Burgtheater: Maria Stuart

September 14, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die weibliche Ohnmacht als männlich-nackte Tatsache

Maria Stuarts Haupt über dem stummen, nackten Männerchor. Bild: © Matthias Horn

Erstes Bild: Sechs Reihen breitbeinig strammstehender, nackter Männer. Über ihnen schwingt im Halbdunkel Marias abgeschlagenes Haupt, das rotwallende Haar, sie wollen es greifen … Martin Kušejs bejubelte Inszenierung von Schillers „Maria Stuart“ ist von der Perner-Insel auf die Bühne des runderneuerten Burg- theaters übersiedelt, und hat nicht zuletzt dank des fulminanten Spiels von Birgit Minichmayr als Maria und Bibiana Beglau als Elisabeth an Intensität noch gewonnen.

Kušejs Betrachtungsweise des Kampfs der beiden Königinnen, blutig, brutal, beinah archaisch zu nennen, ist trotz der zwei zentralen Frauenfiguren jene auf eine von Männern dominierte, dirigierte, und sei’s über den Umweg Frau regierte Welt. Der Körper der Komparserie geben den Blick frei aufs starke Geschlecht, stoisch schweigend formieren sie sich im mal dunklen, mal hellen, mal verspiegelten Kubus von Annette Murschetz immer wieder neu. Männer nehmen sich den Raum, den sie brauchen; in entsprechenden Seminaren lernen weibliche Führungs- kräfte, wie sie’s genauso machen, im Meeting ihren Bereich am Besprechungstisch mit ausgebreiteten Armen abstecken, nur nicht mit Piepsstimme sprechen, argumentativ stark sein und fest im Glauben an sich selbst.

Symbolisch wirksame Bilder sind das, von der muskelbepackten rohen Fleischmasse. Die Protagonistinnen, sie müssen dieser ausweichen, sie durchschlüpfen, doch kein Entrinnen nirgendwo. Weder für Maria, deren Hände am langen Seil wie an einer Hundeleine gefesselt ist, noch für Elisabeth, die Kušej als ihren Herren Beratern und anderen Einflüsterern ausgelieferte „Sklavin ihres Standes“ zeigt. Da sitzt der Hosenanzug gleich einem Hohn, der Zwang des Volkes, der Zwang ihres Hofstaats, der Zwang, sich endlich einen Bräutigam zu nehmen, machen die Souveränin zur politischen Marionette im Ränkespiel der wahrhaft Mächtigen.

Die Beglau spielt diese royale Ohnmacht ebenso, die Verhärmtheit ins Gesicht geschnitzt, in schockstarrem Entsetzen über die unentwirrbare Situation, in verkrampften Posen festgefroren. Überhaupt ist Kušejs Regie unterkühlt und auf die Essenz reduziert, er hat bei maximaler Werktreue aus dem Trauer- ein Kammerspiel gemeißelt, seine Tableaux vivants trennt er in gewohnter Manier mit Blackouts. Entgegen der jungfräulichen Königin, kalkuliert Maria Stuart ihre einzige Chance zum Überleben im Gefallen der Männer. In der Haltung der offensichtlich unterlegen Leidenden gelingt es ihr raffinierter diese Tonart anzuschlagen, man weiß es, vergeblich.

Birgit Minichmayr. Bild: © Matthias Horn

Minichmayr und Beglau. Bild: © M. Horn

Bibiana Beglau. Bild: © Matthias Horn

Doch Minchmayr wird ihr Unglück mit rauer, exaltierter Stimme hinausschreien, eine furios Schutzlose, die mit Vehement ihre Rechte einfordert, bis sie zur abgeklärten, herablassenden Todgeweihten wird. Die Darsteller rundum agieren, reagieren von übergeordneter Perspektive, an ihnen stellt Kušej seinen Metadiskurs zu den Themen Macht und Moral, Patriarchat und Pflichterfüllung aus – „Maria Stuart“, eine Parabel über Wert und Unwert von Prinzipien. Rainer Galke als Marias Hüter Amias Paulet ist der nächstliegende, der entlang des Abgrunds dieses Fallstricks taumelt. Maria wahrlich nicht freundschaftlich zugetan, muss er nach und nach die Intrigen, die zu deren Hinrichtung führen werden, erkennen. Galkes Paulet, ganz Ehrenmann, wird sich ergo zu ihrem Fürsprecher aufwerfen: Englisches Recht muss Recht bleiben!

Eine starke Leistung, und ebenbürtig der von Norman Hacker, als selbstgerechter Schatzmeister, selbsternannter „Richter“ Burleigh sozusagen der Oberschurke, und wie ihm die zur Schau getragene Political Correctness von den Lippen perlt, um nichts weniger als sein anglikanischer Geifer gegen die Katholikin, ja, seine Jovialität beim Verkünden des Urteils jenes Gerichts, das Maria nie und nimmer anzuerkennen geschworen hat. Burleigh-Hacker gegenüber offenbart Minichmayrs Maria Emotionen nicht einmal in Nuancen, trotz ihres miserablen, Burleigh sichtlich anekelnden Zustands, gibt sie sich majestätisch stolz, als sie auf einem Treffen mit Elisabeth besteht. In diesem Moment ist Minichmayr die Herrin.

In Shrewsbury, an diesem Abend gespielt von Wolfram Rupperti, findet Maria immerhin einen Wohlgesinnten; Rupperti macht auf Vernunftmenschen, auf eindringlich Warnenden, doch sein Shrewsbury ist eben doch ein Mitglied des Establishments. Itay Tiran als langhaarig-lässigem, doch faktisch zwischen den Kontrahentinnen aufgeriebenem, also dem Alkohol zusprechendem Leichester wirft sich Elisabeth länger in die Arme als es punkto Staatsräson zulässig wäre. Gleiches gilt für ihre Annäherung an Franz Pätzold als durch diverse Fanatismen irrlichternder Mortimer, den Pätzold mit einer Unruhe des Nicht-mehr-aus-noch-ein-Wissens ausstattet. Pätzold, den man stets schätzt, auch hier brillant.

Birigit Minichmayr und Rainer Galke. Bild: © Matthias Horn

Norman Hacker (li.) und Franz Pätzold (re.). Bild: © M. Horn

Birigit Minichmayr. Bild: © Matthias Horn

Itay Tiran und Bibiana Beglau. Bild: © Matthias Horn

Zu Kušejs analytisch bester, in Geste und vor allem Sprache präzise gefasster Szene wird schließlich der Infight von Minichmayr und Beglau. Eine Konfrontation im düsteren Kerker, in dem, wie anfangs der Kopf der Maria, nun eine Glühbirne zwischen den Königinnen hin- und her pendelt, mal das eine, mal das andere Gesicht beim Herantasten an die fremde Schwester beleuchtend. Eine kurz aufflackernde Nähe, eine der Verlegenheit geschuldete Beinah-Empathie, als die beiden einander ihr Getrieben-Sein eingestehen. Maria wirft sich Elisabeth zu Füßen, in Erwartung, dass sie aufgerichtet werde. Nichts. Außer Marias Eskalation gegen „Boleyns Bastard“.

Welch eine Episode. Wie die vom Unterzeichnen des Todesurteils. Da hat Elisabeth längst ihren Namen auf die nackten Männerrücken geschrieben, bevor sie, was sie tief im Herzen nicht ausgeführt wissen will, Staatssekretär Davison übergibt. Eine Groteske, die Beglaus Elisabeth angstvoll autoritär, Felix Kammerer, an diesem Abend der Davison, und Hacker daraus machen: Davison-Kammerer ein Opferlamm, das sucht, den Willen seiner Herrscherin zu ergründen, Hackers Burleigh, der ihm das Dokument mit flinken Fingern entwindet und den Henker seine Arbeit tun lässt. Im weißen Büßerinnenkleid wird Minichmayr von den Männern über deren Köpfe hinweg zum Schafott transportiert, Elisabeth vor vollzogene Tatsachen gestellt.

Zurück bleibt Elisabeth in blutroter Robe (Kostüme: Heide Kastler), einsam, ein Standbild ihrer selbst. Die Männer sind getürmt oder verbannt, der philanthropische Shrewsbury, der besoffene „Beichtvater“ Leichester, der von seiner Hybris heimgesuchte Burleigh. Lähmend lange steht die Beglau da und summt anachronistisch „God save the Queen“. Das bitterböse Ende einer der dichtesten Schiller-Arbeiten, die hierzulande zu sehen waren, ein Drama noir mit zwei frühfeministischen Antiheldinnen, Abrechnung mit einer politischen Perfidie, die in gewissen Kreisen nach wie vor gang und gäbe ist, die Studie eines Staatsapparats als sich selbst erhaltenden Systems, zeitlos aktuell – und mit viel Applaus bedacht.

Trailer mit Interviews: www.youtube.com/watch?v=Im3T_TrdaWs           www.burgtheater.at

  1. 9. 2021

Burgtheater: Des Kaisers neue Kleider / Junge Akademie

Februar 5, 2021 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Widersprechen – Regeln brechen

Des Kaisers neue Kleider: Arthur Klemt und Felix Kammerer. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Das Burgtheater stellt von 5. bis 7. Februar noch einmal sein Familienstück im kostenlosen Stream zur Verfügung: „Des Kaisers neue Kleider“ frei nach Hans Christian Andersen in der Regie von Rüdiger Pape mit Arthur Klemt als Kaiser, Felix Kammerer als Lakai, Hanna Binder und Stefan Wieland als Ministerin für Reichtum und Geld und Minister für Ruhe und Ordnung, Lukas Haas und Annina Hunziker als Paul und Marie.

Der Stream ist über die Website des Burgtheaters oder den YouTube-Kanal abrufbar, es ist keine separate Anmeldung erforderlich. Für Menschen ab sechs Jahren.

Inhalt: Der Kaiser interessiert sich für Mode, Stoffe und Kleider. Er hat alles und von allem zu viel. Das Volk hat nichts und davon noch weniger. Misswirtschaft der Minister, Verschwendung der Ressourcen und kein transparentes und demokratisches politisches System schaffen Not und Missstände. Not macht erfinderisch. Marie und Paul haben einen genialen Einfall.

Mit diesem und ihrem Mut und mit Hilfe des Lakaien bringen sie das ganze System zu Fall. Am Ende wird der Kaiser nach Strich und dem sprichwörtlichen Faden hinters Licht geführt.

Das berühmte Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen ist eine allgemeingültige Geschichte über die Angst, nicht genug zu sein und nicht genug zu haben und darüber, wie viel der Einzelne mit Mut und Humor erreichen kann. Rüdiger Papes Kinder- und Jugendtheater-Inszenierungen werden regelmäßig von Festivals im In- und Ausland eingeladen und ausgezeichnet, das Familienstück der Saison 2020/21 ist seine erste Inszenierung für das Burgtheater.

Arthur Klemt, Hanna Binder, hi.: Stefan Wieland, Felix Kammerer. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Stefan Wieland, Arthur Klemt und Hanna Binder. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Die Abschlusspräsentation der Jungen Akademie im Stream

Am 6. Februar um 19 Uhr hat die digitale Präsentation der Jungen Akademie und ihrer insgesamt fünf Projekte Premiere – als Film, als Stream, als Hörspiel – moderiert von den Burgtheater-Ensemblemitgliedern Lilith Häßle und Felix Kammerer. Der Stream ist im Anschluss an die Premiere noch 72 Stunden auf der Burgtheater-Website und via Burgtheater-YouTube-Kanal abrufbar. Während der Premiere kann live via YouTube diskutiert und kommentiert werden, im Anschluss an die Premiere findet ein Publikumsgespräch via Zoom statt. Die Teilnahme an der Premiere ist kostenfrei – wer „nur zuschauen“ möchte, kann dies via Burgtheater-Website oder YouTube-Kanal des Burgtheaters tun, wer live während der Präsentation kommentieren möchte, benötigt dafür einen YouTube-Account.

Die Junge Akademie lädt die Menschen der Stadt ein, Akteurinnen und Akteure auf ihren Bühnen, in ihren Bezirken zu werden. In Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern des Burgtheaters, in Kooperation mit sozialen und kulturellen Einrichtungen der Stadt, arbeiten verschiedene Gruppen zum Thema Macht & Körper. Eigene Geschichten sollen auf die Bühne gebracht werden. Die Projekte sind so unterschiedlich, wie die Bezirke in denen geprobt wurde. In „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“, in Kooperation mit dem Gleis 21, hat Theaterpädagogin Katrin Artl den Teilnehmerinnen die Frage gestellt: Wer bestimmt, wie Frauen sein sollen? Das Projekt richtete sich an Mädchen und Frauen ab 14. Was macht mich zur Frau, wer prägt mich und meine Kultur, meine Religion, meine Familie, meine Freundinnen? Wer möchte ich gerne sein? Was bedeutet es überhaupt Frau zu sein? Wie steht es mit Solidarität und wie entsteht Konkurrenz?

Burgtheaterstudio. Bild: © Daniela Trost

Junge Akademie: Regeln ändern. Bild: © Burgtheaterstudio

„Es war einmal …“ – in Zusammenarbeit mit dem Verein JUHU! haben junge Menschen unterschiedlicher Herkunft mit der Schauspielerin Monika Haberfellner und der Journalistin Katrin Wimmer an einem Hörspiel und kurzen Videosequenzen zum Thema Märchen gearbeitet. Das Projekt „Wer darf Widerspruch“ in Kooperation mit der Brunnenpassage und der Kunsthalle Wien setzte sich filmisch und performativ mit Mechanismen von Macht und Ohnmacht auseinander, unausgesprochene Regeln der gesellschaftlichen Ordnung in Österreich wurden dabei unter die Lupe genommen. Wie ist es möglich über Rassismen, Sexismen, Diskriminierungen zu sprechen? Was braucht es dazu? Und vor allem – Wer darf es? Und auch wann? Wer darf Widerspruch. Geleitet wurde das Projekt von der Theater- und Filmregisseurin Nina Kusturica.

Das vierte Projekt ist ein Chor-Projekt in einer digital-tauglichen Adaption, umgesetzt von der Theaterpädagogin Raphaela van Bommel. In „Regeln ändern“ wurde mit Elementen und Texten aus dem aktuellen Spielplan des Burgtheaters gearbeitet. Das Tanz-Projekt „Über die Grenzen in die Freiheit“ beschäftigte sich mit dem Thema Selbstständigkeit, Freiheit und Grenzen. Werden Grenzen durch Worte festgelegt? Welche Grenzen braucht die Freiheit? Im Rahmen der Jungen Akademie am Burgtheater wurde das Tanz-Projekt an mehreren aufeinanderfolgenden Workshop-Tagen mit der Choreografin Daniela Mühlbauer erarbeitet.

www.burgtheater.at           www.youtube.com/user/BurgtheaterWien

5. 2. 2021

Burgtheater: Don Karlos

November 1, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die im Dunkeln sieht man durchaus

Gefangener einer überkommenen Gesellschaftsform, Geheimnisflüsterer im abhörsicheren Raum: Nils Strunk als Don Karlos. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

„Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muss es, wie mich deucht, durch die Situation und den Charakter König Philipps geschehen“, formuliert im Bauerbacher Plan Friedrich Schiller höchstselbst, und am Burgtheater wird des Dichters Gedanke zum Ideendrama seit gestern auf den Siedepunkt gebracht. Martin Kušej präsentiert seine brillante „Don Karlos“- Produktion vom Residenz- theater als Wien-Premiere, mit etlichen neuen Darstellern, aber der immer noch atemberaubenden Ästhetik.

Einer frostkalten Atmosphäre von Vertrauensbruch und Verrat, unter deren eisschwarz-glatter Oberfläche heiß die Politkabalen und Liebesintrigen brodeln. Entstanden an der Phasengrenze von Sturm und Drang und Weimarer Klassik, uraufgeführt kurz bevor der jakobinische Tugendterror begann, die eigenen Kinder zu fressen, scheint Schiller seinem Publikum vor Augen führen zu wollen, wie handstreichartig Idealismus in die Irre gehen kann, sind Freigeistigkeit und Vernunftideal erst von der Staatsgewalt angekränkelt. Von der Utopie zur Umsetzung ist es ein weiter Weg, in den schon wieder welche Steine werfen, die die abendländische Aufklärung zwar als Aushänge- schild vor sich hertragen, die Votivtafel aber keineswegs mit den Motiven von Toleranz und Akzeptanz schmücken.

Was Wunder, hat einer wie Thilo Sarrazin den Begriff Tugendterror bereits vor Jahren als Linksschelte in Besitz genommen. An dieser Schnittstelle operiert Kušej, er beschreibt Philipps II. despotisches System als Black Box. Das Reich, in dem die Sonne niemals unterging, ist im Bühnenbild von Annette Murschetz eines der Schatten, durch das zwecks Inszenierung ihres sinistren Machtspiels Dunkelmänner – und dank der Eboli eine ebensolche Frau – schleichen. Das royale Dynasty ist eine gefährliche Drohung an Leib und Leben, macht die Aufführung gleich anfangs mit Drohnenflügen klar. Delinquenten werden von Schergen des Regimes in einem Wasserloch ertränkt, in einem Meer fast manischer Stille gibt Bert Wredes Geräusch-Kulisse den gespenstischen Ton vor, ein dumpfes Dröhnen, ein undeutliches Gemurmel – als wär’s von Folterverhören.

Oder das heimtückische Geflüster der Höflinge. Oder gar der König im Gebet? Thomas Loibl brütet in der Rolle des Philipp düster vor sich hin, und, als hätt‘s die schönen Tage von Aranjuez nie gegeben, die übrigen Protagonisten mit ihm. Loibl, allein optisch durch eine Art Habsburgerkinn ausgezeichnet, ist tatsächlich die von Philipps Schöpfer zur solchen bestimmte Kern-Schmelze des Abends, er beschwört mit seiner katastrophalen Allzumenschlichkeit den Super-GAU geradezu herauf. Loibl malt das Bild eines fieberwahnsinnigen Fürsten wie den Teufel an die Wand, sein Monarch ein von der eigenen Staatsmacht zur Räson gezwungenes Gefühlswrack.

König Philipp II. fordert Marquis von Posas Dienste: Thomas Loibl und Franz Pätzold . Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Auch ein Gewaltherrscher will sich von den Sünden reinwaschen: Thomas Loibl. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Philipp beschuldigt Elisabeth der Untreue: Marie-Luise Stockinger und Thomas Loibl. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Ein eiskalt kalkulierender Großinquisitor: Martin Schwab mit Thomas Loibl. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Bis beim von sich selbstbeherrschten Gewaltherrscher angesichts eines verstockten Karlos, einer eventuell fremdgehenden Elisabeth, einer vielleicht doch nicht seiner Tochter und eines verbissenen Posa endlich die Nerven blank liegen. Loibls Philipp wird im Laufe des Abends je bitterer, desto besser, umgeben von einem allwissenden Überwachungsapparat, weiß dessen Erbauer, der daran Schuldige nun Leidtragender, am allerwenigsten, was rund um ihn und wie ihm geschieht. Eine blau bestrahlte Ecke, die die Drehbühne ab und an herbeischafft, steht da als verdinglichte Paranoia, die Assoziation mit einem schallisolierten Tonstudio stellt sich ein, der einzig abhörsichere Ort in einem Palast, dessen Wände Ohren haben. Hier haben gut gehütete Licht- und Hirngespinste ein Zuhause.

Ansonsten strahlen grellweiße Spots aufs gekrönte Haupt, wenn’s nicht unter einer Kristallaureole weilt, andere sprechen aus dem nationalen Nachtfinster wie aus dem Off, bevor ihre speiübelgrünen Gesichter und leichenblaßen Körper ans Licht kommen. Was es im Halbnackten an Bekleidung gibt, ist ebenfalls tristessefarben, die stetig historischer werdenden Kostüme – bei den Herren von der Chino zur Heerpauke, bei den Damen vom chaneligen Cocktailkleid zum Kegelrock – von Heide Kastler. Alles entwickelt sich langsam, viereinhalb-Stunden-langsam. Die schaurige Totenstille des Staatsstillstands, die Tableaux vivants vor Tragik wund bis zum Wundstarrkrampf, Kušejs exemplarische Lähmung von Schillers schicksalsschwangerer Schwere, fordern vom Zuschauer höchste Konzentration. Dies Setting ist eines, in dem man notwendigerweise die Sinne scharf stellt, doch keine Rede von, wie aus München verlautbart, nichts hören, nichts sehen.

Die im Dunkeln sieht und versteht man durchaus, und will man sich auf Kušejs Experiment mit Raum und Zeit einlassen, wird man eines faszinierenden, intensiven, mitreißenden Theatererlebnisses teilhaftig. Denn aus dem Schwarz blitzen brillante schauspielerische Darbietungen. Überragend, wie bereits als Dionysos in den „Bakchen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34408), ist der charismatische Franz Pätzold als Marquis von Posa. Prägnant in Ausdruck und Stimme macht er dessen idealdurchtränkte Selbstüberschätzung wie die sich trotz aller Umarmungen abzeichnende Entfremdung gegenüber Jugendfreund Karlos aufs Fürchterlichste klar. Verfängt sich Pätzolds Posa, in Kušejs ungewohnt unversöhnlicher Interpretation im Wortsinn keine Lichtgestalt, wegen seiner Hybris im Konspirationsnetzwerk, so Karlos aus Hilflosigkeit.

Die Eboli will ihren verräterischen Liebesbrief zurück: Katharina Lorenz und Nils Strunk als Don Karlos. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Marcel Heuperman, Arthur Klemt, Johannes Zirner, Felix Kammerer, Wolfram Rupperti und Bardo Böhlefeld. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Nils Strunk spielt ihn mehr als dämmersüchtiges Elegiebürscherl, denn als Aufbegehrer, jedenfalls als zu schwach, also chancenlos in einem System, in dem sich buchstäblich alles gegen ihn verschworen hat. Pätzold und Strunk sind naturgemäß Schillers rhetorische Spitzen gegönnt, ersterer bestechend beim berühmten Plädoyer für Gedankenfreiheit – und nach dem ihm zugedachten Schlussapplaus zu urteilen auf dem Sprung zum Publikumsliebling.

Zweiterer beeindruckend in einem Streitgespräch mit Alba, den Marcel Heuperman zwischen massiver Abscheulichkeit und ebensolcher Angst anlegt, und wie die beiden darin gefälliges Geplänkel in wilde Wut steigern. Herausragend auch Katharina Lorenz als Eboli, die sich von der liebreizenden Liebenden in die Gift und Galle fauchende Rächerin ihres erotischen Fehlschlags verwandelt. Johannes Zirner ist der Eboli und dem Alba ein wunderbarer Mitintrigant Domingo, ein Meister im Sähen von Zweifel und Zwietracht, wie der Beichtvater des Königs an diesem beweist.

Marie-Luise Stockinger verhält sich als Philipps unschuldig verdächtigte Gemahlin Elisabeth von Valois trotz aller Gegenwinde aufrecht und ehrlich. Martin Schwab kann als Großinquisitor mit seinem den Glauben klar kalkulierenden Geist gar nicht anders, als großartig sein. Wie Schwab sich über das Habsburgische Totenreich erhebt, sich imaginären Staub vom Priesterkragen schüttelt, das Kruzifix in Stellung bringt und mit wenigen Sätzen die gottgleiche Macht der Kirche zementiert, das ist große Kunst. Als Hofschranzen heucheln, huschen und kuschen Arthur Klemt als Parma, Tim Werths als Olivarez, Marta Kizyma als Mondekar, Bardo Böhlefeld als Lerma, Wolfram Rupperti als Feria und Felix Kammerer als Medina Sidonia. Sie alle finden sich am Schluss von Martin Kušejs Aufführung mit Jubel und Applaus bedankt.

Der neue Hausherr zeigt mit dieser Arbeit einmal mehr, wie fein sich ein historisches zum aktuellen Schlüsselstück ziselieren lässt, und zeigt auf, dass Theater nachgerade die politische Pflicht hat, sich als moralische Instanz zu inszenieren. Sein „Don Karlos“ ist ein Schattenspiel über Recht und Unordnung, über Politverdunkler, Staatssicherheitsfanatiker, Grenzzieher – und über in diesem Szenario für unmündig erklärte Bürger. Wer will, kann das als Sinnbild für die gegenwärtige demokratiepolitische Verfinsterung nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt sehen.

www.burgtheater.at

  1. 11. 2019

Akademietheater: Meister und Margarita

Oktober 18, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Du saugst hinweg die Sünde der Welt

In der Redaktion ist wieder einmal ist der Teufel los: Johannes Zirner trifft als angsterfüllter Sokow auf Norman Hacker als Woland, Stefanie Dvorak als Hella und Felix Kammerer als Behemoth. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Aus dem Haus Sadowaja 302b, in dessen Wohnung Nr. 50 der Autor selbst für vier Jahre Unterkunft nahm, ist also ein Großraumbüro geworden. Graue, von gläsernen Wänden getrennte Officekojen, zwischen denen Sokow und Frieda, Poplawski und Iwan „Besdomny“ Ponyrew ihr Tagwerk vollbringen – und da dort auch Berlioz, laut Michail Bulgakow bekanntlich Vorsitzender der Moskauer Literaturvereinigung, zugegen ist, sind die Zimmer ziemlich sicher eine Zeitungsredaktion und die anwesenden Personen

die dort angestellten Redakteure. Das estnische Berufs- wie Privatpaar Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, Begründer und Auflöser des von den Wiener Festwochen bestens bekannten Tallinner Theatre NO99, zeigen am Akademietheater ihre Version von Bulgakows Opus magnum „Meister und Margarita“. Ein „gesellschaftliches Poem“ nennen die beiden ihre Inszenierung, bei der sie sich wie stets die Regiearbeit sowie die an Bühnenbild, Kostümen und Videos geteilt haben, und es ist von Vorteil, das Original des russischen Schriftstellers zu kennen, bevor’s zu deren Dreieinhalb-Stunden-Elaborat geht.

Bulgakow schrieb den Roman ab 1928. Erst kurz vor seinem Tod im März 1940 diktierte er seiner Frau Jelena eine mutmaßlich nur wegen seines Ablebens finale Fassung. Die darin verhandelten Themen reichen von der Hinrichtung einer Dichterkarriere über ein von den Daseinsstürmen gebeuteltes Liebespaar bis zu einem Alternativevangelium, und das alles ist immer auch autobiografisch, von Bulgakows prekärer Beziehung zu Stalin, der den Systemkritiker einerseits mit einem Veröffentlichungsverbot strafte, ihm aber andererseits eine Assistentenstelle am Moskauer Künstlertheater verschaffte, bis zum Meister und seiner verheirateten Geliebten Margarita, die gleichzusetzen sind mit Michail und der scheidungswilligen Jelena.

Semper und Ojasoo halten sich nicht mit Bulgakows groteskkomischer Sowjetschelte auf, sie wollen ihm auf anderweitig verschlungenen Wegen folgen, dorthin, wo’s ums ewig während Allzumenschliche geht, Neid, Gier, Hochmut, denen Bulgakow als größte Frevel, den Opportunismus, die Dummheit und die Feigheit beigesellt. Mit der lustvollen Verbitterung des zum Schweigen gezwungenen Genies trägt er seine Gedankenkämpfe aus, seine Waffe gegen die herrschenden Verhältnisse dabei geschmiedet aus heiter Anekdotischem. Wieder und wieder lässt sich „Meister und Margarita“ lesen, um Neues zu entdecken in den drei Handlungssträngen:

Der „Meister“ und seine Margarita: Rainer Galke und Annamáría Láng. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

And now, the end is near: Im Glitzeranzug singt Norman Hacker Sinatras „My Way“. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Als Berlioz landet Philipp Hauß samt Marcel Heupermans Iwan in der Irrenanstalt. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Jeschua reinigt Räume: Tim Werths mit Marcel Heuperman als Iwan unbehaust. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

1. Das Erscheinen des Teufels und seiner Gehilfen in Moskau, wo er als Zauberkünstler Woland jedermanns Wohl und Wehe verwirbelt. 2. Das Auftreten des „Meisters“, eines Literaten, der von der Presse so übel beschimpft wird, dass er in der Psychiatrie landet. Die andere Titelfigur, Margarita, wird einen Handel mit Woland eingehen, damit die zwei doch noch zusammen sein können. 3. Die Vorkommnisse rund um die Verurteilung von Jesus Christus, hier Jeschua, durch Pontius Pilatus, Berichte über den depressiv-migränegeplagten Prokurator, die sich später als der Roman des Meisters herausstellen.

Das Bonmot, man fände ins Buch „Meister und Margarita“ leicht hinein, aber niemals wieder heraus, trifft auf die Aufführung nun aber nicht zu. Semper und Ojasoo verweigern sich der Fantastik der Vorlage, kein schwarzer Riesenkater Behemoth treibt sein mörderisches Unwesen, niemand reitet auf einem Besen ein, es gibt keine verhexte Wohnung, kein plüschiges Varieté, kein furchteinflößendes Irrenhaus, sondern – siehe oben – das raumklimatisch bedenkliche Einheitsbüro unter freudlos flackernden LED-Lampen. Über den vier ident eingerichteten Schreibstuben und dem Flur prangt die Hauptsache des Ganzen, eine gigantische Leinwand, auf die beständig per Live-Kamera aufgenommene Bilder aus den nicht einsehbaren Bühnenteilen übertragen werden. Castorf schau oba, sozusagen.

Eine Zwangsjacke, ein bisschen rosa Licht und zwei Drehstühle machen allerdings keine Atmosphäre. Vom vergnüglichen Gänsehaut-Feeling des Romans, von seitenweise Schreck und Sarkasmus, von der Magie und der Wirkmacht des Buches bleibt auf der Bühne kaum etwas übrig. Wann, um Himmels willen, haben sich Semper und Ojasoo – man denkt da wehmütig an „Heiße estnische Männer“ oder „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ – dermaßen spaßbefreit? Eine der seltenen gewitzten Ideen ist die, Tim Werths als Jeschua in voller Golgatamontur, blutüberströmt und mit Dornenkrone, als Büroreinigungskraft zu zeigen. Lamm Gottes, du saugst hinweg die Sünde der Welt …

Die Live-Kamera übertragt das Geschehen von den Officekojen auf die Leinwand, hier folgt sie Hanna Binders Frieda. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Und apropos, Himmel: Als Höllenfürst hat Norman Hacker seine grandiosen Momente, ob im Punkoutfit mit fettigem Haar oder im teufelsroten Glitzeranzug Sinatras „My Way“ singend, sein Woland ist honigsüß ennuyiert, lasziv selbstverliebt und von bedrohlichem Charme. Allein seinetwegen schaut man bis zum Schluss gerne zu. Der Rest hat in diesem spröd‘-distanzierten, spannungsarmen Szenario nicht viel zu spielen. Philipp Hauß als Berlioz wie Pontius Pilatus und Johannes Zirner

als Sokow wie Kaiphas retten sich, so der Eindruck, mit ihrer Professionalität über die Runden, Mehmet Ateşçi, frisch vom Gorkitheater, setzt als Poplawski wie Afranius auf Geschmeidigkeit, der vom Resi mit nach Wien gekommene Marcel Heuperman macht als Iwan unbehaust auf wildwütig entschlossen. Stefanie Dvorak, als Hella Cheerleaderin im Team „666“, und Hanna Binder als Kindsmörderin Frieda haben’s in ihren kleinen grauen Zellen auch nicht leicht, genauso wie Felix Kammerer, den man als Behemoth zum goldgelockten Jüngling ausstaffiert hat. Falscher, heißt: weniger Bulgakow, geht’s nicht. Ihnen allen hätte man einen geglückteren Einstand an Martin Kušejs Burgtheater neu gewünscht. Immerhin Rainer Galke und Kornel-Mundruczó-Star Annamáría Láng gelingt es, die Amour fou von Meister und Margarita zu gestalten.

Sie wissen sowohl wie überbordende Emotion, als auch wie leise Zwischentöne gehen. Galke und Láng erzählen Liebe und von der Metaphysik der Liebe an einem Abend, der sich das Erzählen im Sinne von Story, Plot, Charakterzeichnung ansonsten anscheinend verboten hat. Irgendwann singen alle, derweil Jeschua im Hintergrund den Boden wischt, „Jesus‘ Blood Never Failed Me Yet“ und bewegen sich dazu wie Marionetten im Welttheater des Teufels – schließlich müht sich bei Bulgakow ja ausgerechnet der Böse, die Geschöpfe Gottes von dessen Existenz zu überzeugen. Das ist das schönste, das stimmungsvollste Scheitern an dieser von vornherein dazu verdammten Unternehmung, und die Gretchenfrage nach dem Halten mit der … xxx-rated … in der Semper-Ojasso-Interpretation der russischen Faust-Paraphrase augenscheinlich des Pudels Kern.

Es fällt, während sich Jeschua als seit mehr als 2000 Jahren missinterpretiert beklagt und ein erster Möchtegernjünger dessen Predigten in Fake-News-Form zu Ziegenpergament bringt, der bedenkenswerte Satz: „Damit ein guter Mensch Böses tut, dafür braucht es eine Religion …“ Das hat schon was. Der Applaus am Ende aber war so unentschlossen wie Ene-Liis Sempers und Tiit Ojasoos Inszenierung, Teile des Premierenpublikums hat der unterkühlte Abend deutlich ausgekühlt, andere, so an ihrem Abgang zu merken, auf einen erstaunlich hohen Aggressionslevel gehievt.

www.burgtheater.at           Mehr zu Michail Bulgakow: www.masterandmargarita.eu

  1. 10. 2019

Theater zum Fürchten: Cena Claudiana

April 24, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Bei Bruno Max geht’s zu wie im alten Rom

Cena Claudiana. Bild: Bettina Frenzel

Reinhold Kammerer (M.) lädt als Kaiser Claudius zur Cena Claudiana. Bild: Bettina Frenzel

Giftige Pilze gibt es am Ende nur für Claudius, für das Publikum stattdessen Ente in Fischsauce, pikante lukanische Wurst und einen luxuriös mit Garum gewürzten Bohneneintopf. Das Theater zum Fürchten lädt zur diesjährigen Dinner- theaterproduktion, der insgesamt neunten, und diesmal entführt Prinzipal Bruno Max ins antike Rom.

„Cena Claudiana“, das letzte Gastmahl des Kaiser Claudius, heißt die erfolgreiche Aufführung, die nach einer ausverkauften Spielserie am Stadttheater Mödling nun in der Wiener Scala Station macht. Nach Motiven aus Robert Ranke-Graves‘ 1100-Seiten-Roman „Ich, Claudius – Kaiser und Gott“ wird die Geschichte der vier ersten Kaiser Roms erzählt, der Nachfolger Julius Cäsars, Augustus, Tiberius, Caligula und Claudius.

Und wie die erzählt wird. Bei Bruno Max julisch-claudischer Familienaufstellung geht’s zu wie im alten Rom. Mit mehr Sex & Crime als eine Fernsehserie füllen könnte, wiewohl es die weiland mit Derek Jacobi, John Hurt und Patrick Stewart natürlich gegeben hat. So viele Seiten das Buch, so viele widersprüchliche Charakterzüge werden von Claudius überliefert. Der Mann, der, was ihm unter Zeitgenossen durchaus zum Vorwurf gemacht wurde, ausschließlich Frauen liebte, umsichtig und klug regierte und beinah moderne Gesetze erließ, der ein Herz für Sklaven hatte, Freigelassene an die wichtigsten Positionen seines Reiches setzte, Britannien eroberte, stotterte, hinkte, mit dem Kopf zuckte, ein debiler Krüppel, der mit Begeisterung der Folter und Hinrichtung seiner Feinde beiwohnte, verwahrlost, ignorant, böswillig, ein Gelehrter, der maßgebliche historische Schriften verfasste, und der posthum von Seneca in der „Apocolocyntosis“, der Verkürbissung des Divus Claudius, einer der boshaftesten Satiren, die je auf einen Herrscher geschrieben worden ist, verspottet wurde. Bruno Max entschied sich, seinen Claudius zum Sympathiemenschen zu machen.

Eliot Bolch und Franz Weichenberger: Bild: Bettina Frenzel

Kind Claudius, Eliot Bolch, mit Franz Weichenberger als Großvater Kaiser Augustus: Bild: Bettina Frenzel

Randolf Destaller und Bettina Soriat. Bild: Bettina Frenzel

Caligula verspottet die sterbende Livia: Randolf Destaller und Bettina Soriat. Bild: Bettina Frenzel

Reinhold Kammerer schlüpft in die Rolle des Claudius. Er ruft die Zuschauer aus einer fernen Zukunft als Zeugen an, will ihnen seine Version der Historie näherbringen, tatsächlich schrieb Claudius eine achtbändige Autobiografie, die verschollen ist, und so der Nachwelt ein Vermächtnis hinterlassen, das ihn ins rechte Licht rückt: Der wegen seiner körperlichen Behinderung ungeliebte Sohn und Enkel, den es auf den Kaiserthron quasi gespült hat, obwohl er im Innersten überzeugter Anhänger der Republik war. Dafür hat Bühnenraumverzauberer Marcus Ganser die Domus Augustana für all die gezeigten Intrigen und Interessenskonflikte nacherfunden, einen Spiel-Platz, der mit beinah einem Dutzend Podesten von der Palatinvilla bis zur Gladiatorenkampfarena alles sein kann, mittendrin eine Liegestatt und mitten im Geschehen wie stets bei diesen Abenden das Publikum, immer aufmerksam, um gezückten Schwertern und im Zorn geschleuderten Schriftrollen auszuweichen. Welch ein Spektakel, diese spannenden und schwarzhumorigen Geschichtsstunden, mehr als drei sind es, denn es gibt schließlich eine Menge zu berichten. Kammerer wechselt von der Erzählerposition in die Spielhandlung und retour, in einzelnen Episoden erklärt er, was anno 10 vor bis 54 nach Christus geschah.

Dreizehn Erwachsene und vier Kinder als Schauspieler gestalten mit ihm die Vornehmen des Imperiums. Das vorzügliche Ensemble wird angeführt von Bettina Soriat als Augustus-Gattin und Claudius‘ Großmutter Livia und Randolf Destaller als Claudius‘ Neffe und Amtsvorgänger Caligula. Erstere eine begnadet bösartige Alte, die Spielmacherin, die bis zu ihrem Ableben die Fäden in der Familie in der Hand hat, über Abfall von der Gnade und Verbannung und damit gleichsam über Leben und Tod bestimmt. Eine gruselige, großartige Leistung, die auch zur Lieblingsszene der Aufführung führt: Livia und die Giftmischerin Martina beim Fachsimpeln über unheilsame Kräuter. Zweiterer ein aalglatter, blondgelockter Schönling, der’s mit jedem und jeder tut, heißt vor allem mit Tiberius, wenn es seinen Allmachtsfantasien dient. Bis ihn der Wahnsinn ereilt. Wie er über der sterbenden Livia triumphiert, „überrascht“ und gerührt die Kaiserwürde entgegennimmt, nur um sich später zu Gott Zeus zu erklären – Destaller spielt das mit einem Understatement, mit einer Elegance, die bestechend ist.

Benjamin Ulbrich changiert zwischen der Lichtgestalt Drusus, Claudius‘ Vater, und dem machtgierigen Gardepräfekt Sejanus, der seiner eigenen Verschwörung zum Opfer fällt. Franz Weichenberger ist ein honoriger Augustus, der seine Kinder an sein Herz zieht und danach auf öden Inseln aussetzt, Christian Kainradl ein zunehmend der Last der Verantwortung überdrüssiger Tiberius, Thomas Marchart der von der Verwandtschaft verratene Augustus-Enkel Postumus. Manuel Dragan spielt einen besonnenen Ratgeber Herodes Agrippa, den späteren König von Judäa und Samarien, der gemeinsam mit Claudius erzogen wurde und einer seiner engsten Freunde und Vertrauten war. Neben Livia sind auch die übrigen Frauen mit Marion Rottenhofer als moralisch fast einwandfreier Claudius-Mutter Antonia, Samatha Steppan als Schwammerlaussucherin Agrippina und Carina Thesak als Caligulas inzestuös geliebte Schwester Drusilla die eigentlichen Kaisermacher.

Thomas Marchart, Samantha Steppan und Christoph Prückner. Bild: Bettina Frenzel

Augustus verbannt seine Tochter: Thomas Marchart, Samantha Steppan und Christoph Prückner. Bild: Bettina Frenzel

Benjamin Ulbrich. Bild: Bettina Frenzel

Benjamin Ulbrich: Hier endet die Sejanische Verschwörung. Bild: Bettina Frenzel

Nicht alles, was Ranke-Graves so vor sich hin schildert, hat historisch Bestand, auch ist seine Veröffentlichung aus dem Jahr 1934 in vielen Teilen wissenschaftlich überholt und korrigiert, aber Spaß muss sein. Und für den sorgen in der Scala Jörg Stelling als griechischer Wahrsager, Christoph Prückner als syrische Giftmischerin und der wunderbare Günter Tolar als Sklave Praxis, der sich nicht nur um das Wohlergehen der jeweiligen Kaiser, sondern auch um das der Gäste kümmert, auf dass der Gewürzwein im Becher nicht versiegen möge!, und nicht zuletzt deshalb eindringlich zum Latrinenbesuch in der Pause aufruft.

Zum Schluss wird er als Tourist Guide durch den Palast führen und wissen, dass die Geschichte nach Claudius mit dem seltsamen Sterben seines Sohnes Britannicus und also Stiefsohn Nero als Nachfolger keine bessere Wendung nahm. Entzückend sind die Kinderdarsteller als jugendliche Alter Egos, allen voran Enya Zechner, dem als Kind Claudius die schwere Aufgabe zufällt, dessen Ticks zu gestalten.

So ergeht sich der Stamm mit den zwei Sorten Früchten, den bitteren und den süßen, in der gegenseitigen Schändung und Abschlachtung, Verbündete sind rar, Schmeichler und Spitzel überall, und Thronanwärter sterben schnell. „Spiel‘ so lang du kannst den Idioten.“ Das ist der Rat, den Claudius mehrmals in seinem Leben hört. Er macht ihn zu seiner Überlebensstrategie, laviert sich durch zwischen Geistererscheinungen und grausiger Zauberei, in einer Welt, in der die Frage „Besorgst du es mir?“ entweder Liebe machen oder Gift herbeischaffen meint. „Rom hat dich verdient“, sagen die Prätorianer schließlich, als sie ihm als letztem Verbliebenen der Sippe mehr zum Jux die höchste Würde antragen. Und nach jüngsten Erkenntnissen dürfte dies tatsächlich ein Glück für die ewige Stadt gewesen sein. Verdient lässt ihn ergo Bruno Max einen gnädigeren Gifttod sterben als Zeitzeugen berichten. „Cena Claudiana“ ist einmal mehr ein gelungener Theaterabend für alle Sinne. Und wie jedes Jahr wurde er vom Publikum als Höhepunkt der Scala-Saison mit großem Applaus bedankt. Man darf gespannt sein, was sich das Theater zum Fürchten für die nächste Spielzeit ausdenken wird.

www.theaterzumfuerchten.at

Wien, 24. 4. 2016