Burgtheater: Nebenan

November 4, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Irgendwie ist das alles ein Missverständnis

Norman Hacker und Florian Teichtmeister. Bild: © Matthias Horn

Einerseits. Die Kritik mancher Kolleginnen und Kollegen am unverändert gebliebenen Setting Prenzlauer Berg, weil man doch die Berliner Zustände – Stichwort: Gentrifizierung – nicht auf Wien übertragen könne, zielt ins Leere. Dies nicht nur, weil das Burgtheater dann auch keine Stücke aus dem antiken Griechenland oder dem viktorianischen England zeigen dürfte. Sondern auch. Wer annimmt, eine Kiezkneipe wie die Schankstube „Zur Brust“

gebe es an der schönen blauen Donau nicht, hat noch nie vom Floridsdorfer Tschocherl oder dem Kagraner Kistl gehört – und von den an deren Gestade angeschwemmten Stammgästen, die an dieser Lethe das Vergessen im Alkohol suchen. Und hinter jeder dieser Gestalten ein Mensch, ein Charakter, ein Schicksal. Darauf hat Martin Kušej bei seiner Inszenierung von „Nebenan“ vergessen.

Er macht vor allem aus den Nebenfiguren Karikaturen, Knallchargen, haucht ihnen kein Leben ein, er verweigert ihnen eine eigene, fürs Publikum unterschwellig wahrnehmbare Geschichte. Ein Kardinalfehler, weil man gerade in dieser Art von Endstation Sehnsucht jene antrifft, die man in Wien gern Originale nennt.

Kušej bezeichnet diese Arbeit im Programmheft-Interview als „komplettes Neuland“, seinen Versuch, „eine Situation auf der Bühne sehr realistisch umzusetzen“. Aber auch wenn Jessica Rockstroh im 30 Meter langen Spielraum eine 1:1 Kiezkneipe samt Dartscheibe und funktionierendem Zapfhahn, mit waberndem Schlagersound im Hintergrund und anzunehmend vom Zahn der Zeit angenagten Toiletten aufbaut, macht eine Kulisse noch keine großartige Aufführung. Irgendwie ist das alles hier ein Missverständnis, das Elend der sozial schlechter Gestellten als herbeizitierte Ausstattung.

Zum Anfang. Martin Kušej brachte am Burgtheater Daniel Kehlmanns „Nebenan“ zur Uraufführung. Der Text basiert auf dem gleichnamigen Film von Daniel Brühl und Daniel Kehlmann, entstanden aus einer Brühl’schen Idee, der den Freund fragte, ob er ihn und seine Schauspielkunst und seinen zunehmenden Starstatus in satirische Worte fassen könne. Als Kammerspiel für die Leinwand funktioniert das dermaßen gut, dass Debütant als Filmregisseur und Hauptdarsteller Brühl um den Goldenen Bären konkurrierte.

Norman Hacker, Katharina Pichler als Walküren-Wirtin, Florian Teichtmeister und Stefan Wieland. Bild: © Matthias Horn

Lieber klar trinken als klar sehen: Florian Teichtmeister, Katharina Pichler und Norman Hacker. Bild: © Matthias Horn

Katharina Pichler und Stefan Wieland als regungsloser Wutbürger Micha. Bild: © Matthias Horn

Norman Hacker, Elisa Plüss als hipper Florian-Fan, Katharina Pichler und Florian Teichtmeister. Bild: © Matthias Horn

Nun am Burgtheater. Sind der zuagraste Wiener Mime mit dem Fuß in der Hollywood-Tür Florian Teichtmeister und sein Widersacher Ossie Bruno – Norman Hacker, und ohne Frage ist die aberwitzige Tragikomödie ein Fest für zwei Spitzenklasse-Darsteller. Bruno, eigentlich kein Wendeverlierer, sondern mit gutem Kreditkartenfirmenjob, beginnt seinen Rachefeldzug also gegen einen Ösi statt gegen einen Wessi. Der gstopfte Fremdling hat sich das Mietzins-Hinterhaus mit einem gläsernen Aufsatz und nur ihm zugänglichen Lift verschönert, Bruno im Vorderhaus sieht dessen Treiben, hört dessen Lachen mit Frau und Kindern tagtäglich.

Darob hat er beschlossen den Eindringling ins Proletarier-Biotop zu zerstören. Munition liefert ihm das beiderseitige Fremdgehen der Eheleute, Bruno hat Informationen wer weiß woher – und stets lässt er in der Schwebe, ob er bei der Stasi oder deren Häftling in Hohenschönhausen war. So weit, so dünn der Handlungsfaden: Alteingesessene gegen neoliberale Modernisierung. Die „Känguru-Chroniken“ können das besser, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=38517

Fußnote nur um nochmal eine Verbindung aufzubauen, natürlich ist die Gentrifizierung in Wien nicht so forsch wie in Berlin, doch auch hier werden Unorte von einer einschlägigen Klientel zur Kultgegend mit dem Namen Szeneviertel auserkoren …

Die Zeit ist eingefroren, sichtbar an der großen Wanduhr über dem Tresen, die längst aufgegeben hat, anzuzeigen, wie spät es ist. Wer sich als erster hier bewegt, hat verloren. Teichtmeisters Florian, den es vor einem Flug nach London, zum Casting für ein Superhelden-Movie in die Kneipe spült, und der ihn erwartende Bruno Hacker im Infight, inmitten der eskalierenden Tatsachen sind freilich famos anzuschauen, der präzise und gnadenlose Bruno, Florian, der seine Lügen mit Charme und Schmäh zu tarnen versucht.

Stefan Wieland, Norman Hacker, Katharine Pichler und Florian Teichtmeister. Bild: © Matthias Horn

Stefan Wieland zuckt immer noch mit keinem Muskel, und Arthur Klemt als Obdachloser Guido. Bild: © Matthias Horn

K. o., aber nicht in der letzten Runde: Norman Hackers Bruno geht nach einem Faustschlag zu Boden. Bild: © Matthias Horn

Florian Teichtmeister und als angetraute, fremdgehende  Ärztin Clara – Elisa Plüss. Bild: © Matthias Horn

Bis Florians Fassade bröckelt heißt das Match schnöselige Süffisanz vs. staubtrockenen Sarkasmus, dann explodiert Teichtmeister fachmännisch aus dem vorbildlich-verständnisvollen Rahmen eines Bobo-Bildes. Mit etwas mehr Verve hätte daraus eine Faust’sche Mephisto-Story entstehen können – die allgemeine Ungewissheit, die schemenhaft im Schatten lauert.

Immerhin hat man Spaß mit Katharina Pichler, als Wirtin eine volltätowierte Walküre mit prallem, in schwarzes Kunstleder verpacktem Popo, die ihre gefallenen Krieger an der Flasche hält. Grandios ihre Mimik, mit der das Schankmädchen in ortsansässigen Walhalla die unerwarteten Vorkommnisse kommentiert. Wie sie dem angeekelten Florian ihr Sülzchen, passend zum Begriff sülzen, serviert, das der unter Todesverachtung verspeist, nachdem er schon – Achtung: Piefkewitz! – ihren „Kaffe“ ertragen musste – das ist vom Feinsten.

Im Umfeld Stereotype mit den ihnen anhaftenden Klischees: Stefan Wieland als Wütbürger Micha, dessen ehrlich gemeint tolle Leistung es ist, zwei Stunden lang auf einem Barhocker sitzend mit keinem Muskel zu zucken, und wie er in sein abgestandenens Bier starrend und von der Wirtin regelmäßig gemaßregelt krude Widerstands- parolen kräht; Arthur Klemt als türkischer Taxifahrer, als Obdachloser Guido mit seinem Hab und Gut in zwei Ikea-Tragtaschen und als Sauerstoffflaschen abhängiger Hartz-IV-Empfänger Fatsuit-Dirk. Elisa Plüss erscheint kurz als exaltierter Florian-Fan und gewinnt als Ärztin-Ehefrau Clara mit Oscar-Regisseur-Pantscherl kein Profil, weil die Regie ihr nichts zu spielen gibt. Brunos Motive enträtseln sich nie. Anders als im Film fehlt der Theaterfassung die bitterböse Schlusspointe.

Was an diesem künstlichen Duell Teichtmeister-Hacker am meisten nervt, ist Kušejs Annahme, aus Kehlmanns gefälligem Geplänkel eine Gesellschaftlich-Abgehängten-Saga zu gerieren, als könne die groteske Überzeichnung des Ganzen aufs Authentizitätskarussell des Bühnenbilds aufspringen. Abschließend der Refrain von Brunos verwichener Band „Die Bruchbuden“ (Kai Lüftner und Moritz Friedrich): Und ich warte, und warte, und warte, und warte … So ist das. Man wartet und wartet, dass endlich etwas passiert. Aber es kommt nichts. Ende.

Teaser: www.youtube.com/watch?v=toyMjC2UPKg          www.burgtheater.at

  1. 11. 2022

Jessica Bab Bonde und Peter Bergting: Bald sind wir wieder zu Hause

Januar 19, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Shoah-Überlebende: Als Kinder im Konzentrationslager

Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur haben als Kinder den Terror des Dritten Reichs knapp überlebt. Vor allem der 1924 in der Tschechoslowakei geborene Roth, Autor, Dozent, Sozialarbeiter und in Auschwitz-Birkenau Dr. Mengele mit Mühe entkommen, vom Olof-Palme- über den Raoul-Wallenberg- bis zum Nelson-Mandela-Preis vielfach ausgezeichnet, ist als Zeitzeuge ein nimmermüder Berichterstatter über die Gräueltaten der Nationalsozialisten.

„Ich glaube, dass das Wissen über den Holocaust uns etwas über die Zukunft lehren kann“, ist sein Credo. „Eine Generation ohne historische Bildung ist schutzlos, wenn es darum geht zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“ Diese Worte haben Jessica Bab Bonde und Peter Bergting bei ihrer Graphic Novel „Bald sind wir wieder zu Hause“ beherzigt, in der sie das Schicksal dieser sechs erzählen, die als Kinder in Konzentrationslager gesperrt wurden. Buchenwald, Theresienstadt, Ravensbrück …

Susanne aus dem ungarischen Makó kam über Zwischenstationen in Strasshof und Bruck an der Leitha nach Bergen-Belsen. Entrechtet, von ihren Familien getrennt und ihrer Menschenwürde beraubt, erfuhren die Protagonistinnen und Protagonisten des Bonde-Bergting-Buchs die Angst und Verfolgung im Ghetto, quälenden Hunger, Deportation und schließlich die Entmenschlichung durch den industriellen Massenmord.

Sie mussten mitansehen, wie Eltern und Geschwister verhungerten oder an den Selektionsrampen „auf die andere Seite“ gejagt wurden. Die eine führte ins Elend der Arbeits-, die andere in die Vernichtungslager. Ins Gas. In Gesprächen gaben sie Autorin und Zeichner ihre Erlebnisse weiter. Es ist diese subjektive Perspektive, die das Ganze so besonders macht: das Millionenverbrechen, das sich in abstrakten Horrorzahlen aufzulösen droht, wird durch die einzelne, den einzelnen geschildert.

Der aus Łódź stammende Tobias Rawet engagiert sich, seit er 1992 hörte, wie der französische Geschichtsrevisionist Robert Faurisson den Holocaust leugnete. Susanna Christensen, weil sie das Gefühl hat, dass der Hass auf Juden dieser Tage heftiger wird. „Sie hat“, schreibt Bonde, „keine Angst mehr um ihrer selbst willen, hofft aber, dass ihre Nachkommen nie etwas von dem erleben werden, was ihr widerfahren ist.“ „Bald sind wir wieder zu Hause“ sieht die Verbrechen der Shoah mit Kinderaugen.

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

Viele Worte braucht es dafür nicht. Der Ton der Graphic Novel ist nüchtern, die Illustrationen von Peter Bergting sind düster, sie transportieren die bedrückende Stimmung zwischen den Viehwaggons und den Baracken. Die Farben sind schlammig, schmutzig, Grau-braun, Rot wird verwendet, um Blut oder Feuer darzustellen. Bergtings visuelle Aufarbeitung ist schlicht, aber explizit. Vor einer Rückkehr des Antisemitismus warnt auch Jessica Bab Bonde in ihrem Vorwort und wirft die Frage auf, ob ähnliche Verbrechen heute noch geschehen könnten.

Schließlich fanden die Novemberpogrome und ihre furchtbaren Folgen vor aller Augen statt: „Nur wenige lehnten sich auf, sprachen darüber, was sie seltsam oder falsch fanden … Die meisten kümmerten sich nicht darum, zu viele fühlten nicht mit denen, die so erniedrigt wurden. Zu viele schauten weg und waren beruhigt, solange ihnen und ihren Familien nichts passierte …“ Am Ende des Buches finden sich eine geschichtliche Zeitleiste sowie ein Glossar, in dem Begriffe wie „Todesmärsche“, „Davidstern“ oder „Weiße Busse“ erklärt werden.

„Bald sind wir wieder zu Hause“, diese erschütternde Sammlung von Erinnerungen und unbedingt lesens- wie sehenswerte Geschichtslektion, sollte zur Pflichtlektüre werden. Gerade jetzt, da sich rechtsradikale, rassistische Vorfälle von Tatsachenverdrehern und Verschwörungstheoretikern weltweit wieder häufen. Ein beeindruckendes Plädoyer gegen das Vergessen und für ein Niemals wieder!

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

Über die Autorin: Jessica Bab Bonde, geboren 1974, ist eine schwedische Autorin und Verlagsagentin. Im August 2019 gründete Bonde zusammen mit David Lagercrantz die neue Agentur „Brave New World“.  Im Jahr davor veröffentlichte sie zusammen mit Illustrator Peter Bergting die Graphic Novel „Bald sind wir wieder zu Hause“ über den Holocaust. Das Buch basiert auf Interviews mit den KZ-Überlebenden Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur. Es wurde für den August-Preis in der Kinder- und Jugendkategorie nominiert.

Über den Zeichner: Peter Bergting, der Spross einer Künstlerfamilie, arbeitet seit 17 Jahren als professioneller Maler und Illustrator. Seine Arbeiten – vor allem Kinderbuch- und Rollenspielillustrationen – erschienen in weit mehr als 500 Publikationen. Er wurde 1970 in jener kleinen schwedischen Stadt geboren, die durch den Film „Fucking Åmål“ einige Berühmtheit erlangt hat. Derzeit lebt er mit Frau und Tochter in der Nähe von Stockholm.

Cross Cult Verlag, Jessica Bab Bonde (Text), Peter Bergting (Zeichnungen): „Bald sind wir wieder zu Hause“, Graphic Novel, 104 Seiten. Übersetzt aus dem Schwedischen von Monja Reichert.

www.cross-cult.de           www.bergting.com

  1. 1. 2021

Burgtheater: Mein Kampf

Oktober 10, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Den Witz versteht nur, wer dabei gewesen ist

Und hereinbricht Hitler: Markus Hering als Schlomo Herzl, Marcel Heuperman als Braunauer Bildermaler und Oliver Nägele als Lobkowitz. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Zusammengefasst, das Ganze entwickelt sich vom jüdischen Witz zur Furz-Farce zu einer Brachialgewalt, die durch George Taboris Groteske schlägt, wie die Heiligen Nägel durch Schlomos Hände. Itay Tiran inszenierte am Burgtheater also „Mein Kampf“, er hat sich am Akademietheater als Regisseur schon in „Vögel“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34508), als Schauspieler in „Der Henker“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36623) von seiner besten Seite gezeigt.

Nun berichtet der im israelischen Petach Tikva geborene Künstler im Programmheft anrührend von seiner „Kämpferin“, Großmutter Deborah Fixler Yahalom, Shoah-Überlebende und Geschichtenerzählerin und Virtuosin eines Überlebenshumors, mit dem sie ihrem Enkel den Horror beschrieb. „Shoah“, sagt Tiran, „ist für sie, wie für viele andere, kein datierbarer Zeitpunkt in der Geschichte, sondern ein Zustand, der anhält und andauert“, und im Interview, dass er, als seine Regiearbeit angefragt wurde, zweifelte, ob er sich mit dem Familientrauma auseinandersetzen möchte, nicht wissend, was er dem in Wien oft und grandios gespieltem Stück an noch nicht Gesagtem hinzufügen könne.

Dies hier erwähnt als Eckpunkte einer Besprechung, die über ein „Ja, so kann man’s freilich auch machen“ hinauskommen möchte, ist es unsachlich zu sagen, man möge von Themen, die einem zu nah sind, die Finger lassen?, kurz: der gestrige Premierenabend hat seine Momente, skurrile und schwere und solche, die es einem nicht leicht machen.

Jessica Rockstroh hat die Vorderbühne mit einem Jossi-Wieler-Rechnitz-Gedächtnisguckkasten zugebaut, ein Vergleich, dem stattgegeben wird, als Frau Tod Herrn Hitler ihren eben rekrutierten Würgeengel nennt. Bis dahin ist es ein mehr als zweistündiger Weg durch diesen gefinkelten Wandverbau, der sich hoch- und wegklappen lässt, die Paneele mal Bett, mal Bügelbrett, und dessen Teile von Anfang bis Ende durchbrochen und zertrümmert werden, wenn die Schauspieler aus ihnen fallen, drängen, drücken. Kein heiles Heim, dafür ein Heil! im Männerwohnheim, der Hitler und der Himmlisch kommen!

Davor, man weiß es, ein heiterer G’tt aus wenig heiterem Himmel, einer, der sich an nichts erinnern kann, solch aktuelle Hinterlist gibt’s von Schnitzel und Flüchtlingsstrom bis zum Jammern der Tödin übers Aussterben der Pandemien (Publikum: Gelächter!). Der Herr und sein Auserwählter sind, man weiß auch das, Koscherkoch Lobkowitz und Buchhändler Schlomo Herzl, Oliver Nägele und Markus Hering, und im Wortsinn über die beiden hereinbricht Marcel Heuperman als Hitler. Der sich erst in einer hochgeschraubten Schwadronade, dann seinen Darm in einen Kübel entleert. Scheiße aus allen Körperöffnungen, wie gesagt, am Furz- und Kotztheater wird hier nicht gespart. Heupermans unappetitlicher Hitler ist ein Theatraliker ennet der Grenze des Geschmacklosen.

Hering, Heuperman und Hanna Hilsdorf als Gretchen, hi.: Huhn Birne als Mizzi. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Ein händewachelndes Ojojoj der Menschenopfer: Makus Hering und Oliver Nägele. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Rekrutiert ihren Würgeengel: Sylvie Rohrer als Frau Tod und Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Itay Tiran, und dies sein Pluspunkt, stellt die Schauspieler in den Mittelpunkt, er gibt ihnen all den Raum, der zwischen drei Wänden möglich ist. Es ist ein einfaches, ein Armes Theater, das er zeigt, mit einem Stück Kreide zeichnet Herings Schlomo Hitlers neues Zuhause wie den Teufel an die Wand; die Kostüme von Su Sigmund wie aus der Kleidersammlung, Trainingsbuxe, Bademantel, die Kippa eine Strickmütze. Heuperman ist ein feistes, berserkerndes Baby, ein hysterisch wütendes Kleinkind, kindisch-grausam, sobald es nicht nach seinem Kopf geht, die schmutzigen Strümpfe auf Halbmast, die versiffte Unter- eigentlich eine beständig rutschende Windelhose, die Heuperman ebenso beständig über dem nackten Hintern hochzieht.

Hering und Nägele geben sich als zwei Käuze, die mit einem händewachelndem Ojojoj ihre Opferbestimmtheit kundtun, Lobkowitz schon ein jenseitiger Mehlzerstäuber, Herzl noch ein herzergreifend Verzweifelter – am jüdischen Glauben und am jüdischen Witz, der mit mütterlichem Masochismus den Braunauer Bildermaler zum Massenmörder stylt und coacht. In diesem Szenario ist allerlei Bärtchen- und Youth-Cut-Slapstick möglich, so weit, so schön läuft der Abend am Schnürchen, mit komischen Typen und ihren Hals- wie Wortverdrehern. Jede Pointe sitzt, auch wenn man hier bereits den Sinn für Taboris nadelspitzen Sarkasmus und seine beißende Tieftraurigkeit vermisst.

Den schönsten und sie bestimmenden Moment schöpft Itay Tirans Aufführung aus der Verkehrung von Schlomo Herzls Satz zu seinem Buch, titelgebend: „Mein Kampf“, der bei Deborah-Enkel Tiran als Schlomos „letzte Chance endlich zu vergessen, woran ich mich seit meiner Jugend erinnern muss“ dasteht. Lässt er doch den Hering bei ins Gelbe gedimmten Standbildern die Mitakteure nach Schlomos Willen arrangieren, auf dass seine Inszenierung unter greller Glühbirne Szene für Szene ins Grauen entgleise.

Herings Schlomo Herzl mit der KZ-Tätowierung auf dem Unterarm fantasiert aus dem Orkus die Schlächter neu herbei. Und er weiß es und er kann es nicht verhindern, kann das Geschehene nicht umschreiben. Aus seinem Transistorradio hört man HC Strache im Wahlkampfmodus. Geschichte wiederholt sich nur als Farce, um Karl Marx abzukürzen.

Keine Akademie? Hitler ist am Boden zerstört: Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Der Schnauzer wird zum Bärtchen gestutzt: Markus Hering und Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Goldene Göttin statt deutsches Mädl: Markus Hering und Hanna Hilsdorf, hi.: Oliver Nägele. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Und wieder wird ein Jude gekreuzigt: Rainer Galke als Himmlisch und Markus Hering. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Von der allerdings ist Tiran mittlerweile weit entfernt. Er hat zur verlangt feinschnittigen Sichel, um noch mal Marx zu bemühen, den dumpfen Hammer hervorgeholt, die Geräuschkulisse von Ludwig Klossek klingt nach Maschinengewehr, Grölen, Stöhnen, Hohngelächter. Mit Bettfedern hereinschneit Gretchen als Goldene Göttin, Hanna Hilsdorf allerdings weder Varganin noch bodenständig deutsches Mädl, sondern in dieser Schlüsselepisode, wie man dem Volk die Stimmung umdreht, deutlich unterbeschäftigt. Am spannendsten und bei Weitem die beste Komödiantin ist die Henne Birne als legendäre Mizzi, die in ein Wandbord gesetzt wird – und man dem Tier am Schnabel ansieht, wie’s überlegt: Wie komm‘ ich da nur wieder runter?

Bleibt: Die großartige Sylvie Rohrer als sich zur Kunstfigur verrenkende Frau Tod, ein bizarrer, kalter Todesengel, als der die Rohrer hier eine Glanzleistung hinlegt: Bleibt: Rainer Galke mit Axt – als Himmlisch von einer Herrenmensch-Rage, der eine Sauerei anrichtet, die Taboris subversives Zotenspiel, seine Assoziationskette von Schmerz zu Scherz zu Ausch-/Witz endgültig zerreißt. Schlomo wird an die Wand gekreuzigt, Mizzi vergast, der Titel „Mein Kampf“, denn ein Buch gibt es nicht, wechselt den Besitzer und Hitler zieht mit seiner Bagage und seinem an den Deportationskoffer gemahnendes Gepäckstück ab, als hätte er Schlomo sogar den gestohlen.

Zusammengefasst, im Dickwanst ist punkto dramatischer Dichte noch Luft drin. Die drastische Oberfläche bräuchte Tiefgang. In Zeiten da Rechts von einer zustimmend nickenden Mitte übernommen wird, braucht es (kultur-)politisch Radikaleres als Horrorclowns wie einen sich ausscheißenden Hitler und einen randalierenden Himmlisch. Ja, George Taboris „Mein Kampf“ ist im Getriebe des Repertoirebetriebs angekommen, kann man ihn aus diesem nun bitte weiterziehen lassen?

Lobkowitz und Robkowitz sitzen im Garten Eden auf einer Bank. Sagt Lobkowitz: Erinnerst du dich noch, wie du auf der Seife ausgerutscht bist und dir den Schädel zerschlagen hast, bevor sie uns vergasen konnten? Robkowitz schüttelt sich vor Lachen und erwidert: Ja, aber weißt du noch, wie du dich beschwert hast, sieben Mann seien zu viel für ein Bett? Kommt G’tt vorbei, böse und aufgebracht darüber, was es denn da zu lachen gebe. Sagt Lobkowitz: Ach Herr, den Witz versteht nur, wer dabei gewesen ist …

www.burgtheater.at           Video: www.youtube.com/watch?v=7x8ihcvJKbQ

  1. 10. 2020

Volksoper: Brigadoon

Dezember 2, 2019 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Schottisches Märchen von schönster Herzenswärme

Eine Sternstunde für das Wiener Staatsballett, das Orchester und Chor und Jugendchor der Volksoper Wien. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Keine Sorge, wenn die Sache, und davon ist auszugehen, so hervorragend läuft, wie vergangene Saison die konzertante Aufführung von „Porgy and Bess“, wird das Haus sicher bis Februar weitere Vorstellungen ansetzen. Der Vorschlag wäre rund um den Valentinstag, weil: da reingehen mit der Liebsten, und die ist hin und weg und auf ewig dein … Gestern hatte an der Volksoper der erste große Musicalerfolg

des genialen Duos Frederick Loewe und Alan Jay Lerner Premiere, „Brigadoon“, auf den bald die noch gigantischeren von „My Fair Lady“ oder „Gigi“ folgen sollten, halbszenisch und dies ist kaum zu glauben – als österreichische Erstaufführung. Ein Glück also, dass Direktor Robert Meyer die in den schottischen Highlands angesiedelte Liebesgeschichte nun für sich und damit auch fürs Publikum entdeckt hat, strotzt doch das wundersame Märchen nicht nur vor wunderbaren Melodien, sondern platzt auch vor Romantik aus allen Nähten.

Mit der gemäßer Herzenswärme gehen die Mitwirkenden an die Story heran, Dirigent Lorenz C. Aichner, der die Seinen mit Schwung und Sinn für Swing durch Loewes Evergreens leitet, Regisseur Rudolf Klaban, Choreograf Florian Hurler und das Wiener Staatsballett, die mit Verve die Bezeichnung des Abends als halbszenisch ad absurdum führen. Klaban holt mit Hintergrundbildern reetgedecktes Dorfidyll, purpurfarbenes Heidekraut, Castle-Ruinen und bemooste Wälder auf die Bühne, davor das Orchester und der wie stets von Thomas Böttcher fabelhaft vorbereitete Chor, davor die Solisten und vier Tanzpaare, Lassies und Lads in Scots-Tracht samt Tartan.

Jeffrey Treganza als Jeff Douglas und Jessica Aszodi als Meg Brockie. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Oliver Liebl als sinistrer Harry Beaton beim Sword Dance. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Ben Connor als Tommy Albright und Rebecca Nelsen als Fiona MacLaren. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Wobei bei den schnellen, kraftvoll gesprungenen Reels und Stately Steps kein Zweifel darüber bleibt, was die Herren unterm Kilt tragen. Auf 581 Vorstellungen am Broadway, auf 685 in London West End hat es „Brigadoon“ sofort in Serie gebracht, bekannt ist die Vincente-Minnelli-Verfilmung mit Gene Kelly, der 1954 den New Yorker Touristen Tommy Albright verkörperte, der sich mit seinem Freund Jeff Douglas im schottischen Middle of Nowhere verirrt – und auf den im Wortsinn zauberhaften Ort stößt, der, weil nur alle hundert Jahre für einen Tag zum Leben erweckt, auf keiner Landkarte verzeichnet ist.

Der österreich-stämmige Loewe hatte sich an die alte Sage „Germelshausen“ von Friedrich Gerstäcker erinnert, Lerner die verwunschene Siedlung Zweiter-Weltkriegs-bedingt in den Norden der britischen Inseln verlegt und sie nach den Burns-Balladen über die Brig o‘ Doon benannt. An der Volksoper singt und spielt der australische Bariton Ben Connor den Tommy, überhaupt weist der in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln und Texten von Erzähler und Barkeeper Christoph Wagner-Trenkwitz gestaltete Abend eine hohe Zahl an Native Speakers auf, so etwa die texanische Sopranistin Rebecca Nelson als jene Fiona MacLaren, in die sich Tommy selbstverständlich unsterblich verliebt, und den wie sie aus den USA stammenden Tenor Jeffrey Treganza als Jeff.

Die australische Mezzosopranistin Jessica Aszodi, die als temperamentvoll-verrückte Meg Brockie am armen Jeff ihren Hang zum Männerfang austobt, gibt mit der Rolle ebenso ihr Hausdebüt, wie der britische Tenor Peter Kirk als Charlie Dalrymple, Fionas jüngerer Schwester Jean MacLarens Verlobter. Das neue Ensemblemitglied Lauren Urquhart ist als Tommys zickige Upper-Class-Verlobte Jane Ashton zu erleben; ihr schottischer Großvater Doug Urquhart hat mit der Truppe die rrrichtige Aussprache trainiert. Und apropos, rrrichtig: Schon im Foyer erwarten die Dudelsack-Spielerinnen Irmgard Foglar und Saskia Konz und Trommlerin Julia Nusko die Zuschauer, um sie mit ihren Great Highland Bagpipes und der Scottish Snare Drum in die passende Stimmung zu bringen; später werden die drei Musikerinnen den Funeral Dance von „Maggie“ Mila Schmidt begleiten.

Lauren Urquhart als Jane Ashton, Erzähler Christoph Wagner-Trenkwitz und Ben Connor als Tommy Albright. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Rebecca Nelsen als Fiona MacLaren, Jessica Aszodi als Meg Brockie und der Jugendchor des Hauses. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Peter Kirk hat als Bräutigam Charlie Dalrymple den schönsten Love Song des ganzen Musicals zu singen. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Maximilian Klakow, Jessica Aszod, Vernon Jerry Rosen, Jakob Semotan, Rebecca Nelsen und Juliette Khalil. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Und apropos, Dance: Auch Juliette Khalil als Jean, Jakob Semotan als Stuart Cameron oder Maximilian Klakow als Sandy Dean wirbeln mit den Profis Round-the-Room, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätten, allen voran Oliver Liebl, der als sinistrer Harry Beaton durch den Sword Dance turnt, als wäre er für derart Folklore zur Welt gekommen. Punkto Performance bleibt kein Wunsch offen und kein Auge trocken, Ben Connor und Rebecca Nelsen singen gemeinsam hinreißend den Riesenhit „Almost Like Being in Love“ und „The Heather on the Hill“, Peter Kirk ganz großartig den Ohrwurm „I’ll Go Home with Bonnie Jean” und den schönsten Love Song des Musicals „Come to Me, Bend to Me”.

Jessica Aszodi macht aus „The Love of My Life“ und „My Mother’s Wedding Day“ zwei gesangliche Kabinett- stücke, ein tödlicher Unfall passiert, Tommy und Jeff kehren zurück an die Ostküste, Tommy natürlich tod- unglücklich – und die Frage ist, ob die Liebe Raum und Zeit überwinden kann, die zu beantworten das Ensemble dieser rundum gelungenen Produktion am Mittwoch wieder zusammenkommt. „Brigadoon“ an der Volksoper, das ist sehr viel Sentiment, ein wenig Schottland-Satire und lyrische Stimmungsbilder, noch mehr fantastische Songs und die überbordende Spielfreude aller Beteiligten. In einem Satz: Ein Highland-Ausflug, der sich lohnt.

Einführung: www.youtube.com/watch?v=84WDhdOgjSU           www.youtube.com/watch?v=DjxKsMi4D5E           Probeneinblicke: www.youtube.com/watch?v=yum73XNvZ9E           www.volksoper.at

  1. 12. 2019

Little Joe

Oktober 29, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Subtiler Sci-Fi-Horror von Jessica Hausner

Emily Beecham als von den Mutterpflichten für Menschenkind Joe und Pflanzenspross Little Joe zerrissene Botanikerin Alice. Bild: © coop99 filmproduktion, The Bureau, Essential Films

Angsteinflößend wie Audrey II ist sie nicht, auch nicht so schauderhaft wie Mary Shelleys Leichenteil-Lebewesen, und dennoch ist dieses Geschöpf eine Art Frankensteins Pflanze, die Kreatur des modernsten Prometheus das vorprogrammierte Grauen grüner Gentechnik, ihr Schöpfer anno 2019 selbstverständlich eine Schöpferin: Botanikerin Alice.

Die alleinerziehende Workaholic-Mutter verkörpert die britische Schauspielerin Emily Beecham, die dafür bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Am Freitag läuft Jessica Hausners jüngster und erster in englischer Sprache gedrehter Film „Little Joe“ in den heimischen Kinos an, ein Wechselspiel von Sci-Fi-Horror und Psychothriller, eine gewitzte Komödie über die Unwägbarkeiten des Mensch- und Mutterseins, in der die Drehbuchautorin und Regisseurin mit sichtlichem Vergnügen in einem fort falsche Fährten legt. Die „Titelfigur“ ist ein empfindsames Blütchen, von den Forschern einer auf Zierblumen spezialisierten Firma gehegt und gepflegt, kann diese neue Züchtung mittels ihres Dufts doch glücklich machen – ein garantierter Verkaufsschlager, der alsbald der Öffentlichkeit präsentiert werden soll.

Was Little Joe fürs Verströmen von Freundlichkeit und Fröhlichkeit braucht, ist tägliche Fürsorge in wohltemperierten Räumen, ausreichend Wasser – und Ansprache. Doch, als ob das alles zu schön, um wahr zu sein wäre, ist da beim Betrachter von Anfang an ein Unbehagen. Da stimmt etwas nicht in Hausners durchinszeniertem Setting, und dieser Verdacht bestätigt sich, als sich die blutroten Blüten plötzlich öffnen und – Pfft! – Pollenwölkchen von sich stäuben. Am nächsten Morgen ist die blaue Kultur des Kollegenprojekts eingegangen, ein Sieg der Flammenfarbigen über die Ultramarinen.

Diese Farbenlehre bleibt nicht die einzige, die die Wissenschaftler ziehen müssen, der genmanipulierte Little Joe, so gezüchtet, dass er seine Vermehrungsfähigkeit verloren hat, beeinflusst mit seinem Blütenstaub, wer diesen einatmet. Alices Mitarbeiter, ihr Sohn, da sie unerlaubt eine Pflanze mit nach Hause nimmt, sogar der Hund einer konkurrierenden Studienleiterin verändern sich. Die Natur wird ihren Weg finden, sagt diese Bella sibyllinisch über Little Joes Überlebenstrieb – oder ist dieses Treiben Jessica Hausners irreführende Finte, die Pollen eine psychologische Projektion auf … wen oder was?

Sehr subtil baut Hausner diesen Zweifel als zentrales Element ihres Films auf, die Handlung verschwimmt in einer Vagheit, in Vermutungen und Verdächtigungen, die bis um Schluss keine Schlüsse zulassen. Die Welt, die die Filmemacherin und ihr Stab, die Kostüme wie stets von Schwester Tanja Hausner, dafür konzipiert haben, ist irritierend, die Ästhetik radikal abstrakt, die Atmosphäre akademisch abgeklärt. Die Farben sind Pastell, mint, rosé oder weiß, kühl und steril wie die Charaktere, die in einer Weise ruhig und gefasst reagieren, wie es den Geschehnissen kaum entspricht. Nur ab und an setzt Rot ein Signal, mit Handschuhen, Schuhen, einem Hundeball, dem ikonografischen Pilz von Alices Frisur.

Die Kameras im Gewächshaus haben seltsame Geschehnisse aufgezeichnet: David Wilmot, Phénix Brossard, Emily Beecham und Ben Whishaw. Bild: © coop99 filmproduktion, The Bureau, Essential Films

Ist der immer aufsässiger werdende Joe nur pubertär oder ein Pollen-Zombie? Der großartig agierende Kit Connor und Emily Beecham. Bild: © coop99 filmproduktion, The Bureau, Essential Films

Die Musik stammt vom japanischen Komponisten Teiji Ito, elektronische Soundscapes zwischen Kabuki und Hundekläffen, die die Empfindungen ins Unheimliche drehen und die mal vorwärts schleichende, mal seitlich driftende Erzählweise des Films vorgeben. Als wär‘s Teil dieser verschrobenen Tonlage, dehnt auch Martin Gschlacht die Grenzen der Wahrnehmung aus. Mit scharf choreographierten Kamerafahrten fertigt Gschlacht einen subjektiven, heißt: nie zu viel enthüllenden Sichtrahmen für die Zuschauer.

Und erzeugt so Unsicherheit darüber, was da im Verborgenen wächst. Die Frage ist nicht nur, was dahinter-, sondern wo man eigentlich steckt, und das ständige Geräusch grell-surrenden Lichts gibt darauf Antwort: in der Gewächshaushölle. Alldieweil mutieren die Menschen munter weiter. Großartig spielt der 15-jährige Kit Connor, zuletzt als jugendlicher Elton John in „Rocketman“ zu sehen, Alices Sohn, den Original-Joe. Wie der eben noch Bub sich nun brutal in seiner Beherrschtheit präsentiert, das ist tatsächlich gespenstisch.

Um nichts weniger spooky ist Schulfreundin Selma, Jessie Mae Alonzo als Joes Teenie-Liebe, die Little Joes Geruch sexy findet, und wenn die beiden Alice eröffnen, sie gehörten jetzt zur Gemeinschaft der Glücklichen, weiß man nicht – pubertärer Schock-Joke oder doch Gemütszombie? Little Joes Vorstellung von Zufriedenheit ist nämlich Gefühllosigkeit, das große Begehr der reproduktionsunfähigen Pflanze offenbar, die von ihr Infizierten zu ihren Beschützern zu modifizieren. Der erste Bestäubte, der sich derart gebärdet, ist Ben Whishaw als Alices Projektpartner Chris, auch Laborassistent Ric, Phénix Brossard, wird immer sinistrer, schließlich der Chef, David Wilmot als Karl. Der Vasallendienst der Männer erweckt zuerst Bellas Misstrauen, die deren sonderbares Verhalten als durch die Pollen ausgelöste Psychose enttarnen will.

Doch als endlich auch Alices Instinkte geweckt scheinen, beginnt man angestachelt von den Hausner’schen Zweideutigkeiten schon wieder an den eigenen zu zweifeln. Bella nämlich, die Kerry Fox formidabel – und von fahrig bis verloren changierend – gestaltet, so ist zu erfahren, war einige Jahre in der Psychiatrie. Wegen Burnout und Depressionen und nach einem Suizidversuch. Und auch Alice geht in die Psychotherapie … Wie die Glashausflora die Figuren, so gängelt Jessica Hausner mit ihrer Feinbeobachtung von Veränderungen das Kinopublikum, indem sie es veranlasst, die Integrität ihrer Charaktere permanent infrage zu stellen. Hausners Pollenalarm ist ein Virus, der seine Spur bis ins Zuschauerhirn zieht. Dabei ist der Filmemacherin durchaus ironisch dargebotenes Anliegen nicht nur die Diskussion um nicht-bräunende Äpfel, käferresistente Erdäpfel oder trockentoleranten Reis, die Wissenschaft von den Genen ein weites Feld der Halbwahrheiten.

Hausner geht es vor allem um das Fremde im anderen und um das Fremde in einem selbst. Will man das Gegenüber wie das eigene Wesen immer gewohnt, nie unvertraut sehen? Trifft das auf Alices Blick auf den allmählich erwachsen werdenden Joe zu? Emily Beecham erweist sich als Idealbesetzung für die Alice. Selten hat jemand mit einer kompletten Klaviatur an Gefühlen so sparsam gehaushaltet, wie Beecham in dieser Rolle. Ob sie ihr Fleisch-und-Blut- oder ihr Pflanzen-Kind gegen Anfeindungen verteidigt, ob sie den Avancen von Whishaws Chris mit ausreichend Distanz begegnet, diese Frau ist seltsam schaumgebremst. Wie eine Bipolare unter dem Einfluss von Psychopharmaka schlafwandelt sie durch Hausners Hightech-Tableau.

Die emotionale Doppelbödigkeit ihrer Protagonistin spiegelt die Regisseurin raffiniert von Alices Berufs- aufs Privatleben. Der Zwiespalt im Zuschauer ist gesät, wird einem doch klar, dass Alice als Mutter von zweien sich für eins entscheiden wird, also entweder ihrem schlechten Gewissen gegenüber dem vernachlässigten Joe oder ihrem Wunsch nach Selbstverwirklichung durch die Arbeit an Little Joe nachgeben wird. Frei nach Feminismus fügt Hausner auch noch dieses Motiv ein. Wie es in Alice diesbezüglich gärt, lässt sich diskret dosiert in Beechams Gesicht ablesen. Und dann schlägt „Little Joe“ eine überraschende, eine letzte Volte. Was seine Ambivalenz und seine Ambiguitäten zum Blütenhochstand treibt.

 

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  1. 10. 2019