georg Zeppenfeld hat die Inszenierung einen souveränen und textdeutlichen Gurnemanz, einen ergebenen, fürsorglich-besorgten Diener Amfortas‘, der jedoch tatsächlich der Strippenzieher ist, und Zeppenfeld wird dieser Zuschreibung mit Stimme, Bestimmtheit und Bestimmung voll gerecht.

Mit seinem weit ausholenden, sehr schmiegsamen und nicht zu dunklen Bass beweist er ein feines Gespür für mimische Finesse. Ebenso Bariton Ludovic Tézier, der mit seinem Rollendebüt als Amfortas neue Maßstäbe setzt – sein Gralskönig ein Schmerzensmann auf Krücke, seinen blutigen Verbänden und einem Stanleymesser nach zu schließen neben der Speerwunde ein Ritzer, der zur Selbstbestrafung Schmerz gegen Schmerz, auch seelischen tauscht, im Geiste verfolgt von Christian Cerny als Titurel mit Stacheldraht-Dornenkronen-Tattoo, bis Amfortas in Christus-Pose auf einen Hocker sinkt.

All dies, Serebrennikows detailverliebte Arbeit, die Essensausgabe, der Zigarettenschmuggel, das anzügliche Posen vor Kundrys Fotoapparat, die Gefangenenwärter, die aus den für die Häftlinge bestimmten Hilfslieferungen auch Menora und Gebetsteppich auspacken, die Anklänge an das Schicksal von Alexei Nawalny und Pjotr Pawlenski, die exzellenten Gesichter auf die die Kamera in der Bildregie von Michael Beyer zoomt, wären „live“ vielleicht weniger ins Auge gefallen.

Elīna Garanča. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Ludovic Tézier. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Georg Zeppenfeld. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Elīna Garanča und Wolfgang Koch. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Dies vor allem auch zutreffend auf den zweiten Akt, den sowohl Serebrennikow als auch Musikdirektor und Dirigent Philippe Jordan als Dreh- und Angelpunkt der Aufführung annehmen, als Höhepunkt in der Ausein- andersetzung zwischen Kundry und Parsifal, Elīna Garanča, Nikolay Sidorenko und Jonas Kaufmann. Der junge stolz und trotzig, der ältere gebeugt und schuldbewusst, ignorantia legis non excusat, die Blumenmädchen aka Stylistinnen für die Fotosession in Klingsors Redaktion wollen erst dem einen, dann dem anderen an die Wäsche.

Die emotionalsten Szenen sind das: Kaufmann, der mit Händen greifen, verzweifelt verhindern, abwenden will und nicht einschreiten kann, zynisch mit den Augen rollt und die Wangen zu einem Pfuh! bläht. Der ausdrucksstarke, sonst ja stumme Sidorenko, bald ein Rockgott mit Kajalstrich und Kreuz, der Selfies zulässt und Autogramme gibt. Der Moment der Selbsterkenntnis, als sie sich kurz gegenüberstehen.

Die furiose Garanča, deren Kundry hin und her geworfen zwischen der Männer Entsagung und Lüsternheit, die diesen Wutzustand überzeugend singt; ihre warm ausbalancierte Stimme folgt ihr mühelos in alle Lagen, dramatisch und expressiv in der Höhe, brodelnd-fokussiert in der Tiefe. Kaufmann, seine Stimme und sein Spiel mit Eleganz nuancierend, erweist sich in beidem als gewiefter Stratege. Garanča überwältigt mit ihrer kühlen Sinnlichkeit. Hinterlist und Überheblichkeit im Blick macht sie klar, dass sie ihren Fluch als Verführerin gar nicht so ungern auslebt.

Ein inszenatorischer Höhepunkt ist: Kundry gaukelt Parsifal die dahingeschiedene Herzeleide als Dreifaltigkeit vor. Parsifal-Kaufmann versucht Parsifal-Sidorenko aus Kundrys Fängen zu befreien und gerät selbst in ihre Venusfalle. Die drei fighten, Parsifal packt Parsifal im Liebesakt. Garanča kost Sidorenko, das Video zeigt ihn mit Krone und Gral und einer Schlange, die sich um ihn windet, Kaufmann spürt den Kuss auf seinen Lippen und ruft: „Amfortas! Die Wunde!“ Man fährt auseinander, Kundry hat eine Pistole zur Hand und erschießt … Klingsor.

Elīna Garanča. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Die Tötung des Schwans. Video: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Aleksei Fokin und Yurii Karih

Ein Pjotr-Pawlenski-Bild. Video: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Aleksei Fokin und Yurii Karih

Elīna Garanča und Jonas Kaufmann. Screenshot: Parsifal, Wiener Staatsoper 2021. © Bildregie Michael Beyer, orf.at

Philippe Jordan hat sich zur Tristesse russe für den hellen, schnellen Wagner des Erlösungsgedanken entschieden und erlöst damit das Staatsopernorchester von Getragenheit und Pathos. Punkto Text-Bild-Schere gilt es natürlich das eine oder andere um die Ecke denken, mitunter enttarnt sich Serebrennikows sarkastischer Humor. Klingsor, der Entmannte, kommt aus dem Klo, hinter sich eine Pinwand voller Gay-Porn-Pics, und schließt geschwind noch den Hosenstall, bevor er Kundry entgegentritt. Wolfgang Koch ist brillant als ekelhafter #MeToo-Boss, zudringlich an ihren Haaren schnuppernd, bis ein Whiskeyglas fällt. „Meinem Banne wieder verfielst du“, schmettert der Medienmogul und Kundry lacht schallend. Doch erst wenn er zu „Dein Meister ruft dich Namenlose“ anhebt, denkt man mit Schmunzeln an Chefredakteure, an denen man schon gelitten hat.

Das Finale dieser Oper wirkt wie eine gesungene Trinität. Die bekehrte Kundry heilt Amfortas und nimmt ihn liebevoll in den Arm – Parsifal-Kaufmann, den nun auch das Gralsritter-„Sonne geht auf überm Meer“-Tattooo ziert, breitet schützend die Hände über die beiden. Letzte Gefangene nämlich wollten die Anstaltsruine als Zufluchtsort nicht aufgeben, mit Kruzifixen und Rosenkränzen küren sie Parsifal zum neuen Gralshüter. Lange war er – Sidorenko im Film – durch Schneelandschaften gewandert, hauste in verfallenden Gemäuern und absolvierte eine Etüde der Selbstbefragung, nun ist er das Symbol der Hoffnung.

Ein weißes Hemd als „weiße Weste“ belegt seine Integrität. Karfreitagszauber, Sidorenko kommt, küsst jene Kundry, die ihn im zweiten Akt schänden wollte, nunmehr glaubhaft innig, und entriegelt das Tor zum neuen Dasein. Allgemeine Aufbruchsstimmung. Schwan = Gral = Mensch erhebt sich und breitet schützend die Arme über alle … „Ich will und kann Wagners ‚Parsifal‘ nicht eins zu eins illustrieren“, bekannte Serebrennikow vorab in einem Gespräch und fügte hinzu: „Ich glaube vielmehr, dass sich die eigentliche Metaphysik im tatsächlichen Leben ereignet.“

Und wirklich sind hier nun die magischen Momente der „Wandlung“ zu erleben. Die von Garančas Kundry Oscar-reif, von der Sensationsreporterin im ersten über die mörderische Business-Redakteurin im zweiten hin zur zerfahrenen Flüchtigen im letzten Aufzug. Serebrennikows „Parsifal“ ist ein brutal-poetisches Gesamtkunstwerk. Sein Film-in-der-Not ist mit seinen unterschiedlichen Interpretationsräumen, der Bühne und den Überprojektionen ein unverbrauchter Zugang zu einem mittels Überhöhung mitunter zu Tode gespielten Wagner. Wer junges Publikum will, muss es darin unterweisen, sich in dieser Heilserwartungswelt zurechtzufinden – Serebrennikow hat einen schlüssigen Weg dafür gewiesen.

www.wiener-staatsoper.at

Die Inszenierung ist bis Freitag via TVthek.ORF.at und europaweit auf ARTE Concert bis 17. Juli kostenlos abzurufen. Online-Einführungsmatinee: www.youtube.com/watch?v=bejkMmmIHZo          tvthek.orf.at           www.arte.tv/de/arte-concert

Der Fall Parsifal: tvthek.orf.at/profile/Der-Fall-Parsifal/13892700/Der-Fall-Parsifal/14089194/Der-Fall-Parsifal/14901725

  1. 4. 2021

Wiener Staatsoper: Live-Onlinekonzert mit Anna Netrebko, Yusif Eyvazov, Juan Diego Flórez …

April 16, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Stars singen Hits aus Oper, Operette und Musical

Anna Netrebko und Yusif Eyvazov. Bild: CD „Romanza“, 2017 (Detail) © Panorama & Deutsche Grammophon

Am 19. April präsentieren ORF III, Ö1 und die Klassikplattform fidelio ab 20.15 Uhr den ersten von vorerst drei hochkarätigen Musikabenden live aus dem Großen Sendesaal des RadioKulturhauses. Das gemeinsam mit der Wiener Staatsoper gestaltete Auftaktkonzert glänzt mit beliebten Stars: Das Programm reicht von bekannten Opernarien und Klassikstücken bis zu ganz persönlichen musikalischen Botschaften der Künstlerinnen und Künstler.

So präsentieren Anna Netrebko und Yusif Eyvazov gemeinsam „Non ti scordar di me“ von Ernesto De Curtis. Anna Netrebko singt das Morgenständchen „Mattinata“ von Ruggero Leoncavallo und Rachmaninows „Son“ nach einem Gedicht von Heinrich Heine, Eyvazov die Arie des Nemorino „Una furtiva lagrima“ aus „L’elisir d’amore“ von Gaetano Donizetti und „L’Ultima Canzone“ von Francesco Paolo Tosti.

„Wir freuen uns sehr auf das Konzert am Sonntag. Wir vermissen das Publikum in dieser schwierigen Zeit und hoffen, wir können den Menschen zu Hause eine kleine Freude machen“, so Netrebko und Ehemann Eyvazov.

Juan Diego Flórez gibt Franz Schuberts „An die Musik“ und „La mia letizia infondere“ aus Giuseppe Verdis „I Lombardi“ zum Besten. Sopranistin Valentina Nafornița singt die Juwelenarie der Marguerite „Oh Dieu! Que de bijoux! … Ah! Je ris de me voir“ aus Charles Gounods Oper „Faust“ und Sergej Rachmaninows „Zdes‘ khorosho“. Ein weiteres Rachmaninow-Lied interpretiert Mezzosopranistin Elena Maximova mit „Ja zhdu tebja“, außerdem aus Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ die Arie des Nicklausse „C’est l’amour vainqueur“. Freuen kann sich das Publikum auch auf Bassbariton Tomasz Konieczny mit George und Ira Gershwins „Embraceable You“ und Stanisław Moniuszkos „Kozak“ sowie auf den südkoreanischen Bass Jongmin Park mit „Ideale“ von Francesco Paolo Tosti und „Auf der Wippe“ von Young-Shin Noh.

Nach der Staatsoper am 19. April stehen Konzerte der Volksoper am 26. April und der Vereinigten Bühnen Wien am 3. Mai an. Die Abende werden als Live-Stream und nach der TV-Ausstrahlung für sieben Tage als Video-on-Demand via ORF-TVthek kostenlos bereitgestellt. Die Staatsoper zeigt darüber hinaus auf ihrer  Streaming-Plattform www.staatsoperlive.com täglich und für jeweils 24 Stunden Aufzeichnungen früherer Opern- und Ballettvorstellungen. Heute ist dies beispielsweise „Der Rosenkavalier“ von 2017, dirigiert von Adam Fischer, in einer Inszenierung von Otto Schenk, oder am 18. April „Der Nussknacker“ aus dem Jahr 2012 in der Choreografie von Rudolf Nurejew.
.
www.wiener-staatsoper.at           tv.orf.at/orfdrei           www.myfidelio.at           TVthek.ORF.at
.
16. 4. 2020

Odeon – Serapions Ensemble: Lamento Allegro

Januar 4, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Tanz um den gestohlenen Esel

Der Oasenmann ist mit Ehefrau und Esel unterwegs ins Niltal, um seine Waren zu verkaufen: Elvis Grezda und Sandra Rato da Trindade. Bild: © Odeon/S. Smidt

Ohnedies ist alles Interpretation und Assoziation. So soll’s auch mit der Szene sein, in der sich Julio Cesar Manfugás Foster an eine in schlammbraune Arbeitskittel gewandete Beamtenschar wendet. Eine nach dem anderen stolpern sie hinter ihrem Schalter hervor, immer mehr werden sie, mit gurkenglasdicken Brillen, schlampig gebundenen Krawatten, diversen Ticks – jedes Zucken ein Verneinen der Zuständigkeit, jede Gebärde eine „Mich geht das nichts an“-Geste.

Es wird Aufstellung genommen, Ähnlichkeiten mit nächstens zu sehenden Angelobungsbilder sind …, im Lärm der Bürokratie geht die Beschwerde des Bürgers, oder weist ihn die Hautfarbe antizipativ als Nichthiesigen aus?, unter. Man hört nur zwei seiner Worte: „Wasser … Essen …“ Weit hergeholt? Stimmt. „Klagen des Bauern“ oder „Der redekundige Oasenmann“ ist ein mittelägyptisches Literaturwerk. Darin wird ein Niedriggestellter auf seinem Weg ins Niltal, wo er seine Waren verkaufen will, von einem leibeigenen Pächter seiner gesamten Habe beraubt. Worauf er sich an dessen Besitzer, den Obervermögensverwalter des Pharaos, der sich wiederum an seine Räte, später an den Pharao höchstselbst wendet.

Doch Gerechtigkeit widerfährt dem Bauern nicht. In neun Klagereden fordert er diese nun für sich ein, wird dafür verprügelt und vom untertänigen Volk sogar mit dem Tode bedroht. Der göttliche Herrscher allerdings lässt die Reden heimlich schriftlich festhalten, denn er ist seit Langem auf der Suche nach einem begnadeten Geschichtenerzähler … „Lamento Allegro“ nennt das Serapions Ensemble seine unter der Leitung von Max Kaufmann, Mario Mattiazzo und Erwin Piplits entstandene Inszenierung des Stoffs, deren Wiederaufnahme im Odeon Theater mit dem Jahreswechsel geschehen ist. Eine Parabel, so das Programmheft, über jene dicke Decke, die sich die Demokratie seit der attischen übergeworfen hat, um derart die Ungleichbehandlung von Staatsvolk und Zugezogenen, heißt: die wahre Macht der Archonten und Demagogen, Apparat die einen, System die anderen, zu tarnen.

In seine bewährt poetischen Bilder packt das Serapions Ensemble auch diesen kollektiven Theaterzauber. Ein Esel, mittels Fahrradgestell zum Laufen gebracht, ein Thespiskarren mit vielfältig nutzbarer Transportkiste, zwei Laufbänder und ein alter Filmprojektor – das sind jene Requisiten, um die herum die neue Kreation aus Schauspiel, Gesang, Tanz und bildnerischen Elementen komponiert ist. Julio Cesar Manfugás Foster, José Antonio Rey Garcia, Elvis Grezda, Ana Grigalashvili, Mercedes Miriam Vargas Iribar, Miriam Mercedes Vargas Iribar, Zsuzsanna Enikö Iszlay, Mario Mattiazzo, Gerwich Rozmyslowski und Sandra Rato da Trindade gestalten den 90-minütigen Abend.

Thespiskarren ohne Tier: Julio Cesar Manfugás Foster mit Rey Garcia, Vargas Iribar, Rozmyslowski, Grigalashvili und Iszlay. Bild: © Odeon/S. Smidt

Wütende Menge: José Antonio Rey Garcia, Julio Cesar Manfugás Foster, Mercedes Miriam Vargas Iribar, Gerwich Rozmyslowski, Ana Grigalashvili und Mario Mattiazzo. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Die Räte kommen zwar aus ihrer Zauberkiste, doch …: Ana Grigalashvili und Elvis Grezda. Bild: © Odeon

… sind mit der Frage überfordert: Ana Grigalashvili, Vargas Iribar, Rato da Trindade und Iszlay. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Die belämmerte Beamtenschar: Grezda, Rozmyslowski,  Mattiazzo, Rey Garcia, Iszlay, Rato da Trindade, Grigalashvili, Vargas Iribar. Bild: © Odeon/S. Smidt

Die Krawatte wird als Würgehalsband gebraucht: Grezda, Rozmyslowski, Vargas Iribar, Rato da Trindade und Iszlay. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Wobei jeder mehrere Figuren verkörpert, Sandra Rato da Trindade und Elvis Grezda als Bauersleute beginnen den Reigen, sie in safrangelbem Kaftan, er in lindgrünem, und wie die Kostüme – sie noch aus den Beständen von Ulrike Kaufmann – von Spieler zu Spielerin weitergereicht werden, José Antonio Rey Garcia und Zsuzsanna Enikö Iszlay, Mario Mattiazzo, Mercedes und Miriam Vargas Iribar, macht deutlich wer nun als Chui-ni-Anup nebst Gattin unterwegs ist. Knapp nach Weihnachten erinnern die beiden an die Legende von Marias kleinem Esel, das Schwingen dreier Seile markiert den reißenden Fluss, den es zu durchqueren gilt, dann ein Wandteppich aus Wüste, Wind, Unwetter.

Dass Julio Cesar Manfugás Foster mit seiner vazierenden Truppe den Thespiskarren nicht länger allein ziehen will, mag – siehe Subventionssituation – als selbstironisches Augenzwinkern gedeutet werden, jedenfalls wird das Grautier gestohlen. Es bleibt der Imaginationskraft jedes einzelnen überlassen, in die folgenden Choreografien einen roten Faden einzuweben, die Strahlkraft der Aufführung versteht es, Fantasiebegabte aller Ausbildungsgrade für sich einzunehmen. Mit einem Maskenmix von Commedia dell’arte bis Mad Max, mit Musik von Goran Bregović, Philipp Glass, Meredith Monk, Mohammad Reza Mortazavi bis Richard Wagner.

Gesprochen, gesungen wird in vielen Ensemblesprachen, Gerwich Rozmyslowski führt, als die Reihe an ihm ist, seine Beschwerde auf Wienerisch. „Zu wem kann ich heute reden?“, das Gebet um Gerechtigkeit, wird zur Anklage, wird kämpferisch circensisch, wird zu einem resignativen „Wozu soll ich noch reden?“. Ein per Hoverboard schwebender Trenchcoat-/Würdenträger befragt die Räte, dies einer der skurril-schönsten Momente, wenn die vielarmige, verschlafene Obrigkeit, an der Spitze Ana Grigalashvili, aus der Kiste tritt, und unterm sich selbst eingeflüsterten Motto „Sag‘ kein Wort!“ mehr und mehr ins Taumeln gerät.

Der redekundige Oasenmann wird von Pharaos Stoffsäulen eingewickelt: Elvis Grezda, Ana Grigalashvili und Mercedes Miriam Vargas Iribar. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Die Dramatik des Visuellen, die wunderbar berührende Grausamkeit des Ganzen, wird um Textzitate erweitert, vom „Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba“ aus dem Papyrus Berlin 3024 bis zum Gedicht „Die Freiheit ist schrecklich“ von Ali Podrimja. Freiheit, sagt das Serapions Ensemble damit, ist Verantwortung, und nur der eigenverantwortliche Mensch kann eine diesem würdige, lebenswerte Gesellschaft bilden. In der eine ethische Grundhaltung jedem einzelnen

inne ist, ohne dass ihn Gesetze dazu zwingen. Eigeninitiative ist das Credo zur Stunde. Die Darsteller tanzen nach Haka-Art. Das abschließende, überwältigende Bild: Aus sich drehenden Stoffzylindern wird ein Säulenpalast, der zusammen mit den historischen Kolonnaden der einstigen Getreidebörse ein monumentales Gesamtkunstwerk ergibt. Und während im Thronsaal des Pharaos dessen Untertanen am Schlips wie am Würgehalsband geführt werden, fallen die Stoffe und umschlingen den Bauern. Steht er da als königlich gekleideter Auserwählter oder als ein seinem Gebieter Ausgelieferter?

Die Gedankenwelt des Bauern und die allzu menschliche Universalgeschichte verschwimmen.  „Auf dem Rücken der Schildkröte / ein jedes Ding war schrecklich / auch die Freiheit“, rezitiert Grezda, nun wieder Oasenmann, Ali Podrimja. Da erkennt man erst, was das Auge bereits vorher beobachtet hat: Je mehr sich der Beraubte in seinen Klagen mit dem Diebstahl beschäftigt, desto mehr beraubt er sich der Freiheit. Das ist der Preis fürs Recht bekommen, für Privilegien und Reichtum aus der Hand der Machthaber. Sehr eindrucksvoll verschwindet zum Schluss die Frau erst durch die, dann auf der Filmleinwand, und mit ihr der Esel – mutmaßlich ins wahrhaft Freisein. Tosender Applaus für diese absolut staunenswerte Produktion.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=zn4NvfvbFRs&feature=youtu.be           vimeo.com/330207813           www.odeon-theater.at

  1. 1. 2020

Was uns nicht umbringt

November 12, 2018 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Kaleidoskop kleiner und großer Gefühle

Max ist auf den Hund gekommen: August Zirner spielt zum zweiten Mal Sandra Nettelbecks Film-Psychotherapeuten. Bild: Plakatsujet/Thimfilm

Mit ihrer jüngsten Arbeit ist Regisseurin und Drehbuchautorin Sandra Nettelbeck ein berührender, behutsamer Film über die Auf und Abs zwischenmenschlicher Beziehungen gelungen. „Was uns nicht umbringt“ ist definitiv was fürs Herz, und wenn das episodische Großstädterporträt am 16. November in den Kinos startet, wünscht man es zum gleichen Publikumserfolg wie weiland Nettelbecks sympathische Tragikomödie rund um die pedantische Köchin „Bella Martha“.

Diese immerhin in Hollywood mit Catherine Zeta-Jones unter dem Titel „Rezept zum Verlieben“ auf amerikanisch-neu aufgelegt. Aus „Bella Martha“ hat sich Nettelbeck ihre Figur des Psychotherapeuten Max entliehen, er steht nun im Zentrum der Geschichten, die die Filmemacherin mit einem beinah 20-köpfigen, handverlesenen Ensemble erzählt, bei ihm laufen die Handlungsfäden zusammen, sind doch fast alle Akteure seine Patienten – und mit der einen, die’s nicht ist, verbindet Max eine Familienangelegenheit, die den Psychologen selbst ins seelische Straucheln bringt. Mit feinfühlig-leisem Humor entwickelt Nettelbeck im Folgenden ihre mal zutiefst melancholischen, mal merkwürdig grotesken Charakterstudien. Und wie‘s in dieser Art Filmen üblich ist, verknüpfen sich die Episoden natürlich auch untereinander, und allmählich dreht sich das Kaleidoskop der Gefühle als großes Ganzes.

Die komödiantische Schwermut in „Was uns nicht umbringt“, visuell unterstützt vom Hamburger Schietwetter, kommt zuallererst August Zirner (im Interview: www.mottingers-meinung.at/?p=30404) zupass, der hier zum zweiten Mal den Max verkörpert. Wunderbar gleich seine erste Szene, wenn er sich aus dem Tierheim einen zotteligen Streuner holt, der sich als noch elegischer als er selbst entpuppt. Kaum jemals sah man wohl einen Hund vor der Kamera so wenig tun, meist liegt das Tier herum, und wird dennoch zum fixen Bestandteil von Max‘ Sitzungen – vor allem der schweigsame, sichtlich von einem schlimmen Schicksalsschlag gebeutelte Ben, Mark Waschke spielt ihn, baut zu „Panama“ eine Verbindung auf, wie er’s zu Menschen längst nicht mehr schafft. Bald trifft man einander nicht mehr auf der Couch, sondern zum Gassigehen.

Ex-Ehefrau Loretta ist Max‘ beste Freundin: Barbara Auer und August Zirner. Bild: © Mathias Bothor / Alamode Film

Max verliebt sich in Patientin Sophie: Johanna Ter Steege und August Zirner. Bild: © Marion von der Mehden / Alamode Film

Den Max’schen Kosmos bevölkern außerdem: Barbara Auer als seine Ex-Ehefrau Loretta, der er immer noch freundschaftlich verbunden ist, und die mit dem doch deutlich jüngeren Fabian, David Rott, eine Affäre begonnen hat. Was sowohl sie als auch die beiden Töchter aus der Bahn wirft. Christian Berkel und Victoria Meyer liefern als symbiotisches Geschwisterpaar, das ein Bestattungsunternehmen führt, ein schon kabarettistisch zu nennendes Kabinettstück ab, zu ihnen kommt Deborah Kaufmann als Schriftstellerin, die den gewaltsamen Tod ihres Freundes, eines Kriegsfotografen, nicht verwindet.

Mit dem Sterben ist auch Oliver Broumis‘ Fritz befasst. Sein Lebensgefährte Robert, die Liebe seines Lebens, liegt mit Leukämie im Krankenhaus – doch dessen Familie lässt Fritz nicht zu ihm, weil sie Roberts Schwulsein nicht akzeptieren kann. Broumis zeigt im Film eine der stärksten darstellerischen Leistungen. Die brillanten Bjarne Mädel und Jenny Schily sind als Tierpfleger zu sehen, die ein ziemlich kompliziertes Verhältnis zueinander haben. Von den beiden hätte man gern mehr gesehen, großartig, wie Mädels Hannes versucht, der autistisch veranlagten Frau seine unausgesprochene Zuneigung klarzumachen. Und dann ist da noch die spielsüchtige, immer unter Strom stehende Sophie, gespielt von Johanna Ter Steege, in die sich Max schon beim ersten Therapietermin verliebt. Doch Sophie ist an den ungeduldigen, unwirschen David, Peter Lohmeyer, gebunden …

Was „Was uns nicht umbringt“ auszeichnet ist, dass wohl jeder darin eine Situation finden wird, deren Tragik der Umstände oder Ironie des Schicksals, er selber kennt. Der Cast bewegt sich durch Nettelbecks Geschichten auch mit großer Authentizität. Unaufgeregt und absolut glaubhaft, mit kleinen, präzis gesetzten Gesten wird die Sprachlosigkeit unterstrichen, die den Figuren im Umgang miteinander zu schaffen macht. Wird aber etwas gesagt, sitzen Nettelbecks Dialoge auf den Punkt. Was Nettelbeck als Schluss ihrer Stories über Verluste und neue Verbindungen anbietet, sind keine Happy, aber versöhnliche Enden. All ihre Figuren stellt sie vor eine Entscheidung, die es zu treffen gilt, um einen anderen Lebensweg als bisher einzuschlagen. Wer den Mut dazu aufbringen wird, verrät sie nicht.

Die Tierpfleger Hannes und Sunny haben eine besondere Beziehung: Bjarne Mädel und Jenny Schily. Bild: © Marion von der Mehden / Alamode Film

Einen Kunstgriff hat sich Sandra Nettelbeck erlaubt: Immer wieder tagträumerische Szenen, in denen die Charaktere sich mal zum Besseren, mal zum Schlechteren vorstellen, wie eine Situation für sie sein könnte, bevor die dann tatsächlich stattfindet. Und so beginnt die Handlung für Max mit einer imaginierten Umarmung im strömenden Regen und endet mit einer echten bei Sonnenschein – schöner kann eine Filmklammer gar nicht sein.

August Zirner im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=30404

www.facebook.com/WasUnsNichtUmbringt/

  1. 11. 2018