Eismayer: Eine schwule Love Story beim Bundesheer

Oktober 29, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Ein Coming-Out nach wahren Begebenheiten

Eismayer schikaniert die Rekruten: Gerhard Liebmann. Bild: © Golden Girls Film

Apropos legendär: Das Schauermärchen um die Kuh, die von einer Panzerfaust „weggefetzt“ wurde, so dass nur noch ihre qualmenden Klauen stehenblieben, ist wahr. Dafür gibt es hier Zeugen. Es geschah Anfang der 1980er-Jahre in Bruckneudorf, aber nicht der Eismayer war es. Ein paar übermütige Wiener Grundwehrdiener wollten einer burgenländischen Bäuerin ein Loch ins zum Trocknen in der

Sonne aufgehängte Leintuch sengen, ohne zu ahnen, dass dahinter ein Hornvieh stand … So viel zu Mythen und Sagen. Zu denen Charles Eismayer zweifelfrei gehört. Regisseur und Drehbuchautor David Wagner erzählt in seinem Filmdebüt, das ab 28. Oktober in den Kinos zu sehen ist, vom „härtesten Schleifer beim österreichischen Bundesheer“, und wie dessen Vollmantelgeschoss von Herz am renitenten Rekruten Mario Falak seine Mannstoppwirkung verliert. Ein Coming-Out, eine Liebeserklärung, schließlich das Ja-Wort im Jahr 2014 in der Maria-Theresien-Kaserne.

Eine Story so wild, weil sie wahr ist, so berührend, schmerzhaft, kraftvoll, in unerwarteten Momenten auch skurril und komisch, wie sie nur das Leben schreiben kann. Wagner hat viele Stunden mit den beiden verbracht (auch mit Eismayers Ex-Opfern, die ihn heute teils feiern, teils nach wie vor verdammen), der Vizeleutnant seit Kurzem pensioniert, der Ehemann mittlerweile Major Falak. Dies Jahr in Venedig wurde „Eismayer“ als bester Spielfilm der Settimana Internazionale della Critica ausgezeichnet. Die Vorbilder neben ihren Darstellern dankten mit militärischem Gruß und einem vielfotografierten Kuss.

Schwulsein inmitten toxischer Männlichkeit und deren Machogehabe, das ist das Thema, das David Wagner interessiert, die Grönemeyer’sche Frage: Wann ist ein Mann ein Mann? Gedreht wurde an Originalschauplätzen, heißt: mit Unterstützung des Bundesheeres, das nach Leistungsschau und Angelobung am Nationalfeiertag diesen weiteren Image-Aufwind willkommen heißt (und in einem Statement betont, dass aggressive Ausbilder wie der Eismayer eine fiktionale Sache seien und man längst auf Diversität und Feedback-Kultur setze), und wenn man im Film der Ehrenkompanie beim Exerzieren zusieht, muss man unweigerlich an die glückliche Klaudia Tanner in ihrem Pompfinebrer-Poncho denken. Diese Ministerin liebt ihre Männer.

Luka Dimić als Mario Falak. Bild: © Golden Girls Film

Lion Tatzber als Sohn Dominik. Bild: © Golden Girls Film

Julia Koschitz als Ehefrau Christina. Bild: © Golden Girls Film

Bild: © Golden Girls Film

Zum Grundwehrdienst in der „4. Garde“ wird auch Rekrut Mario Falak eingeteilt, der aufsässige „Tschusch“, der frech zu seiner Homosexualität steht und zu den üblichen militärischen Unsinnigkeiten immer einen letzten Satz hat. Also ab zum Sadisten Eismayer. „Er wird dich zum Frühstück ficken!“, wird ihm noch nachgerufen. Dann der nach Angstschweiß müffelnde Appell. Die Eingezogenen stehen nervös in Reih und Glied, Eismayers einzige Art sich zu verständigen ist brüllen.

„Schwuchtel“ Falak, nunmehr „Rekrut Tschusch“, erfährt den brutalen Drill am eigenen Leib, in einem Umfeld mit den Standardworten „Oarschloch“ und „Bluatrausch“ und Scherzen über „kameradschaftlichen Geschlechtsverkehr“. Eismayer tarnt sich strategisch schlau hinter einer homophoben Fassade, und großartig ist die Szene einer Geländeübung, bei der der wieder einmal bestrafte Falak nächtens nackt, weil zufleiß in den Wald läuft und Eismayer ihm nachruft: „Wenn Sie erfrieren, bring‘ ich Sie um!“

Dass dies alles derart überragend rüberkommt, liegt an den beiden Protagonisten Gerhard Liebmann als Charles Eismayer und Luka Dimić als Mario Falak, zwei Schauspielern, die sich auf ihre Charaktere ein- und intimste Nähe zulassen. Wenn sich Liebmanns Gesicht zur Fratze verzerrt, sein ohrenbetäubendes Geplärre sich Bahn bricht, so dass man hofft, Liebmann hätte sich vom Schreien keine gesundheitlichen Schäden zugezogen, dann ist das sozusagen der Grundton des Films. Man weiß nun: Eismayer will sein inneres Chaos überbrüllen.

Liebmanns Spiel, changierend zwischen Männlichkeitswahn und jäh aufreißender Verletzlichkeit, zwischen zackiger Soldatenwelt und emotionalen Kämpfen, ist die große Stärke von „Eismayer“. In der Kaserne ein Berserker, ist er daheim bei Frau und Kind ein gutmütiger und geduldiger Schinkenfleckerl-Koch, dem der Sohn unbestraft die Wände vollkritzelt. Seine Homosexualität lebt er in harten, kurzen Akten auf schlecht beleuchteten Parkplätzen aus, doch ahnt Christina (Julia Koschitz grau vor Müdigkeit und Enttäuschung) bereits, dass da etwas im Busch ist.

Bild: © Golden Girls Film

Vorbilder für den Film: Charles Eismayer und Mario Falak bei ihrer Hochzeit 2014. Screenshot: © Golden Girls Film

Aufgerieben wird Eismayer auch beruflich, zwischen Hauptmann Karnaval – Christopher Schärf, der den gefürchteten Vizeleutnant regelmäßig ermahnt „Genau wegen so Schleifertypen wie Ihnen will niemand mehr zum Bundesheer“, und Karl Fischer als Oberst Hierzberger, ein Soldat der alten Schule und „Charlies“ militärischer Ziehvater, der dessen Methoden selbstverständlich gutheißt. Es ist Mario Falak, der Eismayers Doppelleben eigentlich auf den ersten Blick durchschaut.

Der in Sarajevo geborene Luka Dimić gestaltet ihn furchtlos und bubenhaft charmant, als queeren Freigeist, so provokant wie sensibel, als einen, der zu sich steht und damit seinen Vorgesetzten scheint’s mit Vorsatz zur Weißglut bringt. Der Schiach geht Mario erst an, als ihn Eismayer zwecks Installation eines neuen Fernsehers in die Wohnung abkommandiert, da ist Christina schon ausgezogen, er wegen Versäumen des Zapfenstreichs zum Übernachten eingeladen wird und sich der Gastgeber alsbald zärtlich an ihn kuschelt.

Eine delikate Annäherung, festgehalten jenseits jeder Peinlichkeit. Eine Begierde entsteht, eine Liebe, mit der die beiden umzugehen versuchen, während um sie herum rassistische und schwulenfeindliche Witze durch die kalten Kasernengänge hallen. Es ist erstaunlich, wie es Wagner und Liebmann gelingt, das Scheusal Eismayer zum Sympathieträger zu machen. Ebenso, wie Dimić glaubhaft verkörpert, dass die „Schwuchtel“ Mario sich vom martialischen Milieu des Militärs angezogen fühlt und sich erfolgreich um Aufnahme an der MilAk bemüht.

„Eismayer“ ist ein fokussierter, ein wenig zu stark komprimierter Film, dem man mehr als 90 Minuten Spielzeit gewünscht hätte. Eine der schönsten Szenen ist, als Eismayer seinem Sohn Dominik – Lion Tatzber erklärt, Mama und er seien kein Paar mehr, weil Papa lieber einen Mann zum Partner habe. Da erklärt der Knirps, es sei doch gar nichts dabei, er selbst mache sich auch nichts aus den blöden Mädchen in der Klasse. Er sei lieber zusammen mit Emir, Arthur, Denial und dem urcoolen Louis. „Und wie heißt dein Freund?“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=vab0XGlsgwg           eismayer.com/de           www.goldengirls.at

  1. 10. 2022

Waschsalon: Schöner Wohnen im Roten Wien

September 6, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

„Der Fußboden soll der Stolz jeder Hausfrau sein“

Interieur in einem Wohnhausbau der Gemeinde Wien, 1928, koloriert. © WStLA/Foto Gerlach

Ab 8. September zeigt der Waschsalon Karl-Marx-Hof die Ausstellung „Schöner Wohnen im Roten Wien“, dies zum Jubiläum „100 Jahre Wohnbauprogramm“. Einen Wiener Gemeindebau der Ersten Republik erkennt man auf den ersten Blick. Die Fassaden mit ihren Sprossenfenstern, Balkonen, Loggien und Erkern prägen das Stadtbild bis heute. Doch wie wohnen die ersten Arbeiterfamilien in diesen neuen, „gesunden Volkswohnungen“? Der Waschsalon geht auf

Wohnungsinspektion, und interessiert sich für die Grundrisse der Wohnungen, die Aufteilung der Zimmer und deren Einrichtung, wirft einen Blick in den Kochtopf und achtet auf die Einhaltung der „Hausordnung für die Wohnhausbauten der Gemeinde Wien“: „Parkett und harte Brettelböden dürfen nur mit Wachs eingelassen werden“ und auch das Wäschewaschen ist – mit Ausnahme kleiner Wäschestücke wie Taschentücher oder Strümpfe – nicht gestattet. „Durch Waschen in der Wohnung kann die Wohnung leicht feucht werden“, warnt Stadtphysikus Dr. Viktor Gegenbauer 1929. Am Gang fällt der Blick auf die versperrbaren Nischen, in denen Gasmesser und Stromzähler untergebracht sind. Die Wohnungstüren sind genormt, mit zweimaligem Ölfarben- und einmaligem Emaillackanstrich versehen und haben in der Regel Messingbeschläge, eine Drehglocke, ein „Guckerl“ und einen Briefeinwurf.

Um 1900 lebt die Mehrheit der Wiener Bevölkerung noch auf Zimmer und Küche. Berüchtigt sind die „Gangküchenwohnungen“ ohne fließend Wasser und ohne Elektrizität. „In diesem meist nur 1.10 Meter breiten Gang münden überdies die Aborte, welche für je zwei Parteien gemeinsam sind und der Wasserspülung entbehren. Diese Abortgruppen sind den Küchen- und Kabinettfenstern häufig vorgelagert, ein ebenso widerlicher Anblick als gesundheitsschädlicher Zustand“, schreibt die Gemeinde Wien 1927 rückblickend.

In diesen Kleinstwohnungen leben in der Regel sechs und mehr Bewohner, in über einem Viertel der Haushalte auch Untermieter und sogenannte Bettgeher. Nachdem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei bei den Gemeinderatswahlen vom 4. Mai 1919 die absolute Mehrheit erreicht, beginnt sie ihr Reformwerk – unter den schwierigsten Bedingungen, wie die Arbeiter-Zeitung kurz nach den Wahlen bestätigt: „Die christlichsoziale Hinterlassenschaft ist entsetzlich: die Kassen der Gemeinde sind leer.“ Zur Finanzierung ihrer ambitionierten Wohnbaupläne führt Finanzstadtrat Hugo Breitner 1922 eine Mietzinsabgabe ein, die 1923 in eine zweckgebundene Wohnbausteuer umgewandelt wird.

1922 wird ein transparentes „Punktsystem“ eingeführt, das die Wohnungswerber in Dringlichkeitsstufen einteilt. 1923 beschließt der Gemeinderat ein erstes Wohnbauprogramm, 1927 folgt ein zweites. „Bis zum Jahre 1932 wird die Gemeinde rund 65.000 neue Wohnungen besitzen“, kündigt der zuständige Stadtrat Anton Weber 1928 an. Am Ende der Ersten Republik wohnt jeder zehnte Wiener, jede zehnte Wienerin in einer Gemeindebauwohnung.

© Wohnservice Wien | Stefan Zamisch

Mutter mit Tochter vor dem Lavoir, 1932. © ÖNB/Zvacek

Wannenbad, Wehlistraße, 1928. © WStLA/Foto Gerlach

Erziehung zum richtigen Wohnen in Zimmer-Küche-Kabinett

Wer das Glück hat, eine der begehrten Wohnungen in einem Neubau der Gemeinde Wien zu ergattern, wird rundum umsorgt, aber auch belehrt und ermahnt. Unzählige Publikationen widmen sich der „Erziehung zum Wohnen“, auch in einschlägigen Blättern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei finden sich regelmäßig Reportagen und Fotostorys. Stadtrat Julius Tandler formuliert 1927 den Anspruch der Sozialdemokratie: „Die Menschen, die in unseren neuen Häusern wohnen, sind neue Menschen, leben und atmen nicht nur in neuen Räumen, sondern fühlen und denken auch anders.“ Um Nachsicht wirbt hingegen Otto Bauer 1928: „Die Menschen, die in diese Wohnungen hineinkommen, erfahren erst, was Wohnen ist. Sie haben zum erstenmal [sic] nicht bloß eine Schlafstelle, sondern eine Wohnung.“

Zwar tragen die Wohnungen das Label „Gemeinde-Wien-Typus“ und weisen ähnliche Grundrisse auf, fest steht aber: Die Gemeindebauwohnung gibt es nicht. Alle Wohnungen verfügen über Aborte mit Wasserspülung, in den Küchen sind Gasherde und Wasserausläufe montiert, in alle Räume ist elektrischer Strom eingeleitet. Bäder innerhalb der Wohnungen, Aufzüge und Zentralheizung bleiben hingegen ein Wunschgedanke.  Im Wesentlichen werden in den ersten Jahren zunächst zwei Wohnungstypen errichtet. Drei Viertel der Wohnungen „hat bei wenigstens 38 Quadratmeter nutzbarer Bodenfläche einen kleinen Vorraum, Abort, Wohnküche und ein Zimmer“. Der größere Wohnungstyp hat 48 Quadratmeter Bodenfläche und „außer dem Zimmer noch eine Schlafkammer“, heißt es in „Wohnungspolitik der Gemeinde Wien“ 1929.

Im Rahmen des Internationalen Städtebaukongresses, der 1926 in Wien stattfindet, hagelt es jedoch unerwartete Kritik an den neuen Wohnbauten. „Die in Wien ausgeführten Wohnungsgrößen wurden von Besuchern aus den reicheren, westlichen Staaten häufig als auffallend klein empfunden“, gesteht der damalige Sekretär des Deutschösterreichischen Städtebundes, Karl Honay. Die Stadt nimmt sich die Kritik zu Herzen und plant ab 1927 auch größere Wohneinheiten. Die Wohnungen verfügen nun über 40 bis 57 Quadratmeter Wohnfläche, die Lebensbereiche „Wohnen“ und „Kochen“ werden zunehmend getrennt – aus der früheren „Wohnküche“ wird nun die „Kochküche“.

Während in den Wohnküchen der frühen Bauten der Herd die primäre Wärmequelle darstellt, wird im separaten Wohnzimmer nun mit Verbrennungsöfen geheizt. „Das Zerkleinern von Holz und Kohle in den Wohnungen ist strengstens untersagt und darf nur im Keller oder im Hofe geschehen“, heißt es 1929 in der Hausordnung. „Zu jeder Wohnung gehört ein Klopfbalkon, der vom Vorzimmer aus direkt zugänglich ist“, informiert die Arbeiter-Zeitung über die neuen Bauten. Laut Hausordnung dürfen Kleider jedoch nur zwischen 7 und 10 Uhr vormittags ausgeklopft werden, das Teppichklopfen ist nur im Hof gestattet.

Wohnkultur fürs Poletariat

Schulzahnklinik im Heinehof, 1926. © WStLA/Foto Gerlach

Mit den größer dimensionierten Grundrissen hält auch das bürgerliche Wohnzimmer Einzug in die Arbeiterwohnung. Dessen Einrichtung beschäftigt nicht nur die Architektinnen und Architekten der Zeit. „Viele Möbel der Proletarier entsprechen durchaus dem kleinbürgerlichen Ideal der Vortäuschung höfischen Glanzes: große Doppelbetten mit Muschelaufsatz, unpraktische Gegenstände“, beklagt der Nationalökonom Otto Neurath. Und das Architekten-Duo Franz Schuster und Franz Schacherl

fordert: „Die proletarische Wohnung wird eine eigene Form bekommen, einen eigenen Stil und eine eigene Kultur. Die Kultur der Sachlichkeit, der Reinlichkeit und der Klarheit.“ Wobei sich viele Arbeiterfamilien „den Luxus der Einfachheit“ gar nicht leisten können und, wie die Journalistin Marianne Pollak 1930 schreibt, deshalb „auf die Dutzendware, das Serienstück, die Zimmergarnitur“ angewiesen sind.

Die 1922 vom Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen gegründete „Warentreuhand“ hat die Aufgabe, „jedem, der Hausrat, Möbel, Heiz- und Beleuchtungskörper kaufen will, mit Rat an die Hand zu gehen“. Wohnungseinrichtungen produziert auch die „Wiener Hausratgesellschaft“. Diese „kommunale Möbelaktion“ soll „Klein- und Typenmöbel“ für Gemeindewohnungen entwickeln. 1930 eröffnet eine erste Dauerausstellung im Karl-Marx-Hof, die Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene, kurz „Best“. Die Auswahl der dort ausgestellten Möbelstücke sowie der „vollständig eingerichteten Musterwohnung“ erfolgt durch eine eigene Prüfungskommission, die sich aus Architekten, aber auch VertreterInnen der Mieter- und Hausfrauen­organisationen zusammensetzt. „Alles, was dort gezeigt oder empfohlen wird, soll praktisch, echt, schön und billig sein“, schreibt der Publizist Max Ermers 1930 in Der Tag.

„Die Frau von heut“

„Die Befreiung der Frau ist nur dann möglich, wenn die häusliche Arbeit auf ein Mindestmaß eingeschränkt wird“, fordert die Arbeiter-Zeitung 1924. In den frühen-1920er Jahren wird die Diskussion um die Zentralisierung und Rationalisierung der Haushaltsarbeit international geführt – von New York über Frankfurt und Berlin bis nach Wien. „Zur Entlastung der Hausfrauen“ fordert Otto Bauer bereits 1919 „Zentralküchen, Zentralwaschküchen, Zentralheizanlagen, Spielräume und Lernzimmer für die Kinder“ sowie die Bestellung der „zur Führung dieser gemeinsamen Einrichtungen erforderlichen Köchinnen, Wäscherinnen, Kinderpflegerinnen usw.“ Soweit kommt es im Roten Wien nicht. Tatsächlich geben viele Frauen ihre Berufstätigkeit auf, sobald die Jungfamilie in eine der neuen Wohnungen zieht. Aufgrund der günstigen Mieten wird ihr Zuverdienst nicht mehr benötigt. Die „neue Frau“ ist nun Hüterin der Familie und Organisatorin der Wohnung. „Der Fußboden soll der Stolz jeder Hausfrau sein“, bekräftigt der Magistrat 1928.

Zu sehen bis 17. Dezember.

Führungen durch den Karl-Marx-Hof

Jeden Sonntag führt das Waschsalon-Team durch den Karl-Marx-Hof. Alle Führungen finden bis auf Weiteres nur im Freien statt, die Dauerausstellung zur Geschichte des Roten Wien und die Sonderausstellung können im Anschluss daran individuell besichtigt werden. Treffpunkt: 13 Uhr vor dem Bahnhof Heiligenstadt, Endstelle U4, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Eintritt und Führung: 10 Euro pro Person.

www.dasrotewien-waschsalon.at

6. 9. 2022

Theater zum Fürchten: Revanche / Sleuth

Juni 16, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Großes Tennis beim Schauspieler-Serve-and-Volley

Otto Beckmann als Lover Milo Tindle und Johannes Terne als gehörnter Gatte Andrew Wyke im detailverliebten Bühnenbild von Regisseur Sam Madwar. Bild: © Bettina Frenzel

Als letzte Saison-Premiere in der Wiener Scala zeigt das Theater zum Fürchten Anthony Shaffers „Revanche. Mord mit kleinen Fehlern“, mit dem der Zwillingsbruder des berühmteren Dramatikers Peter Shaffer 1970 bei der Uraufführung in London einen Welthit landete – ansonsten blieben Anthonys Ausflüge ins Fach des Theaterautoren eher unbemerkt, er machte sich stattdessen als Drehbuchautor der Agatha-Christie-

Verfilmungen „Das Böse unter der Sonne“, „Tod auf dem Nil“, „Mord im Orientexpress“ und von Alfred Hitchcocks Thriller „Frenzy“ einen Namen. Unter dem Originaltitel „Sleuth“, umgangssprachlich für „Schnüffler“ im Sinne von Detektiv, wurde die Kriminalkomödie zwei Mal verfilmt: 1972 von Joseph Mankiewicz mit Sir Laurence Olivier als Andrew Wyke und Michael Caine als Milo Tindle und 2007 von Kenneth Branagh nach einem Drehbuch von Harold Pinter mit Michael Caine nun in der Olivier-Rolle und Jude Law als Milo Tindle.

Die Handlung dürfte also als bekannt vorausgesetzt werden: In seinem englischen Landhaus, das mit teuren Kuriositäten und witzigen Maschinchen vollgestellt ist, die die Vorliebe ihres Besitzers für Spielchen aller Art widerspiegeln, empfängt der Bestsellerautor von Kriminalromanen Andrew Wyke einen besonderen Gast: Er lädt den Liebhaber seiner Frau, den Friseur Milo Tindle, zu einem „Spiel“ ein: Wenn der mittellose Milo zwecks Versicherungsbetrugs einen fingierten Juwelendiebstahl hier im Haus begeht, überlässt Wyke ihm nicht nur seine Frau, sondern auch den Schmuck zur Finanzierung eines standesgemäßen Lebens.

Klar, dass der Vorschlag eine Reihe von Ereignissen auslöst, die die Grenzen zwischen Wettkampf und Kampf, blutigem Ernst und Mordsspaß auf das Durchtriebenste verwischen. Als Tindle von der Bildfläche verschwindet, erscheint ein mysteriöser „Inspector Doppler“ auf der Jagd nach einem Killer …

Fürs TzF hat Sam Madwar inszeniert und auch den Raum – mehr als dustere Ritterburg denn als Chalet – gestaltet, und so ist auch das Prunkstück zwischen den bezeichnenden Spielbrettern für Schach, „Fuchs und Henne“ oder „Mensch ärgere dich nicht“ eine Ritterrüstung, die per Knopfdruck in hämisches Gelächter ausbricht. In diesem Setting bestreiten Johannes Terne als Wyke und Otto Beckmann als Tindle das fintenreiche, verbal-intellektuelle Duell der beiden Antagonisten – das mit einer kuriosen Pointe ein überraschendes Ende findet.

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Terne füllt die Szenerie mit seiner Bühnenpräsenz, mit giftsprühender Intensität und im Laufe der Begebenheit mit zunehmend verzweifelter Wut. Er gibt den exzentrischen Schriftsteller, der sich an seinem Werk grandios zu delektieren weiß, süffisant, sarkastisch, spleenig, versnobt, sein Narzissmus maximal von seinem Ennui übertroffen – und logisch, dass dieses von sich so überzeugte „Genie“ das italienische Gastarbeiterkind „Figaro“ Tindle was Upper Class und geistreiche Art betrifft für deutlich unterlegen hält. Welch ein Irrtum. Aus seinem jüngsten literarischen Hit „Die Leiche auf dem Tennisplatz“ liest Wyke der Gattin Lover nicht einfach vor, vielmehr schlüpft er in die Rollen aller seiner Romanfiguren, und so hat’s Sam Madwar – mit feiner Hand für die Charaktere, viel Hinter-/Sinn für die spitzzüngigen Dialoge und um spooky Effekte nicht verlegen – inszeniert:

Seine „Revanche“ ist ganz großes Tennis mit schauspielerischem Serve-and-Volley-Spiel, mit Otto Beckmann als Milo Tindle als Ternes kongenialem Pendant, denn Tindle erweist sich bald als ebenbürtiger Partner in Wykes „Spiel“, auch er enttarnt sich als Master of Gamesmanship *.

*Die Legende besagt, Anthony Shaffer hätte die Idee zu „Sleuth“ nach einer der berüchtigten Spielenächte bei Musicalkomponist und -texter Stephen Sondheim gehabt, der für seine Rätselleidenschaft gefürchtet war, und regelmäßig Gäste in sein bis zur Decke mit alten Brett- und Ratespielen angefülltes New Yorker Appartement zu „The Murder Game“ lud, bei dem die Anwesenden gleich Cluedo-Detektiven einen Mord aufklären mussten.

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

„Karl Steinsch“ als mysteriöser Inspector Doppler. Bild: © Bettina Frenzel

Die Partie beginnt. Zwecks Einbrecher-Verkleidung zwingt Wyke Tindle in allerlei lächerliche Gewänder: in die Mönchskutte von Pater Langfinger, eine Ku-Klux-Klan-Kapuze, ein Marie-Antoinette-Kleid, die Kostüme sind von Anna Pollack, bis er endlich ein Dummer-August-Outfit als passend befindet – in dem sich der scheint’s gutmütige und schwer gedemütigte Tropf Tindle anfangs tatsächlich zum Clown macht. Terne unterstreicht Wykes Verachtung für den „Papagallo“ mit zunächst subtilen Gesten, doch je weiter dessen perfider Plan gedeiht, umso brutaler reißt man sich gegenseitig die Masken vom Gesicht in diesem „nie enden wollenden Reigen verhüllter Identitäten“, wie Wyke sagt.

Die kleinen Bösartigkeiten wachsen sich zu größeren aus. Terne und Beckmann performen ihre Rollen als Cracks aus jenem Holz, aus dem die Gambler geschnitzt sind. Bei der Verwüstung des Hauses, der Raub soll ja echt aussehen, zerreißt Tindle genussvoll die Hoflieferanten-Hemden seines Gastgebers oder zerfleddert dessen neuestes Manuskript, der wiederum hat flugs einen Revolver zur Hand, mit dem er vorerst das Antlitz seiner Angetrauten aus dem Hochzeitsfoto schießt. Milo Tindle macht auf ängstlich und irritiert, der eiskalt sein Mütchen kühlende Wyke zunehmend auf irrsinnig, aber schon bald, heißt: nach der Pause, wird ihm die Arroganz aus dem Gesicht fallen und die Contenance flöten gehen.

Auftritt nämlich ein gewisser „Inspector Doppler“, dargeboten vom – wie seine zwei Kollegen TzF-Debütanten – „Karl Steinsch“, über den im Programmheft zu erfahren ist: Geboren in der Theaterhauptstadt St. Pölten, Schauspielausbildung an der Autodidaktica in Castrop-Rauxel, und nein: hier wird nicht gespoilert. „Steinsch“ spielt den adipösen Schnüffler bärbeißig und unnachgiebig; Doppler ist schließlich auf der Suche nach dem wie vom Erdboden verschluckten Coiffeur Tindle beziehungsweise dessen Leiche und damit dessen Mörder. Und während Ternes Wyke ein Alibi haarscharf entlang der Wahrheit hervorstottert, baut das ermittelnde Schwergewicht Indiz um Indiz seine Falle auf …

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Dass Johannes Terne und Otto Beckmann in der Schlussrunde das komödiantische Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten, wurde vom höchst amüsierten Premierenpublikum mit viel Gelächter und Applaus goutiert; der leichtfüßig tänzelnde, sich very british gebende, vor Verve sprühende Johannes Terne; Otto Beckmann als Gamechanger Tindle ein Fall für Frauen, die auf den Typ Teddybär fliegen, und großartig ist, wie Beckmann seinen Hairstylisten zur Hochform auflaufen lässt.

„Revanche“ ist der quintessentielle Krimi über einen Schuss, der im Wortsinn nach hinten losgeht; das Suspense-Stück veralbert das Genre und bedient es gleichzeitig virtuos. Sam Madwar hat daraus ein Fest für Schauspieler gemacht, die einander im rhetorischen Schlagabtausch und bei ständig wechselnden Machtverhältnissen nichts, und den Zuschauerinnen und Zuschauern alles schenken. „Darauf einen Gin!“ – „Zum Wohle von Queen Mum!“

Zu sehen bis 25. Juni.

TIPP: Am 14. August hat das Theater zum Fürchten als Theater im Bunker mit „Aventura. Von den Abenteuern im Kopf und anderswo“ Premiere. Ein extravagantes Stationentheater im kilometerlangen System des ehemaligen Mödlinger Luftschutzstollens. Alle fünfzehn Minuten startet eine Gruppe ZuschauerInnen und begegnet auf der Wanderung durch den Bunker SchauspielerInnen, Bildern, Installationen und Szenen, aus denen sich im Kopf der Betrachtenden ein Stück zusammenpuzzelt. Konzept und Buch: Bruno Max, Raum: Marcus Ganser.

BONUSTRACK: Johann Nestroys „Umsonst“, inszeniert von Bruno Max, als kostenloser Stream: www.youtube.com/watch?v=jsoPuvu-3uY&t=3s

www.theaterzumfuerchten.at

16. 6. 2022

Werk X: Die Arbeitersaga

April 25, 2022 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Am 1. Mai werden alle vier Folgen gespielt

Das Bühnenbild zum 1. Mai steht schon: Johnny Mhanna, Susi Stach, Thomas Kolle, Peter Pertusini und Julia Schranz. Bild: © Alexander Gotter

„Die Arbeitersaga“ kommt – wie sollte es anders sein – am Tag der Arbeit im Werk X wieder zur Aufführung. Und es wird dabei viel gearbeitet: alle vier Folgen werden am 1. Mai auf die Bühne gebracht. Dazu servieren die „Seligen Affen“ ab 15 Uhr eine Heurigenjause im Hof. In der von Peter Turrini und Rudi Palla entworfenen Fernsehserie „Arbeitersaga“ wurde der Versuch unternommen, in vier miteinander verbundenen Spielfilmen eine politische Entmystifizierung der

Sozialdemokratie vorzunehmen. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Österreichs von den 1950ern bis in die 1990er-Jahre beschrieben. Das Werk X hat sich diesem Mammutwerk in einem vierteiligen Theaterabend genähert. Die „Arbeitersaga“ wird dabei über das Erzähljahr 1991 hinaus fortgeschrieben.

Die Rezensionen von www.mottingers-meinung.at:

Folge 1 & 2: Das Drama der Sozialdemokratie als Seniorengroteske

Die Sätze, wie sie zum Teil fallen, könnten treffender nicht sein. Ins Herz treffender, denn trotz aller Hetz, die man hat, drängt doch im Hinterkopf der Grant darüber, wie groß sie einmal war, und wie klein sie gehandelt wurde und geredet wird – die „Bewegung“. Dieser sich anzunehmen, der Sozialdemokratie nämlich, hat sich das Werk X anlässlich des Hundert-Jahr-Jubiläums des Roten Wien auf die Fahnen geschrieben. In Tagen, in denen nicht wenige Türkis-Grün als Fake der ersteren und deren ruckzuck Zappen auf Blau prophezeien, sobald der Strache-Weg bereitet ist, scheint eine Zeitgeschichtsstunde durchaus sinnvoll.

Und so nimmt man sich in Meidling, alldieweil die SPÖ trotz Ärztin als Parteichefin auf der ideologischen Intensivstation liegt, Peter Turrinis und Rudi Pallas „Die Arbeitersaga“ vor. Die ORF-Serie der späten Achtzigerjahre als theatrales Mammutprojekt, der Vierteiler auf zwei Abende aufgeteilt, von denen Folge 1 & 2 gestern Premiere hatten. Das sind, fürs Fernsehen führte weiland Dieter Berner Regie, „Das Plakat“ und „Die Verlockung“, ein Streifzug auf roten Spuren von 1945 in die 1960er, dessen Episode eins Helmut Köpping und Episode zwei Kurt Palm in Szene gesetzt haben. Ästhetisch beide Male vollkommen anders gedacht, bleiben doch gemeinsame Eckpunkte.

Die nicht nur Karl und später dessen Sohn Rudi Blaha sind, sondern auch die stete Verzweiflung der „Revolutionären Sozialisten“, sie nach den Februarkämpfen von 1934 tatsächlich und als illegale Gruppe gebildet, mit den bedingungslos kompromissbereiten „Parteireformern“. Die‘s wenig bekümmerte, sich mit Gerade-erst-Gestrigen gemein zu machen – siehe eine Stadt, in der von den Karls zwar der Lueger, nicht aber der Renner vom Ring geräumt wurde. Und so verwandelt sich die Frage des Volks von „Wann hat das alles angefangen, schief zu gehen?“ zu einem „Wer hat uns verraten? Szldmkrtn!“ Das Sozialdrama wird zur skurrilen Groteske, weil wie Marx schrieb, sich alles Weltbedeutende einmal als Tragödie, einmal als Farce ereignet, weshalb Palm die Köppinger’sche Fassung zur schmierenkomödiantischen Farce dreht – im Sinne von: ein Trauerspiel ist der Zustand der SPÖ ohnedies in jedem Fall …

Als Widerstandskämpferin Trude Fiala: Zeitgeschichtsstunde mit  Susi Stach. Bild: © Alexander Gotter

Karl Blaha ist aus dem Krieg zurück: Johnny Mhanna, Peter Pertusini und Thomas Kolle. Bild: © Alexander Gotter

Marx‘ Werke wiegen schwer: Michaela Bilgeri, Martina Spitzer und der Arbeitersaga-Chor. Bild: © Alexander Gotter

Mandi und Rudi Blaha studieren die „Bravo“: Florentin Groll und Karl Ferdinand Kratzl. Bild: © Alexander Gotter

Kurt Palm macht die jugendlichen Parteirevolutionäre zum Pensionistenverband, die Senioren im Clinch mit der Gewerkschaftsjugend, die im Klub die selben Räume belegt. Michaela Mandel hat zu den krachbunten Kostümen das Setting mit scheußlicher Siebziger-Jahre-Retrotapete ausgestattet, vom Wort Votivkirche an der Wand blieb nur das CHE, die roten Hoffnungsträger schlurfen mit Rollator oder Rollstuhl übers politische Parkett, und zwar zwecks Erhaltung von dessen Glattheit ausschließlich in „Filzdackerln“. Palm hat mit seiner Krückengroteske dies Biotop auf den Punkt genau getroffen: So geht Sektion! Was Palm vorführt, ist weniger Verballhornung der Wirklichkeit als etliche im Saal glauben, und kongenial sind Karl Ferdinand Kratzl und Florentin Groll als Rudi Blaha und Haberer Mandi.

Deren Liebesgeschichte, denn selbstverständlich gibt’s auch eine, sich um Brigitte Bardot dreht, deren Schwanken zwischen Konsum und Klassenkampf die Regie allerdings gestrichen hat – die Alten schwanken wohl so schon genug. Ein Kabinettstück ist es, wie Groll und Kratzl sich mit Hilfe eines Sexratgebers und der Bravo für die Bardot in Stellung bringen wollen, ein Bodenturnen zu dessen Wie-kommen-wir-wieder-hoch? man sich zu spät Gedanken macht. Die Figur des Fritz Anders hat Palm mit dessen neu erfundener Tochter Jenny überschrieben, Michaela Bilgeri als Phrasen dreschende Filmemacherin, die verbal zwischen „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ und „Das sagt man nicht mehr“ changiert, die ergraute Partie darüber verwundert, dass man den „Neger“ Franz nicht mehr, weil böses N-Wort, bei seinem Nachnamen nennen darf.

„Das wird ja immer absurder“, sagt irgendwann irgendwer, da haben sich die Zuschauer schon schiefgelacht, das Beharren auf politischer Korrektheit wird als Pose entlarvt und zur Posse gemacht, dazu singt der Arbeitersaga-Chor ein gegendertes „Wir sind die ArbeiterInnen von Wien“ oder „Von nun an gings bergab“ … mehr: www.mottingers-meinung.at/?p=36864

Folge 3 & 4: Die Skination in der politischen Steilabfahrt

Es dauert, bis Bettina Schwarz als mephistophelisch-clownesker Conférencier die sechzig möglichen Geschlechtsidentitäten sind gleich das Publikum begrüßt hat. Ein killing joke der leibhaftigen Gründgens-Fratze als Entrée in einen Abend, der Politik alles andere als p.c. abhandelt, eine Groteske zum Quadrat, weil’s große Kunst ist, eine Wirklichkeit zu verzerrspiegeln, die per se schon eine Farce ist. Gemäß dem auf keinem Wahlplakat zu findenden -spruch:

Humor ist, wenn das Stimmvolk lacht, hat das Werk X einmal mehr die Reflektor-Funktion übernommen, mit dem Mammutprojekt der Peter Turrini-Rudi Palla’schen „Arbeitersaga“ das Krankheitsbild der Sozialdemokratie zu persiflieren. Die TV-Serie, die sich ein Theater draus macht, ist mit „Teil II (Folge 3 & 4)“ in der finalen Runde. Bei „Müllomania“ hat Martina Gredler Regiehand angelegt; mit Bettina Schwarz spielen Ines Schiller, Lisa Weidenmüller und Annette Isabella Holzmann; Akkordeonistin Jana Schulz sorgt für den apokalyptisch kakophonischen Sound.

Die Weltuntergangsstimmung ist nicht von ungefähr, ist die Story doch um nichts weniger obskur als der Schutzkreis ums Krankenhaus Nord. Ich glaub‘, ich steh‘ im Rinterzelt, möchte man ob des ganzen Zirkus denken, Sanitärstadtrat Fred Wiedergewinner hat das Millionenprojekt einer Müllrecyclinganlage zu verantworten, doch das mit dem Aus-Alt-wird-Baustoff haut nicht hin, öffentliche Gelder sollen in der Parteikasse versickert sein – und während sich die Seilschaft zwischen Gutruf und Club 45 verlustiert, steigen dem Medienfut-zi (sic!) des Kommunalkorruptler allmählich die Grausbirn‘ auf.

Gredler karikiert mit ihrer geballten Frauenpower Männer, Macht und Machogehabe, sie zeigt eine queere Kraftlacklpartie mit Schiller als populistische Phrasen dreschendem Poser, eine „Dreck-Queen“ mit dem MA48er Slogan „Ganz Wien bleibt clean!“, Weidenmüller als Pressesprecher Rudi Blaha, ein Kasperl dessen überdimensionierte Schulterpolster nicht verbergen können, dass er sich krumm gekatzbuckelt hat, und Holzmann als Investigativjournalist im Detektiv-Trenchcoat …

Stadtrat Wiedergewinner in den Fängen der grausamen Groteske: Ines Schiller und Bettina Schwarz. Bild: © A. Gotter

Die 48er-Damen: Ines Schiller, Annette Isabella Holzmann und Lisa Weidenmüller. Bild: © Alexander Gotter

Bella Ciao: Oliver Welter, Lara Sienczak und Peter Pertusini. Bild: © Alexander Gotter

Mit der Ski-Nation geht’s bergab: Peter Pertusini, Zeynep Buyrac, Lara Sienczak und Sebastian Thiers. Bild: © A. Gotter

In Bernd Liepold-Mossers Hälfte des Abends, „Das Lachen der Maca Darac“ geht es um nichts weniger schräg zu. Ins Bühnenbild sind nun Skibindungen eingebaut, denn das Ensemble Zeynep Buyraç, Peter Pertusini, Lara Sienczak, Sebastian Thiers und der auch für die Musik zuständige Oliver Welter muss sich gut anschnallen – hat sich doch der Proporzslalom längst in eine politische Steilabfahrt verwandelt. Das Bild von der Skination macht Sinn, des Österreichers Stolz und Siegeswille ist ein gewachst gewachsener, und Liepold-Mosser ist diesbezüglich auch um kein Bonmot verlegen.

Nicht nur Peter Pertusini kann’s da auf gekonnt Kärntnerisch lai lafn losn, die Richtung – immer weiter den Hang hinunter? – stimmt angeblich auch nach diversen Spurwechseln, und am immensen Rückstand ist sowieso das Material schuld. Sagt der Kader im Chor „Proletariat“, hebt es ihn, hepp, kurz in der Hocke aus, ansonsten keine Bewegung, nicht einmal bei der von Welter als Holy Marx eingeläuteten Hüttengaudi.

Ein bissi posthysterisch ist dieses Themenkonglomerat schon, die Werk-X-tätigen Massen lassen von Konsumkapitalismus über Veganfetischismus bis zu Migration/Integration und präventiver Sicherungsverwahrung nichts aus. Bis die Darsteller aus den Schuhen in die Rollen kippen und die Turrini-Palla-Story aufgreifen, Pertusini als Kurt Höllermoser, der in einen Rudi Blaha’schen Waffendeal und dessen Fake News verstrickt wird, Zeynep Buyraç als illegale Einwanderin Maca Darac, die zwecks bevorstehender Ausweisung einen Mann zum Heiraten sucht.

Im Plastik-Schleier-Hijab rezitiert die potenzielle Braut „Ein Gespenst geht um in Europa“, das Manifest vom kleinbürgerlichen wie vom Bourgeoissozialismus heute bedrohter als zu Entstehungszeiten, und auch, wenn in Meidling alle Menschen „zur Sonne, zur Freiheit“ gerufen werden, mit der Vereinigung hapert’s. Denn wo zwischen Prolet, Prolo und Prekarier findet sich noch das echte, unverfälschte, von keinem Populismuskeim angesteckte Proletariat? Mehr: www.mottingers-meinung.at/?p=38734

werk-x.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=0n2zUo-Or6g      www.youtube.com/watch?v=Cp__IR9BRXM

25. 4. 2022

Theater der Jugend: Die Abenteuer des Odysseus

Januar 18, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Griechischer Wein und ganz viel Blut auf der Erde

Bild: © Theater der Jugend

Bevor es über den mythologischen Troja-Helden zu berichten gilt, ein Wort über die Alltagshelden des Theaters, die dieser Tage allüberall alles tun, damit der Vorhang hochgeht. Im Theater im Zentrum, dem kleineren Haus des Theaters der Jugend, gelang dies bei „Die Abenteuer des Odysseus“ mit zwei Umbesetzungen: Curdin Caviezel, der die in dieser Spielfassung sehr wichtige Rolle des Telemachos übernahm.

Und Rafael Schuchter als Eurylochos, Bote, Teiresias, Freier auf Ithaka und Teil des Chors im Sturm. Wie die beiden in Windeseile in die Produktion gerauscht sind, nötigt Respekt ab. Auch Bijan Zamani als Odysseus, der sich im Probeneifer die Nase gebrochen hat, und dennoch auf der Bühne steht. Michael Schachermaier hat „nach Homer“ inszeniert und dafür die Magiemaschine angeworfen (Bühnenbild aus beweglichen Schiffsbausteinen: Judith Leikauf und Karl Fehringer, Kostüme: Regina Rösing, Abenteuerfilmmusik: Thomas Felder, das hier Atmosphäre schaffende Licht: Lukas Kaltenbäck); er hat am Haus vor einem Jahrzehnt schon mal bei der „Odyssee“ eines anderen Autors Regie geführt, nun machte er sich selber an den Text heran.

Schachermaier hat dafür einen Rahmen gebaut. Nach zwanzig Jahren Abwesenheit wird Odysseus als letzter Überlebender von Poseidons Rache an die Gestade von Ithaka gespült. Er ist traumatisiert, verwirrt, erkennt die Heimat erst nicht. Da torkelt sein steinalter Hund Argos heran, anrührend knuffig: Enrico Riethmüller, der später auch den Zerberus gibt (bis auf Odysseus und Telemachos sind die Darstellerinnen und Darsteller für mehrere Charaktere zuständig), er erkennt seinen Herrn. Pfötchen, ein Schlecker übers ganze Gesicht – Odysseus findet sich wieder, und Telemachos, der auf der Suche nach seinem treuen, vierbeinigen Freund ist. Jetzt kommt Schachermaiers genialer Kunstkniff. Der Vater erzählt dem Sohn, was bisher geschah – nicht die ganze Odyssee, die passte nicht ins 90-Minuten-Format -, und Telemachos, skeptisch und unentschlossen, wie er sich dem Alten gegenüber verhalten soll, findet sich plötzlich mitten drin in den „Abenteuern des Odysseus“.

Bild: © Theater der Jugend

Bild: © Theater der Jugend

Bild: © Theater der Jugend

Odysseus verliebt sich in Penelope, kein Heimchen am Herd: Cathrine Sophie Dumont, die hinter milchigen Folien auch als Schemen der Pallas Athene zu sehen ist, und im Hades als Odysseus‘ tote Mutter, Telemachos wird geboren, da erscheint Menelaos, Clemens Matzka martialisch in schwarzem Leder, und fordert vom Kriegsdienstverweigerer Gefolgschaft ein. Die zehn Jahre vor Troja sind schnell erzählt. Trojanisches Pferd. Kein Dankesopfer für Poseidon, abermals Matzka, den Gott der Meere und der Pferde, ergo Irrfahrt.

Jürgen Heigl, Rafael Schuchter, Enrico Riethmüller, Clemens Matzka – und Johanna Egger wechseln von Odysseus‘ Mannschaft zum präpotenten Pack von Penelopes Freiern, als erstere dem Listenreichen treu ergeben, obwohl der „Ithaka“-Ruf alsbald vom Stinkefinger begleitet wird, als zweitere sind sie famose Intriganten. Johanna Egger soll wohl ein Gegengewicht zu so viel toxischer Männlichkeit sein. Das alles zeigt Schachermaier nicht bitterernst, sondern modern und mit einer Portion frechen Humors. Vom Zyklopen Polyphem hört man aus den Tiefen des Saals nur ein Brüllen und Stampfen, die Schiffscrew in der Höhle, heißt: auf giftgrüner Leinwand, will den einäugigen Riesen zwecks Flucht betrunken machen, die Männer singen Udo Jürgens „Griechischer Wein“ und kommen schließlich mit dem aufgespießten Auge aus dem Untergrund.

Johanna Egger kann auch Circe. In durchsichtigen Gewändern singt sie den Popsong „Give in, you never win, whatever Circe wants Circe gets“. Kein Wunder, dass da Telemachos Hormone verrücktspielen, der Vater setzt zu einem „Du kommst jetzt in eine Phase…“-Vortrag an, Kichern im Saal, bevor sich der Kriegsverbrecher entschließt, bei der schönen Zauberin auch Ehebrecher zu werden. Der Schweinechor intoniert dazu eine Rumba, Odysseus fühlt sich jedenfalls sauwohl. Telemachos fragt: „Und was ist mit Mutter?“, darauf Odysseus: „Komm erst mal in mein Alter …“

Bild: © Theater der Jugend

Bild: © Theater der Jugend

Bild: © Theater der Jugend

Bijan Zamani. Bild: © Theater der Jugend

Vom Hades, wo Odysseus auf „Mama?“ trifft und den Seher Teiresias befragt, wird man aufgerieben zwischen Skylla und Charybdis, dies alles erzeugt durch Lichteffekte. Ein Papierschiffchen wird auf den Stoffbahnen-Wellen hin und her geworfen, bis es zerfetzt ist. Dann die Sirenen. „Die Abenteuer des Odysseus“ im Theater im Zentrum, das ist Spiel, Satz und Sieg für Bijan Zamani, der nicht nur als grüblerischer, leise gewordener später Kriegsheimkehrer überzeugt, sondern auch die Statur eines, wenn auch angeschlagenen, eigentlich: Anti-, Helden mitbringt. Das Ensemble rund um ihn agiert vom Feinsten. Mit viel Nebel, Zwielicht und Höllenlärm kommt die Sage des klassischen Altertums hier aufs nicht nur jugendliche Publikum zu.

Der Schluss ist bekannt: Penelope verlangt vom künftigen König und Gatten, Odysseus Bogen zu spannen, die Freier versagen kläglich, als ein „Bettler“ erscheint, den sie unter Spott und Hohn an die Waffe lassen. Odysseus enttarnt sich. Das Blutbad unter den Freiern erspart einem Schachermaier. Man hätte zweifellos – Ui: Feminismus! – die Rolle des Odysseus vor Troja, seine Gräueltaten und Gewaltakte (vom Aussetzen des Philoktetes auf Lemnos, der falschen Beschuldigung und Steinigung des Palamedes, den vor Hektor Flüchtenden, womit er sowohl seinen Waffenbruder Diomedes als auch den greisen Nestor im Stich ließ …), kritischer beleuchten können. Schauermaier feiert seinen Protagonisten lieber ab. Gutgelaunt also verlässt man das Theater. Ende gut, alles gut. Denn freilich muss auch Argos im Gegensatz zu Homer hier nicht sterben …

Für Jugendliche ab 11 Jahren.

www.tdj.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=SeMhpfMxynM

  1. 1. 2022