Emma Thompson in „Meine Stunden mit Leo“

August 31, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Hingabe an den Sexheiligen

Emma Thompson und Daryl McCormack. Bild: © Filmladen Filmverleih

Schließlich steht Nancy nackt vorm Spiegel und betrachtet gemeinsam mit dem Kinopublikum ihren 63 Jahre alten Körper. Voller Würde, Erotik und Akzeptanz. Sich selbst so anzuschauen ohne zu urteilen, sei das Härteste gewesen, das sie jemals vor der Kamera habe tun müssen, sagt Emma Thompson dazu im Interview. Doch keine Verjüngungskur der Welt

könnte am beseelten Gesichtsausdruck von Nancy irgendetwas verbessern. „Meine Stunden mit Leo“ heißt die Tragikomödie von Regisseurin Sophie Hyde und Drehbuchautorin und Brit-Comedian Katy Brand, ein Kammerspiel, das man glatt für die Leinwandadaption eines Theaterstücks halten könnte, aber nein, es ist ein Original – und ab 2. September in den heimischen Kinos zu sehen. Emma Thompson brilliert als Nancy, diese eine verwitwete, gewesene Religionslehrerin, die sich einen jungen Sexarbeiter in ein Hotelzimmer bestellt hat. Verloren wirkt sie in diesem anonym-kühlen Ambiente, streicht immer wieder den altvaterischen Rock glatt, durchsucht die Minibar nach einem Zaubertrank gegen ihre biedere Art – da klopft es an der Tür und er ist da …

Die Thompson stattet ihren Charakter Nancy, die so entschlossen ist, ein neues Bewusstsein für ihren unweigerlich älter werdenden Körper zu erlangen, mit dem herrlich trockenen Witz, den man von ihr kennt und liebt, einer entwaffnenden Wahrhaftigkeit und berührender Verletzlichkeit aus. Leo, der live noch besser aussieht als im Internet, wird gleich einmal mit dem früheren Hausbrauch konfrontiert: Rauf auf die Gattin, „zur Sache kommen“, runter von der Gattin und einschlafen. Orgasmus? 31 Jahre lang: ein verwegener, unerfüllter Wunsch.

Also hat Nancy, die verklemmte Pädagogin, ein Verzeichnis erstellt, von Stellungen, die es zu probieren gilt, um „es hinter uns zu bringen“: Nancy: „Gut, ich habe eine Liste mit Dingen, die ich gern abarbeiten möchte.“ Leo: „Das klingt ja sexy.“ Nancy: „Mach dich nur lustig, ich bin Lehrerin. Alte Gewohnheiten wird man schwer los.“ Leo: „Was steht als erstes drauf?“ Nancy: „Punkt 1: Ich mache Oralsex bei dir. Punkt 2: Du machst Oralsex bei mir. Punkt 3: Wir machen Stellung 69, wenn man das noch so nennt, keine Ahnung.“

Daryl McCormack ist als Leo Grande ein charismatischer Spielpartner für die Thompson, sein Callboy ist ganz Gentleman und pflegt einen eleganten Humor. „Very fine vintage“ nennt er nicht den Champagner, sondern Nancy, und erläutert auf ihr Nachfragen: Er fühle sich weder entwürdigt noch benutzt, er biete schlicht einen Service an – eine Haltung zum Thema (wenn auch legale, gesetzlich abgesicherte Luxus-)Prostitution, die einige Filmkritikerinnen und -kritiker durchaus irritiert hat.

„Alles wäre doch wesentlich zivilisierter, wenn jeder dazu Zugang hätte und es nicht so schambehaftet wäre, sondern frei“, sagt der Mann für gewisse Stunden im Film. „Du möchtest Sex und bist frustriert, weil du keinen kriegst. Egal, aus welchem Grund. Du bist schüchtern oder krank oder behindert oder du hattest einen Trauerfall. Also engagierst du jemanden wie mich. Alles ist geregelt und sicher, für dich, für mich. Es ist besser für alle und ich helfe dir und bereite dir Freude.“

Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Es ist eine Glanzleistung, mit der sich der defacto Newcomer McCormack neben die zweifache Oscar- und BAFTA-Preisträgerin stellt. Leo, laut Nancy „der Sexheilige“, nimmt ihr mit seinem Charme und seiner empathisch-lockeren Art die Unsicherheit, und bald legt die gutbürgerliche Nancy mit größter Freude den erzkonservativen Keuschheitsgürtel ab, der ihr per Erziehung auferlegt wurde. Sanft und feinfühlig lehrt Leo Nancy sich bei sinnlichen Erfahrungen Zeit für Körper und Geist zu nehmen. Katy Brand hat für ihre ungleichen Protagonisten philosophisch-tiefschürfende, geschliffene Dialog-Duelle mit sensiblen Zwischentönen geschrieben.

„Meine Stunden mit Leo“ ist ein in jeder Hinsicht intimes, famos vergnügliches, ungemein sympathisches Komödiendrama über Zwischenmenschliches, wobei die raffinierte Sophie Hyde den im Arthouse-Film gern verwendeten Kniff einsetzt, ihr Liebespaar nie beim Sex zu zeigen. Nur durch die Gespräche nimmt man wahr, wie und was sie empfunden haben – von Blowjob (Zitat Nancy: „Soll ich ihn einfach rausholen?) bis Doggy Style. Die unverblümten Gespräche sind hier wichtiger als „es“ – wie Nancy „es“ nennen würde. Worte stellen die Beziehung her, die es braucht, um sich körperlich näher zu kommen.

„Mein letzter Versuch zu leben“, nennt die Best Agerin die Treffen. Und ja, Brand und Hyde geht’s sehr intensiv ums Bodyshaming: Hängebusen, schwabbelige Oberarme, der Bauch, die Schenkel, die Cellulite. Und was hat man nicht alles verschwendet: die Jugend, die Möglichkeiten. Leo versteht und versucht die Sorgen seiner schwierigen Klientin wegzuküssen. Er will, dass Nancy ihre Hemmungen mit Grandezza überwindet. Er will ihren Bedürfnissen das Stigma nehmen, nachdem ältere Frauen tunlichst keinen Gedanken mehr an körperliche Liebe verschwenden sollen (Männer aber schon), weil weibliche Lust sowieso etwas Sündhaftes ist.

Es geht der Filmemacherin um Grenzen und Tabus, um die Normalität von Sex und Erotik. Und das ausdrucksstarke Gesicht von Daryl McCormack, wenn er den nüchternen Erklärungen seiner Mandantin lauscht, seine vorsichtigen Annäherungsversuche oder die direkte Offenheit, die erschreckten Reaktionen von Emma Thompson und ihr befreiendes Lachen, all das macht diesen Film sehr besonders.

Am Ende lässt die emotionale Last die Zweisamkeit in sich zusammenbrechen. Beide, Leo und Nancy, haben einander unter Fake-Namen kennengelernt, beide laborieren an tiefen seelischen Wunden. Seine Familie denkt, der jobbe auf einer Bohrinsel, sie geht in ihrem Kontrollwahn den Schritt zu weit, seine wahre Identität auszuforschen, was seine professionellen Schranken sprengt. „Good Luck to You, Leo Grande“ ist der englische Filmtitel, und der ist wesentlich passender. Es kommt zu einer letzten Aussprache und … mehr im Kino.

www.leograndefilm.co.uk/home         www.wildbunch-germany.de/movie/meine-stunden-mit-leo

31. 8. 2022

Wiener Festwochen: Tianzhuo Chen – 自在天 / Ishvara

Mai 14, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Magic Mush/Room im MuseumsQuartier

Ein einzigartiges Performerpaar spielt mit Religionen und Riten: Beio (li.) und China Yu (re.) verkörpern den Gegensatz von Fleisch und Geist. Bild: Zhang Yan

Premiere eins unter dem neuen Festwochen-Intendanten Tomas Zierhofer-Kin war nun also … und sie war … weniger spektakulär sensationell, als es die Vorablobpreisungen erwarten hätten lassen. Aber immerhin: sehr schön anzuschauen. Die paar Buhrufer hatten zweieinhalb Stunden Zeit, um sich zu verabschieden, der große Rest des Publikums warf sich einander am Ende glückselig in die Arme. Man selbst warf zwei Kopfschmerztabletten ein.

Was nichts mit der Qualität der Aufführung, sondern lediglich mit den blendenden Lichteffekten zu tun hatte. Tatsächlich forderte eine männliche Stimme mittendrin lautstark „Scheinwerfer aus!“ – was immer sie damit sagen wollte. Und apropos, Kopfschmerz: Beipackzettel gibt es genug. Im – vielen Dank! – immer noch erhältlichen Gratisprogramm findet sich eine präzise Erklärung des zu Sehenden, dazu gibt es ein Beiblatt mit deutschsprachiger Übersetzung der chinesisch gesprochenen Textstellen.

Zierhofer-Kin, der Sprechtheater fad und Musiktheater altvaterisch findet, so zumindest lässt sich seine Pressekonferenz interpretieren, die den „Salon Burgtheater“ gleich mal auf die Barrikaden trieb, eröffnete mit seiner Vorstellung von Festwochen. Er lud den Shootingstar der chinesischen Performerszene, Tianzhuo Chen, Jahrgang 1985, zum Tanz – und das Ergebnis ist – ein Magic Mush/Room im MuseumsQuartier. Der Querdenker der Bejinger Kunstszene arbeitet sich in „自在天 / Ishvara“ an so ziemlich jeder Religion und jedem Ritus ab, den’s/die es überhaupt gibt.

Heißt: Als Vorlage für seine siebenszenige Aufführung dient ihm der indische Mythos Bhagavad Gītā, ein Teil des Mahabharata, der Gesang des Erhabenen im Endloskrieg der Generationen durch die Gezeiten. Darin begegnen einander drei Konzepte, das sterbliche Fleisch, die ewige Seele und die ehrfürchtige Hingabe, und treten von Dämonen gepeinigt in einen Wettstreit ums Überleben. Drei Temperamente gibt es außerdem, davon das liebste „Rajas“ – leidenschaftlich, missgestimmt, sehnsüchtig. „Ishvara“ selbst bezeichnet den jeweils höchsten Gott, egal, ob man – im Hinduismus ist das möglich – diesen als Vishnu oder Shiva glaubt.

Was Tianzhuo Chen daraus entwickelt ist, als hätte sich Monty Python (tatsächlich hält eine Comic-Gotteshand den Kopf eines Enthaupteten, siehe auch die Göttin Durga) mit einem Manga-Mädchen verpaart. Diese wird später zu einer Art Heiliger Sebastian, die Heiligen Drei Könige setzen auf Golgatha vor das Kreuz einen Halbmond, halt: falsch, das sind schon besagte Dämonen. Einer schlägt die Trommel, einer lässt den Zopf kreisen, ein Paar tanzt in Zeitlupe Jive, Darsteller tragen einen aufgemalten Davidstern. Kakushin Nishihara spielt die Satsuma Biwa bis die Ohren bluten, und die Schweizer DJane Aïsha Devi orchestiert das Geschehen mit ihren grandiosen Klagelauten.

Tradition knüpft an Moderne: China Yu spielt mit Geschlechterrollen … Bild: Zhang Yan

… und zerstört in einer späteren Szene eine aufblasbare Riesenfrau. Bild: Zhang Yan

Und dies das tatsächliche Problem des Abends: Man kann der ultimativen Ekstase nicht in Reih und Glied sitzend beiwohnen, da hilft’s auch nichts, dass sich die Herren im Ensemble beim frenetischen Schlussapplaus ihrer Lendenschurze entledigen und wie die Götter sie schufen über die Bühne hüpfen …

Anyway, im Mittelpunkt der Aufführung stehen die beiden exzeptionellen Performer Beio und China Yu, ersterer unverkennbar Butoh-geschult und mit zweiterem Gründer der Asian Dope Boys, schon aufgrund ihrer Körperlichkeit zeigen sie die Gegensätze von Fleisch und Geist an, Prakrti und Bhakti, der Sinnenmensch und der Gläubige am Teichufer. Der Sound wummert in den Eingeweiden, die Augen kämpfen gegen das Licht, die Darsteller wiegen und verbiegen sich höchst ästhetisch, während „Handlung“ abläuft.

Kostüme und Ganzkörperbemalungen sind opulent, wie schade, dass vieles oft im künstlichen Nebel außer Sicht gerät. Manieristisch? Ist dieser Abend zweifellos. Tianzhuo Chen setzt mehr auf Effekt denn auf Erleuchtung, setzt auf Eskapismus statt auf Erklärungen.

In zwei vergleichsweise stillen Szenen schildert die junge JoJo den mehrfachen Mord an ihrem immer wiederkehrenden Ehemann (daher: vorher Text lesen!), China Yu zerstückelt später eine aufblasbare Riesenfrau, entreißt ihr Gedärme und Nabelschur – und lässt so JoJo wieder in die Welt treten. Provokation mag das in Bejing gewesen sein, beim abgeklärten Wiener Publikum lösen diese Sequenzen freundliches Interesse aus. Eine Gruppe in den oberen Reihen hat sich entschlossen, jeden Bühnenfurz zu bejubeln, um den Schimpf-Zuschauern etwas entgegenzuhalten. Die opulenten Bilder werden von unzähligen Handykameras dokumentiert.

Der Rave erreicht den Höhepunkt, im orgiastischen Geschehen hat man längst kapiert, dass hier mehr Event-Fashion-Show als sonst was abläuft. Und dann – haut’s einem Tianzhuo Chen um die Ohren – die Emotion – in einem berührenden Schlussbild. China Yu hält JoJo in einer Art Pietà fest und singt mit ihr ermattet-grotesk ein berührendes Pop-Liebesduett. Danach dreht er wieder, wie zu Anfang, Schirmchen … Der bildende Künstler Tianzhuo Chen changiert bei seiner ersten Theaterarbeit zwischen symbol/trächtig und bedeutungs/schwanger. Der Mensch unterwirft das Göttliche, um selbst gottgleich zu werden, und das alles ist dann wie ein Ecco homo. Oder ist das schon zu viel interpretiert? Man sollte „Ishvara“ einfach einsickern und wirken lassen – die #viennapartyweeks 2017 sind jedenfalls eröffnet.

www.festwochen.at

Wien, 14. 5. 2017