Wien Modern / sirene Operntheater: Kabbala

November 1, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Per mystischer Musik durch das Universum

Kabbala. Bild: © sirene Operntheater

Mit einem Wort? Überwältigend! Das sirene Operntheater zeigt im Rahmen von Wien Modern und in Kooperation mit dem Planetarium Wien „Kabbala. Und nun war es in der Mitte der Nacht“, ein Oratorium in hebräischer Sprache von René Clemencic nach Texten der prophetischen Kabbala. „Zeigen“ ist für diese konzertante Aufführung die korrekte Benennung, ist doch der Schauwert ebenso groß wie das Klangerlebnis. Die Künstlerin Kristine Tornquist

von sirene sowie der Illustrator und Designer Germano Milite haben in Zusammenarbeit mit Astronominnen und Astronomen für den Sternenprojektor des Planetariums einen Film geschaffen, der parallel zur Musik in den Weltraum entführt. Zu sehen sind fantastische Bilder. Mit beinah Lichtgeschwindigkeit fliegt das Publikum von planetarischen Nebeln zu fernen Galaxien, Sterne rasen auf einen zu, dass einem schwindelt, und spätestens wenn man den Riesenstern Beteigeuze passiert, weiß man, dass man hier per mystischer Musik durchs Universum unterwegs ist. Das Ganze ist derart atemberaubend, dass es tatsächlich kaum zu beschreiben ist.

Clemencic hat seine Kabbala 1992 für das legendäre zweite Mittelfest in Cividale del Friuli komponiert. Das Oratorium zählte damals zu den herausragenden Aufführungen. „Kabbala“ ist für fünf Gesangssolisten – zwei Countertenöre, zwei Tenöre, einen Bassbariton ‐ und sechs Instrumentalisten ‐ Zink oder Trompete, zwei Schlagzeuger und drei Posaunen vorgesehen. Und wie stets in seinen Kompositionen geht es Clemencic in erster Linie um Klang‐Symbolik, wobei er Klänge und Klangkomplexe als akustische Zeichen und Chiffren für innere Erlebnisse und Erfahrungen einsetzt.

Unter der Leitung von François‐Pierre Descamps sind die Countertenöre Nicholas Spanos und Bernhard Landauer, die Tenöre Gernot Heinrich und Richard Klein sowie Bassbariton Colin Mason zu hören, zu den Solisten die InstrumentalistInnen Gerald Grün, Trompete, Werner Hackl, Peter Kautzky und Christian Troyer, Posaunen, sowie Robin Prischink und Adina Radu, Schlagwerk – grandiose Künstler und eine Künstlerin, wie sie besser nicht zu wünschen wären.

François‐Pierre Descamps und Ensemble. Bild: © Armin Bardel

Mitten im Universum, umtost von Sternen. Bild: © Armin Bardel

Der Urknall über den ProtagonistInnen. Bild: © Armin Bardel

Musikalischer Flug durch planetarische Nebel. Bild: © A. Bardel

Jüdische Mystik, die Zahlensymbolik der Kabbala, eine ungewöhnliche Besetzung: sirene macht sich hier an ein Werk, das wahre Lichtfunken sprüht, wenn die Männerstimmen unter der Himmelskuppel zum martialischen, zum archaischen Gesang anheben, die Posaunen in den tiefen Lagen wirkungsvoll mit Tenor und Countertenören kontrastieren, die beiden Schlagwerke donnern – wobei es den Akteuren gleichzeitig gelingt, auch eine meditative Stimmung zu erzeugen. Die Zuschauerinnen und Zuschauern haben sich zu diesem Zeitpunkt längst in den Sesseln des Planetariums zurückgelehnt, um das Spektakel über ihren Köpfen zu genießen.

So enigmatisch die Musik, so unergründlich das Weltall. Und man selbst auf der Reise vom Urknall zum kosmischen Netz, vorbei am Orion und den Plejaden, dabei beim einander umschlingenden Tanz zweier kollidierender Galaxien, mitten hinein in den Katzenpfotennebel. Den gibt es wirklich. Im Sternbild Skorpion. Schließlich die Sonne, die Erde. Zimzum, das Eigenexil Gottes, Die 22 heiligen Buchstaben, Welt der Prüfung / Welt der Unreinheit, Krieg der Söhne des Lichtes gegen die Söhne der Finsternis am Ende der Zeiten, so lauten Überschriften zu den vorgetragenen Texten, endlich die Rückkehr ins himmlische Jerusalem.

Yehalecha adonaj elohenu kol maaßecha. va-chaßidecha zadikim oße rezoncha ve-amcha bet ißrael kulam berina jodu vivarchu vischabchu. vifaaru et schem kevodecha. ki lecha tov lehodot leschimcha naim lesamer. U-meolam ve-ad olam ata el: baruch ata adonaj melech mehulal batischbachot. Baruch ata, adonaj, elohenumelech ha-olam, ha-gefen ve-al peri ha gefen. Gesegnet bist Du, Allmächtiger, unser Gott, König der Welt.

Bild: © Armin Bardel

Bild: © Germano Milite

Immer wieder formen sich aus Ringen Unendlichzeichen: . Bekannt gemacht wird man auch mit den Säulen der Schöpfung, jener interstellaren Masse im Adlernebel, einem Ort der Sternenentstehung in der Weite eines vermeintlichen Nichts. Auch die Kabbalisten beginnen ihren Schöpfungsmythos in der Spannung zwischen Nichts und Alles. Die Basis der kabbalistischen Lehre ist die Suche des Menschen nach der Erfahrung einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Sie führt über das rationale Verstehen hinaus, dringt in tiefreichende Dimensionen der Tora jenseits ihrer wörtlichen Botschaft vor. Ziffern/Sefirot und die 22 hebräischen Buchstaben enthüllen dabei die Geheimnisse der himmlischen Sphären.

„Das hebräische Wort Kabbala bedeutet in der Übersetzung ,Überlieferung‘. Sie ist das Fundament der jüdischen Mystik. Und doch geht sie über alles spezifisch Jüdische hinaus und spricht vom Menschen und seinem Weg durch die Welten. Behandelt werden sein Ausgesetztsein, seine Gottesferne und die Entfernung vom eigenen Selbst. Die Kabbala spricht von den Bedingungen seiner Entwicklung und von seiner Selbstverwirklichung. Diese jüdische Weisheit formuliert alles, was uns zutiefst betrifft“, so René Clemencic in einer Schrift zu seinem Werk.

So findet sich in dieser Aufführung ein komplexer Kosmos zusammen. Makro- und Mikro-, Mystik, Mensch und das Universum. Wir sind der Stoff, aus dem die Sterne sind. „Kabbala“ vom sirene Operntheater ist eine Herausforderung, eine Überforderung aller Sinne. Außergewöhnlich, eindrucksvoll, ein mit Sicherheit unvergessliches Erlebnis!

Weitere Vorstellungen: 04., 08., 11., 13., 17., 19. November, 12., 14. Jänner 2023.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=wzmRACe7Awk          www.sirene.at/aktuell/2022-kabbala          www.vhs.at/de/e/planetarium          www.wienmodern.at

TIPP: SCIENCE – Jeweils um 19 Uhr vor den Vorstellungen halten WissenschaftlerInnen Vorträge zu Astronomie, Astrophysik und dem Schöpfungsmythos in der Kabbala (im Ticket inbegriffen). Die Themen reichen von Urknall und Glaube über Zimzum, der Selbstkontrakion Gottes, bis zur dunklen Seite des Universums.

Bild: © Armin Bardel

TIPP: MAKROKOSMOS

Von 22. bis 27. November zeigt sirene Operntheater ebenfalls im Rahmen von Wien Modern im Jugendstiltheater Wien „Makrokosmos I-IV“, vier Zyklen nach dem Zodiak von George Crumb, einem der meistgespielten zeitgenössischen amerikanischen Komponisten. „Makrokosmos I-IV“ ist hochkomplex, anspielungsreich und zyklisch aufgebaut, eine kosmische Choreographie im „Celestial ballroom“. Alle vier Teile beziehen sich auf den Zodiak, jenen 30 Grad breiten Streifen entlang der Ekliptik, in dem die 12 Monatszeichen stehen. Das sirene Operntheater stellt Crumbs subtiler und bildreicher Musik mit PRINZpod, Wendelin Pressl, Peter Koger, Barbis Ruder und Burkert/Tornquist fünf künstlerische Positionen zur Seite. www.sirene.at/aktuell/2022-makrokosmos

  1. 11. 2022

sirene Operntheater online: Die Verwechslung

Januar 5, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Mit Pauken und Trompeten über die Berliner Mauer

Kaffee-und-Kuchen-Tristesse bei Dauters: Johannes Czernin als Gustav, Ingrid Haselberger als Oma, Günther Strahlegger als Vater, Katrin Targo als Tante Ilse. Bild: © Kristine Tornquist

Mit keiner geringeren Idee als „Die Verbesserung der Welt“ waren Kristine Tornquist und Jury Everhartz im Herbst angetreten, um das interessierte Publikum mit ihrem Neuen Musiktheater zu erfreuen. Da jedoch das siebenteilige Kammeropern- festival entlang der christlichen Werke der Barmherzigkeit #Corona-bedingt nicht auf der Bühne beendet werden konnte, hat sich das sirene Operntheater entschlossen,

dessen letzten Teil zu verfilmen und ab sofort als kostenlosen Stream anzubieten. Nach unter anderem Zusammenarbeiten von Antonio Fian und Matthias Kranebitters „Black Page“, Thomas Arzt und Dieter Kaufmann oder Martin Horváth und PHACE, widmen sich Autorin Helga Utz und Komponist Thomas Cornelius Desi nun Kirchenvater Lactanius‘ Punkt sieben nach der Endzeitrede Jesu, Gefangene vom Feind loskaufen. „Die zunehmende verbale und ethische Verwahrlosung des Diskurses, die Verhärtung gegen jene, denen es schlechter geht, und das Gefühl, mit Europa und der Welt gehe es unaufhörlich bergab, hat uns dazu inspiriert, ja fast gedrängt, dem etwas Positives entgegenzusetzen“, so Everhartz und Tornquist.

Die auch die Verfilmung der Wien-Modern-Kooperation übernommen hat. „Die Verwechslung“ heißt das Werk, das die Zuschauerin, den Zuschauer in die DDR des Jahres 1981 versetzt, 1981 das Datum, zu dem der 24-jährige Bürgerrechtler Matthias Domaschk in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera unter bis heute ungeklärten Umständen stirbt, und zu dem an Stasi-Hauptmann Werner Teske wegen Vorbereitung seiner Flucht in den Westen das letzte Todesurteil der DDR-Justiz vollstreckt wird.

„please release me ostseefisch“: Johannes Czernin als Gustav. Bild: © Kristine Tornquist

Gustav hat sich die Freiheit auf die Fahnen geheftet: Johannes Czernin. Bild: © Kristine Tornquist

Das Geheimnis um Hedwig hat Vater alles gekostet: Günther Strahlegger. Bild: © Kristine Tornquist

Das belauschte Gebet: Günther Strahlegger und Katrin Targo. Bild: © Kristine Tornquist

All das mag Helga Utz beim Schreiben im Hinterkopf gehabt haben. Kristine Tornquist zeigt in Raum und Requisiten von Markus und Michael Liszt, Kostüm und Maske: Katharina Kappert und Isabella Gajcic, die Kaffee-und-Kuchen-Tristesse der Familie Dauter. Dauter, das klingt nach doubter, und solche hat’s hier zwei: den Vater und seinen Sohn Gustav, Günther Strahlegger und Johannes Czernin. Ingrid Haselberger ist dessen verwirrt-verängstigte Oma und Katrin Targo die kadertreue Tante Ilse.

Schon heben sie an, die Streitgesänge um Staats(zuge)hörigkeit, Revolutionär Gustavs Haare nach der jüngsten „Außenseiter“-Mode so Puhdys-lang, dass er die Parteiparolen nicht hören kann, bis der Vater ein (Ohn-)machtwort spricht. Hedwig, wird man später erfahren, ist das Geheimnis, das Vater alles gekostet hat, die Ehefrau, die „rübermachte“. Die Streicher des œnm . œsterreichisches ensemble fuer neue musik unter der Leitung von François-Pierre Descamps unterstreichen das düstere Szenario, und werden auch Omas Konfusion wie ein Bienenschwarm umschwirren.

Chaos, Kakophonie, das Libretto ein Familienzwist in gesungen-gestammelten, sich wiederholenden Halbsätzen, wortdeutlich!, denn der vorgeführte SED-Stimmraub ist ein stimmgewaltiger – und ein „please release me ostseefisch“ aus Gustavs Kassettenrekorder im Kinderzimmer. Wo er sich eine „Freiheit“ auf die Fahnen heftet, für die er verhaftet und unter Schreibmaschintippen und Handschellenklirren verhört wird. Gefängnis, Folter, drei Tage nackt im winterkalten Haftanstaltshof, das hat das Regime perfekt von der Vorgängerdiktatur gelernt. Sie habe Faschisten, Rote Armee, Flucht im Schnee überlebt, singt die Oma und macht sich, während Ilse fürchet, „Gustav wird uns alle mit in die Tiefe ziehen“, auf die Suche nach dem im System verschollenen Enkel.

Indoktrinationstelefonat: Haselberger und Targo. Bild: © Kristine Tornquist

Czernin, Haselberger und Strahlegger. Bild: © Kristine Tornquist

Köfferchen gepackt: Strahlegger und Haselberger. Bild: © Kristine Tornquist

„Die Verwechslung“ beweist sich als Parabel über gleichgeschaltete Gesellschaften, über Message Control und Meinungsmainstream. Filmisch ist das vom Feinsten umgesetzt, mittels welchen Mediums sonst könnten Solistinnen und Solisten in Gedanken singen? Tornquist besorgt mit Überblendungen Rückblicke und Schauplatzwechsel im Stakkato, die verliebt-verträumte Jung-Ilse im roten Kleid, nun Arm in Arm mit NVA-Mann Knut, ein übler Bursche, wie Oma weiß, während das Publikum ihn beim Flirten mit Ilse sieht.

Es sind derlei Einfälle, die die sirene-Produktion besonders machen. Verwanzte Festnetztelefonate, die Ilse offenbar steuern, frei nach Nestroy: die beste Nation ist die Indoktrination, der Vater unter West-Spitzel-Verdacht, sein Gebet, Du sollst keinen Gott nehmen Erich Honecker haben …, von Ilse belauscht, ein musikalisch lyrischer Moment, seine Sünde die Mehrzimmerwohnung. Das Liszt’sche Labyrinth aus Räumen, durch das die Protagonistinnen und Protagonisten gleich Versuchstieren irren, wird vom Kamera-Auge aus immer wieder ungewöhnlichsten Big-Brother-Winkeln eingefangen.

Nicht zuletzt dank „Knut“ Gebhard Heegmann, Kari Rakkola und Bärbel Strehlau als bösartigem Beamtenapparat ist „Die Verwechslung“ eine hochdramatische Arbeit, in die das gesanglich naturgemäß exzellente Ensemble auch darstellerisch sein ganzes Herzblut fließen lässt. Der Titel des Werks entschlüsselt sich zum Schluss, Gustav wird auf die Krankenstation des Gefängnisses verlegt, wo ihm Krankenschwester Pauline, Marelize Gerber als Schutzengel in Weiß, zur Identität eines eben verstorbenen Insassen verhilft.

Stasi-Verhör: Kari Rakkola, Gebhard Heegmann, Bärbel Strehlau und Johannes Czernin. Bild: © Kristine Tornquist

Vaters Anklage: Katrin Targo, Ingrid Haselberger und Günther Strahlegger. Bild: © Kristine Tornquist

Stasi-Folter: Kari Rakkola und Johannes Czernin „im winterkalten Hof“. Bild: © Kristine Tornquist

Auf der Krankenstation: Rakkola, Heegmann, Marelize Gerber und Czernin. Bild: © Kristine Tornquist

Dieser war Sohn eines „OFS in der AKG der HA IX“, heißt: eines Offiziers für Sonderaufgaben in der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit, verblüffend, was Helga Utz so alles recherchiert hat, und so kommt Gustav nicht nur mit einem blauen Auge ist gleich gebrochenen Rippen davon. Gustav soll sogar, begleitet vom freilich ebenso wie er falschem Vater, im Westen behandelt werden, die Puschkinallee 28 wird das regeln, „Die Verwechslung“ sein Leben retten.

Der Mensch im Arbeiter- und Bauernstaat ist längst nur noch Aktenzeichen, da fällt sowas nicht weiter auf. Mit Pauken und Trompeten, also zwei Schlagwerkern und Flötentönen, geht’s für Gustav und Vater freudetanzend über den DDR-„Schutzwall“. Vater, der sich nun Herwig nennt, und den damit nur noch ein Buchstabe von seiner Frau trennt. Und die Moral von der Geschicht‘: Mag es auch immer und überall Menschen geben, die „gleicher“ sind (© George Orwell), Grenzen können überwunden werden, Mauern stürzen ein. Nur Mut! Mut!

www.sirene.at/video/verbesserung-der-welt-7-die-verwechslung          www.sirene.at           www.wienmodern.at

  1. 1. 2021

Nestroypreis-Jury: Offener Brief

November 3, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Mit dem Ausdruck des Bedauerns

3703755012_2acdf84af1_bGeehrte Damen und Herren,

der Nestroypreis 2015 geht im Großen und Ganzen an das Burgtheater. Dies ist keine kulturirgendwie oder -was Entscheidung, sondern einzig und allein dem Umstand geschuldet, dass die Mehrzahl der österreichischen Bühnen während der Spielzeit 2014/15 geschlossen hatte.

Mit dem Ausdruck des Bedauerns und der Bitte um Rücksichtnahme,

i. V. Theaterauskenner

www.nestroypreis.at

Wien, 3. 11. 2015

Mord an einer Romafamilie

April 3, 2013 in Film

„Just the Wind“ von Bence Fliegauf

im Künstlerhaus Kino

Ab 5. April läuft im Wiener Künstlerhaus Kino „Just the Wind“ vom ungarischen Regisseur Bence Fliegauf, bei der Berlinale 2012 ausgezeichnet mit dem Silbernen Bären, dem Großen Preis der Jury.

Just the Wind/Bence Fliegauf Bild: Stadtkino Filmverleih

Just the Wind/Bence Fliegauf
Bild: Stadtkino Filmverleih

Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile: In einem ungarischen Dorf wurde eine Roma-Familie ermordet. Die Täter sind entkommen, niemand will eine Ahnung davon haben, wer das Verbrechen begangen hat. Eine andere Roma-Familie, die nahe dem Tatort lebt, sieht sich in ihrer latenten, mühsam verdrängten Angst bestätigt. Der Vater ist weit weg in Kanada; er möchte seine Frau, die Kinder und den Großvater nachholen, sobald es ihm möglich ist. Die Familie, von rassistischem Terror bedroht und von einer schweigenden Mehrheit im Stich gelassen, versucht den Tag nach der Tat zu überstehen. Die Mutter, die Tochter und der Sohn tun alles, um nicht aufzufallen. Aber Bedrohung und Angst sind ihre ständigen Begleiter. Und abends, als die Dunkelheit über das Dorf hereinbricht, rückt man im Bett noch enger zusammen als sonst. Doch die Hoffnung, dem Wahnsinn zu entkommen, erweist sich als trügerisch. Ausgehend von einer realen Mordserie, der in Ungarn in wenig mehr als einem Jahr acht Menschen zum Opfer fielen, schildert Fliegauf die Pogromstimmung, aus der Gewalt gegen Minderheiten entsteht.

Ein hochpolitischer Film, der auf die Grausamkeit der Wirklichkeit baut. Roma-Familien, die nachts von Milizen ermordet werden, sind heute in Ungarn Realität. Hintergrund dieser Morde: Wut auf die Roma, weil diese „auf Kosten des Staates leben“. Fliegauf macht diese Spannung und Bedrohung spürbar. Seine Kamera heftet sich eng an die Fersen der Figuren und macht ihre zunehmende Atemlosigkeit physisch miterlebbar. Auch die sommerliche Hitze und drückende Schwüle nimmt einem im Kinosessel fast die Luft. Eine beklemmende Metapher für Angst der Roma. Fliegauf will so den Zerfall seines Landes zeigen, in dem keiner mehr versucht, zu handeln. Die Polizei bleibt tatenlos, Teile der Bevölkerung nähren den Hass. Eine hoffnungslose Feststellung hinter der der Regisseur seine Hoffnung verbirgt: Das Entstehen eines neuen Bewusstseins, um der Barbarei ein Ende zu setzen.

www.k-haus.at/de/kino/programm/

Trailer: www.youtube.com/watch?v=SbEIsireE2I

Interview mit Bence Fliegauf: www.youtube.com/watch?v=u9ItHK6_gjM

Von Rudolf Mottinger

Wien, 3. 4. 2013