Netflix: Neil Patrick Harris in „Uncoupled“

Juli 29, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …

Morgens ist die Welt noch in Ordnung: Neil Patrick Harris als Michael. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

In der Mitte der ersten Staffel, als sich ein vielversprechendes erstes Date wieder mal Richtung Katastrophe dreht, rastet Michael aus: „Ich sollte nicht hier sein“, schreit er seinen verdutzten One-Night-Stand an. „Ich will nichts über mit Botox behandelte Arschlöcher und PrEP* wissen, ich will auf meiner Couch sitzen und fernsehen, während mein Mann neben mir viel zu laut kaut. Das ist die Welt, die ich will.“

*Eine Safer-Sex-Methode, bei der HIV-Negative ein HIV-Medikament einnehmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen.

Tja, diese Welt ist in der neuen Netflix-Serie „Uncoupled“, deren erste acht Folgen ab heute zu streamen sind, vorläufig mal untergegangen. „How I Met Your Mother“-„Barney“ Neil Patrick Harris, privat seit 2004 mit Ehemann und Starkoch David Burtka liiert und gemeinsam mit ihm Vater von Zwillingen, spielt Immobilienmakler für Betuchte Michael Lawson, der nach 17 Jahren trauter Zweisamkeit von Lebensmensch Colin, Tuc Watkins (auch zu sehen in „The Boys in the Band“, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43932), verlassen wird.

Worauf sich der beinah Fünfzigjährige nicht nur mit einer ihm fremden Einsamkeit, sondern auch mit einer sich gewandelt habenden Gay Community konfrontiert sieht, deren Zeichen er nicht mehr zu deuten vermag. Stichwort: Grindr App. „Uncoupled“-Schöpfer Jeffrey Richman und Darren Star, letzterer auch Erfinder von „Beverly Hills, 90210“, „Sex and the City“ und 2020 der Netflix-Serie „Emily in Paris“, haben für Hauptdarsteller Harris die probaten Mittel zur Hand – selbstironischen Humor, gewitzte Dialoge, verschmitzte Jungenhaftigkeit -, um ihren Midlife-Crisis-Michael in allen Regenbogenfarben schillern zu lassen.

Klar, dass Neil Patrick Harris diese Übung supersympathisch gelingt. Michaels neuer Beziehungsstatus „Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …“ ist also die Bassline der Serie, ausgerechnet bei der für ihn arrangierten Überraschungsparty gibt Geburtstagskind Colin bekannt, dass er aus der gemeinsamen Wohnung im mondänen Manhattan-Viertel Gramercy schon ausgezogen ist. Harris überspielt Michaels Schock mit ergreifender Zurückhaltung. Es ist die Art von glamourösem, fotogenem Hochglanzleid, Tiffany-gerahmte Bilder, ecrufarbenes Wildledersofa mit keinem Kapritzpölsterchen fehl am Platz, romantische Privatterrasse, die schon Carrie Bradshaws Mr.-Big-Tränen umflorte.

Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Busenfreund Stanley: Brooks Ashmanskas. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Dickpic! Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

One-Night-Stand: Gilles Marini. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Bei Michael singt dazu Sam Smith, Harris und Burtka sind über ihre Freundschaft mit Elton John und David Furnish gut mit der Musikszene vernetzt, doch trotz dieses Wissens haut’s einen aus den Schuhen, wenn gleich in Episode eins die Masterminds des Musical „Hairspray“ Marc Shaiman und Scott Wittman, die beiden seit mehr als 40 Jahren berufliche wie private Partner, ihren Hit „Welcome to the ’60s“ für Michael in ein „Welcome to your 50s“ neuinterpretieren. Da fragt man sich, was an Cameo noch kommen mag, und ob auch Neil Patrick Harris sein Gesangs- und Tanztalent wird austoben dürfen.

Abseits des häuslichen Elends hoppt Michael hochprofessionell von Event zu Party zu Soiree. Dabei begleiten ihn drei BFF: Emerson Brooks als arrogant von seinem Umfeld amüsierter TV-Wettermann Billy, Brooks Ashmanskas als Galerist Stanley, dem Billy bescheinigt „ein großartiger Kunstkenner, aber ein lausiger Schwuler“ zu sein, worauf der – Retourkutsche – Billys jüngsten Lover als dessen „Kindsbraut“ begrüßt, und last, but noch least: die großartige Tisha Campbell als Michaels Geschäftspartnerin Suzanne.

Mit Stanley und Emerson Brooks als Billy. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Tisha Campbell als Geschäftspartnerin Suzanne. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Die nervige Kundin: Marcia Gay Harden als Claire. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

So retro: Billy, Michael und Stanley in der Roller Skates Disco. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Diese, ebenfalls auf Bräutigamschau, bringt die weibliche Variante ins Mitt-irgendwas-Liebesspiel ein und damit das Thema Bodyshaming: „Letzte Nacht“, lässt sie Michael lapidar wissen, „hatte ich einen, der mir sagte, mit fünf Kilo weniger wäre ich attraktiv. Ich durfte trotzdem auf seinem Gesicht sitzen.“ Bleibt als überkandidelt kandierte Kirsche auf diesem komödiantischen Cupcake Marcia Gay Harden – als nervige Kundin Claire ein Running Gag, die den Immobilienporno im 5000-m2 Penthouse und ergo den Tenor der Serie auf den Punkt bringt: „Ich fühle mich wie in einem dieser 1930er-Filme, in denen draußen die Weltwirtschaftskrise stattfindet, aber hier oben gibt es nur Fred Astaire und Cocktails und Tanzmusik.“

„Uncoupled“ kann man als Eskapismus in ein keimfreies New York voll schöner Menschen ohne Existenzsorgen kritisieren oder liebgewinnen (hier: zweiteres). Die Serie ist in erster Linie Comfort Binge für ein Publikum, das sich in ähnlichen Verhältnissen wie deren Figuren aufhält, zu alt, um hip zu sein, aber zu jung, als dass sie das nicht mit allen Mitteln bekämpfen wollten. Michael sehnt sich nach Dr. Ruths Aufklärungsunterricht wie hierzulande vielleicht nach Erika Berger. Er vermisst Radiowecker. Und – eine der gelungensten Satire-Szenen – der Generation-X-Mann knurrt einen Millennial an, der noch nie etwas vom AIDS Memorial Quilt gehört hat:

„Wir haben für euch Opfer gebracht. Das heißt: Ich nicht. Aber ich habe ,Angels in America‘ gesehen!“ (Rezension einer Produktion der NOW: www.mottingers-meinung.at/?p=34820). Worauf der Jüngere Michael mit der Bemerkung, „eine verbitterte alte Queen“ zu sein einfach stehenlässt. „Uncoupled“ funktioniert in vielerlei Hinsicht hervorragend. Die Frage, welche Zahl an Fröschen man küssen muss, um zu einem Prinzen, einer Prinzessin zu kommen, bewegt wohl jede und jeden, der sich ein bisschen Glück, Liebe und Verständnis wünscht. Hier wird davon gutgelaunt und in einer Tour de Luxe erzählt. Möge einem nichts Schlimmeres passieren, während man auf Staffel zwei wartet …

Trailer: www.youtube.com/watch?v=KMT4pVK-uFo           www.youtube.com/watch?v=NZEwlyPbTt4           www.netflix.com

  1. 7. 2022

Volksoper: Kiss me, Kate

September 4, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Shakespeare wie er swingt und lacht

Peter Lesiak, Juliette Khalil, Martin Bermoser, Ursula Pfitzner, Andreas Lichtenberger, Wolfgang Gratschmaier, Oliver Liebl und Sulie Girardi. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

„Premierenfieber ist ein Gefühl“, das kann man dieser Tage laut sagen, scharren doch sowohl Künstlerinnen und Künstler als auch ihr Publikum in den Startlöchern zur neuen Saison. Endlich wieder Theater! Und die Volksoper begann dieses vor der ersten Premiere, „Sweet Charity“ am 13. September, mit der Wiederaufnahme ihres Klassikers „Kiss me, Kate“ in der schnittigen Inszenierung von Bernd Mottl aus dem Jahr 2012 – und mit allerhand Rollendebütanten.

Shakespeare wie er swingt und lacht, möchte man den Abend übertiteln, auch wenn Mezzosopranistin Sulie Girardi als Garderobiere Hattie das „Premierenfieber“ einmal mehr in wundersam schönen Operntönen erklingen lässt, und damit das Screwball-Musical in Gang setzt, eine Aufführung, die rundum ausschließlich Erfreuliches zu bieten hat. Fred-Graham-Urgestein Andreas Lichtenberger duelliert sich diesmal mit Ursula Pfitzner als Lilli Vanessi, die beiden Rosenkrieger par excellence.

Und wenn Lilli ihren Quasi-Verlobten Harrison Howell zu Hilfe ruft, der aber nicht kann, weil’s in Baltimore #blacklivesmatter-Unruhen gibt, weshalb der Präsident das nunmehrige Notstandsgebiet als Sicherheitsrisiko für Leib und Leben einstuft, dann ist dieses Käthchen definitiv im Jahr 2020 angekommen. Von Newcomern bis alten Hasen ist diese Produktion gesanglich und schauspielerisch vom Feinsten, Dirigent Guido Mancusi hat das richtige Händchen für die Cole-Porter-Hits, die Choreografie ist schwungvoll, der Volksopernchor sowieso.

Ursula Pfitzner und Andreas Lichtenberger. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Ursula Pfitzner. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Ursula Pfitzner und Andreas Lichtenberger. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Besagter Fred Graham also ist Produzent und Regisseur eines „Der Widerspenstigen Zähmung“-Projekts, in dem er die Rolle des Petruchio mit sich selbst besetzte, für die Rolle der Kate aber seine Ex-Frau Lilly engagierte. Obwohl es zwischen ihnen nach wie vor knistert, sind die beiden stückkonform auf Krawall gebürstet, Liebe und Hiebe auf und hinter der Bühne – das ergibt eine tollkühne Parodie aufs Showbusiness, großartig, wenn Fred bedauert, eine „Musicalhupfdohle“ für einen Shakespearedarsteller gehalten zu haben, und Bernd Mottl erweiterte den Spaß um eine Schmierentheater-Satire, in der statt des britischen Barden das Chaos herrscht.

Freds kreischbuntes Bauklötzchen-Bühnenbild, das verzweifelt italienische Renaissance imitiert, und die grellen Kostüme mit der unübersehbaren Herrenausstattung verdeutlichen, dass hier nicht die erste Liga spielt – siehe der mittelschwer überkandidelte Fred Graham, der selbsternannt „ernsthafte Mime“, den Andreas Lichtenberger zu Outrage-Höchstleistungen bringt.

Wo ein Star, da ein Sternchen, Juliette Khalil gefällt als Freds frech-frivoles Nachtclubliebchen Lois Lane, die er als Bianca einsetzt, die ihrerseits aber mit dem Bill Calhoun aka Lucentio des Peter Lesiak kokettiert. Was sie zwar prinzipiell mit jedem tut. Ursula Pfitzners brillant bissiges „Nur kein Mann“ konterkarieren Khalil und Lesiak mit einem temperamentvollen „Aber treu bin ich nur dir Schatz auf meine Weise“ – und apropos Bill Calhoun: Da der es geschafft hat, den Schuldschein für seine Spielschulden als Fred Graham zu unterschreiben, erwarten diesen bald zwei zwielichtige Gestalten in der Garderobe.

Christian Graf, Andreas Lichtenberger und Jakob Semotan. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Martin Bermoser mit Ensemble und Wiener Staatsballett. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Wolfgang Gratschmaier, Juliette Khalil, Sulie Girardi und Martin Bermoser. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Jeffrey Treganza, Juliette Khalil, Peter Lesiak und Oliver Liebl. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Christian Graf und Jakob Semotan erstmals als Ganovenpaar mit schönstem Jargon, das die Vanessi zwecks Füllen der Theaterkasse daran hindern muss, die Show zu verlassen, was die beiden unter großartigen Kapriolen als „Diener“ auf die Bühne treibt, worauf sie – „Schlag nach bei Shakespeare“, einmal Theaterblut geleckt, nicht mehr zu bremsen sind. Als Laurel und Hardy der Volksoper fliegen ihnen die Herzen der Zuschauer nur so zu, dies deutlich zu merken am Szenen- wie Schlussapplaus. Auch ihnen ist mit dem „Nicht die Waffe tötet Menschen …“-Zitat Tagesaktuelles in den Mund gelegt.

Martin Bermoser singt und tanzt als Garderobier Paul ein sehr laszives „Viel zu heiß“. Thomas Sigwald ist nicht wie weiland Kurt Schreibmayer ein würdig-eleganter Harrison Howell, sondern hat als Geschäftsmann mit bester Vernetzung zum Weißen Haus etwas Mafiöses an sich. Wolfgang Gratschmaiers Harry Trevor muss sich als Baptista herrlich komisch mit seinen beiden ungleichen Töchtern plagen. Oliver Liebl und Jeffrey Treganza als Bianca-Verehrer Gremio und Hortensio sowie Georg Wacks als überforderter Inspizient Ralph runden den fabelhaften Cast ab.

Bernd Mottls „Kiss me, Kate“ ist alles andere als ein Nostalgieabend, vielmehr von einer Rasanz und Souveränität, die auch diese 48. Vorstellung hell strahlen lässt. In der Zähmung der Widerspenstigen folgt er dem Weg den Elizabeth Taylor und Richard Burton vorbereitet haben, Lillys Kate ironisiert ihre Unterwerfung auf schmerzhafte Weise, indem sie dem Macho mit ihren High Heels zu Boden ringt … Dafür viel Jubel und Beifallklatschen!

www.volksoper.at

  1. 9. 2020

Volksoper: Brigadoon

Dezember 2, 2019 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Schottisches Märchen von schönster Herzenswärme

Eine Sternstunde für das Wiener Staatsballett, das Orchester und Chor und Jugendchor der Volksoper Wien. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Keine Sorge, wenn die Sache, und davon ist auszugehen, so hervorragend läuft, wie vergangene Saison die konzertante Aufführung von „Porgy and Bess“, wird das Haus sicher bis Februar weitere Vorstellungen ansetzen. Der Vorschlag wäre rund um den Valentinstag, weil: da reingehen mit der Liebsten, und die ist hin und weg und auf ewig dein … Gestern hatte an der Volksoper der erste große Musicalerfolg

des genialen Duos Frederick Loewe und Alan Jay Lerner Premiere, „Brigadoon“, auf den bald die noch gigantischeren von „My Fair Lady“ oder „Gigi“ folgen sollten, halbszenisch und dies ist kaum zu glauben – als österreichische Erstaufführung. Ein Glück also, dass Direktor Robert Meyer die in den schottischen Highlands angesiedelte Liebesgeschichte nun für sich und damit auch fürs Publikum entdeckt hat, strotzt doch das wundersame Märchen nicht nur vor wunderbaren Melodien, sondern platzt auch vor Romantik aus allen Nähten.

Mit der gemäßer Herzenswärme gehen die Mitwirkenden an die Story heran, Dirigent Lorenz C. Aichner, der die Seinen mit Schwung und Sinn für Swing durch Loewes Evergreens leitet, Regisseur Rudolf Klaban, Choreograf Florian Hurler und das Wiener Staatsballett, die mit Verve die Bezeichnung des Abends als halbszenisch ad absurdum führen. Klaban holt mit Hintergrundbildern reetgedecktes Dorfidyll, purpurfarbenes Heidekraut, Castle-Ruinen und bemooste Wälder auf die Bühne, davor das Orchester und der wie stets von Thomas Böttcher fabelhaft vorbereitete Chor, davor die Solisten und vier Tanzpaare, Lassies und Lads in Scots-Tracht samt Tartan.

Jeffrey Treganza als Jeff Douglas und Jessica Aszodi als Meg Brockie. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Oliver Liebl als sinistrer Harry Beaton beim Sword Dance. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Ben Connor als Tommy Albright und Rebecca Nelsen als Fiona MacLaren. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Wobei bei den schnellen, kraftvoll gesprungenen Reels und Stately Steps kein Zweifel darüber bleibt, was die Herren unterm Kilt tragen. Auf 581 Vorstellungen am Broadway, auf 685 in London West End hat es „Brigadoon“ sofort in Serie gebracht, bekannt ist die Vincente-Minnelli-Verfilmung mit Gene Kelly, der 1954 den New Yorker Touristen Tommy Albright verkörperte, der sich mit seinem Freund Jeff Douglas im schottischen Middle of Nowhere verirrt – und auf den im Wortsinn zauberhaften Ort stößt, der, weil nur alle hundert Jahre für einen Tag zum Leben erweckt, auf keiner Landkarte verzeichnet ist.

Der österreich-stämmige Loewe hatte sich an die alte Sage „Germelshausen“ von Friedrich Gerstäcker erinnert, Lerner die verwunschene Siedlung Zweiter-Weltkriegs-bedingt in den Norden der britischen Inseln verlegt und sie nach den Burns-Balladen über die Brig o‘ Doon benannt. An der Volksoper singt und spielt der australische Bariton Ben Connor den Tommy, überhaupt weist der in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln und Texten von Erzähler und Barkeeper Christoph Wagner-Trenkwitz gestaltete Abend eine hohe Zahl an Native Speakers auf, so etwa die texanische Sopranistin Rebecca Nelson als jene Fiona MacLaren, in die sich Tommy selbstverständlich unsterblich verliebt, und den wie sie aus den USA stammenden Tenor Jeffrey Treganza als Jeff.

Die australische Mezzosopranistin Jessica Aszodi, die als temperamentvoll-verrückte Meg Brockie am armen Jeff ihren Hang zum Männerfang austobt, gibt mit der Rolle ebenso ihr Hausdebüt, wie der britische Tenor Peter Kirk als Charlie Dalrymple, Fionas jüngerer Schwester Jean MacLarens Verlobter. Das neue Ensemblemitglied Lauren Urquhart ist als Tommys zickige Upper-Class-Verlobte Jane Ashton zu erleben; ihr schottischer Großvater Doug Urquhart hat mit der Truppe die rrrichtige Aussprache trainiert. Und apropos, rrrichtig: Schon im Foyer erwarten die Dudelsack-Spielerinnen Irmgard Foglar und Saskia Konz und Trommlerin Julia Nusko die Zuschauer, um sie mit ihren Great Highland Bagpipes und der Scottish Snare Drum in die passende Stimmung zu bringen; später werden die drei Musikerinnen den Funeral Dance von „Maggie“ Mila Schmidt begleiten.

Lauren Urquhart als Jane Ashton, Erzähler Christoph Wagner-Trenkwitz und Ben Connor als Tommy Albright. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Rebecca Nelsen als Fiona MacLaren, Jessica Aszodi als Meg Brockie und der Jugendchor des Hauses. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Peter Kirk hat als Bräutigam Charlie Dalrymple den schönsten Love Song des ganzen Musicals zu singen. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Maximilian Klakow, Jessica Aszod, Vernon Jerry Rosen, Jakob Semotan, Rebecca Nelsen und Juliette Khalil. Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien

Und apropos, Dance: Auch Juliette Khalil als Jean, Jakob Semotan als Stuart Cameron oder Maximilian Klakow als Sandy Dean wirbeln mit den Profis Round-the-Room, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätten, allen voran Oliver Liebl, der als sinistrer Harry Beaton durch den Sword Dance turnt, als wäre er für derart Folklore zur Welt gekommen. Punkto Performance bleibt kein Wunsch offen und kein Auge trocken, Ben Connor und Rebecca Nelsen singen gemeinsam hinreißend den Riesenhit „Almost Like Being in Love“ und „The Heather on the Hill“, Peter Kirk ganz großartig den Ohrwurm „I’ll Go Home with Bonnie Jean” und den schönsten Love Song des Musicals „Come to Me, Bend to Me”.

Jessica Aszodi macht aus „The Love of My Life“ und „My Mother’s Wedding Day“ zwei gesangliche Kabinett- stücke, ein tödlicher Unfall passiert, Tommy und Jeff kehren zurück an die Ostküste, Tommy natürlich tod- unglücklich – und die Frage ist, ob die Liebe Raum und Zeit überwinden kann, die zu beantworten das Ensemble dieser rundum gelungenen Produktion am Mittwoch wieder zusammenkommt. „Brigadoon“ an der Volksoper, das ist sehr viel Sentiment, ein wenig Schottland-Satire und lyrische Stimmungsbilder, noch mehr fantastische Songs und die überbordende Spielfreude aller Beteiligten. In einem Satz: Ein Highland-Ausflug, der sich lohnt.

Einführung: www.youtube.com/watch?v=84WDhdOgjSU           www.youtube.com/watch?v=DjxKsMi4D5E           Probeneinblicke: www.youtube.com/watch?v=yum73XNvZ9E           www.volksoper.at

  1. 12. 2019

Jeffrey Eugenides: Das große Experiment

November 25, 2018 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Keine Angst vor Körperflüssigkeiten

„Das große Experiment“, so heißt der Kleinverlag eines Pornomillionärs, in dem Lektor Kendall sein finanziell unbefriedigendes Dasein fristet, gerade dabei, dies das Titelzitat, Alexis de Tocquevilles bahnbrechende Publikation „Über die Demokratie in Amerika“ zu einer konsumierbaren Kurzfassung zu verdichten. Wegen der Knausrigkeit des Chefs, der sich weigert, ihm die Krankenversicherung zu bezahlen, werden Kendall und sein Kollege Buchhalter zu Betrügern. Doch just in dem Moment, in dem sie beginnen, in großem Stil Geld abzuzwacken, erweist sich eben jener Jimmy unerwartet als so ungeheuer großzügig, und auch als intelligenter und informierter als angenommen, dass Kendall plötzlich tief in der Pasche sitzt …

„Das große Experiment“ ist eine von zehn Erzählungen, die im gleichnamigen Buch zur ersten Kurzgeschichtensammlung von Jeffrey Eugenides zusammengefasst sind. Sie stammen aus 30 Jahren Autorschaft, umspannen also ein ganzes Schriftstellerleben, das mit dem Pulitzer-Preis für „Middlesex“ bis dato seinen Höhepunkt hatte, und was sich sagen lässt, ist: der Epiker ist auch auf der Kurzstrecke ein Gewinner.

Die Themen, Liebe oder was dafür gehalten wird, Ehe und ihre Probleme, Identitätskrise und Geschlechterkrieg, sind Eugenides eigen. Das geheimnisvolle Vom-Mädchen-zur-Frau-Werden, die erotische Färbung gleichgeschlechtlicher Freundschaften, die Verlockung Freitod, das ist beispielsweise aus den „Selbstmord-Schwestern“ bekannt, und kommt hier, in der Erzählung „Launenhafte Gärten“ aus dem Jahr 1988, als sozusagen Subtext vor. Während die Handlung von zwei ältlichen Junggesellen vorangetrieben wird. „Das Orakel der Vulva“ aus dem Jahr 1999, in der ein Sexualforscher im Dschungel Guatemalas über soziales und biologisches Geschlecht bei einem Eingeborenenstamm berichtet, legt die Fährte direkt zur zweigeschlechtlichen Romanfigur Calliope/Cal Stephanides.

Eugenides‘ Short Stories sind virtuos komponiert, zutiefst anrührend und, da ja „nur“ als Schlaglichter auf menschliche Schicksale gerichtet, nahezu verschwenderisch detailverliebt. Da benehmen sich Söhne, die die demente Mutter ins Heim abschieben, so verdächtig unauffällig wie Geheimagenten. Da wird ein mit schmutzigen Socken und Slips zugemülltes Schlafzimmer zur Höhle zweier Bären. Da erfüllt sich in „Die Bratenspritze“ eine bis dato mehr karriere- als männergeile Forty-Something mit ebendieser den Babywunsch. Diese 30-Seiten-Geschichte wäre gut für einen ganzen Roman, mit skurril-satirischer Zuspitzung dank eines Losers namens Wally Mars, dessen besondere Merkmale Knubbelnase und Glubschaugen rätselhafter Weise beim Neugeborenen erkennbar sein werden … Vor Körperflüssigkeiten aller Art darf man bei diesem Autor keine Angst haben.

Bild: pixabay.com

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Eugenides ist ein begnadeter Stilist, er kann’s als Humorist, kann Sarkasmus, aber auch die komplette Skala der großen Gefühle bespielen. Die Motive, die seine Ausführungen als Klammer zusammenhalten, siehe Tocqueville, zeigen eine USA in anhaltender Krise. Samt Bankencrash und dem Ins-Verderben-Reißen der kleinen Sparer, dem sich von Wahl zu Wahl neu vollziehenden politischen Wertewandel, und der Frage, wie die Generationen X, Y, Z auf die zunehmend prekären Verhältnisse überhaupt noch reagieren können. In einer verzweifelt melancholischen Geschichte über einen maroden Motelbesitzer bleibt diese, so wie das Ende, offen. Das macht Eugenides immer wieder, nichts auserzählen, sondern das Ganze im Leser atmosphärisch nachwirken lassen.

„Such den Bösewicht“ heißt die persönlich als beste empfundene Erzählung. Darin sitzt ein Ehemann im Gebüsch vor seinem Haus und beobachtet seine Familie. Nach und nach deckt dieses „Ich“ auf, dass es polizeilich von daheim weggewiesen wurde. Weil der Mann meist alkoholisiert und dann ein Gewalttäter ist, weil ein Streit, nachdem seine Sexaffäre mit der Babysitterin aufgeflogen war, eskalierte. Oder ist das alles doch nicht so passiert? Wie dieses Ich sich selbst darstellt und wie Frau und Kinder ergo ihm unverständlich panisch auf sein Verhalten reagieren, diese Beschreibung ist große Kunst. Auch darüber hätte man gern mehr erfahren. Aber, wer weiß?, vielleicht kommt ja noch ein Bösewicht-Buch.

Über den Autor: Jeffrey Eugenides, geboren 1960 in Detroit in Michigan, bekam 2003 für seinen weltweit gefeierten Roman „Middlesex“ den Pulitzer-Preis und den Welt-Literaturpreis verliehen. Sein erster Roman „Die Selbstmord-Schwestern“ wurde 1999 von Sofia Coppola verfilmt, und war vergangenes Jahr bei den Wiener Festwochen in einer Theaterfassung zu sehen (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=29022). Außerdem veröffentlichte er die Anthologie „Der Spatz meiner Herrin ist tot. Große Liebesgeschichten der Weltliteratur“ und den Roman „Die Liebeshandlung“, für den er den Prix Fitzgerald und den Madame Figaro Literary Prize erhielt. Er lehrt als Lewis and Loretta Glucksman Professor Amerikanische Literatur an der New York University.

Rowohlt, Jeffrey Eugenides: „Das große Experiment“, Erzählungen, 336 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Gregor Hens und anderen.

www.facebook.com/jeffreyeugenidesnovelist

www.rowohlt.de

  1. 11. 2018

Wiener Festwochen: Die Selbstmord-Schwestern

Juni 2, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Geduldsspiel mit Mangagirls

Bild: Judith Buss

SMI²LE heißt das Prinzip, in dem Timothy Leary die weitere Entwicklung der Menschheit sah. Viel mehr kann man bei Susanne Kennedys Debüt bei den Wiener Festwochen im Theater Akzent auch nicht tun. Lächeln und aussitzen. Ihre Überprüfung, ab welchem Zeitpunkt Installation die Grenzen des Theaters sprengt, ist weniger – wie angekündigt – „herausfordernd“, sondern entpuppt sich auf die Dauer als Gedulds-Spiel. In langen 90 Minuten präsentiert Kennedy, was in ihrer Hand von Jeffrey Eugenides‘ Roman „Die Selbstmord-Schwestern / The Virgin Suicides“ übriggeblieben ist.

Dazu mixt sie munter Leary und seine Entwicklungstheorie der acht Bewusstseinsstufen – sie verwendet den US-Psychologen, der einst den Gebrauch von psychedelischen Drogen als Freiflughilfe propagierte, in Form einer glatzköpfigen Avatarin als Tripsitter, und das Bardo Thödröl, das tibetische Totenbuch, in dem die Erlebnisse der menschlichen Seele beim Sterben geschildert werden und das Verstorbenen als Führer zum Licht der Erlösung / zur Wiedergeburt dienen soll.

Gestorben wird bei Eugenides nämlich eine Menge. Fünf Schwestern begehen nacheinander Selbstmord, die Gründe dafür sind unklar, diffus scheint es mit der Verweigerung des letzten Abschnitts der Adoleszenz zu tun zu haben. Nachbarsjungen beobachten begierig die Mädchen, einmal richtig fummeln dürfen!, und sie werden es sein, die als erwachsene Männer erzählen und immer noch spekulieren, warum die kleinstädtische Lisbon-Nachkommenschaft samt und sonders den Freitod wählte.

Dieses Männermotiv fließt in Kennedys Arbeit ebenso ein, wie der beschriebene Umstand, dass die Jungen einen veritablen Schrein für die Mädchen errichteten, in dem sie aus dem Müll gefischte Devotionalien deponierten – von Haarbürsten bis Tampons. Was Kennedy und ihre Bühnenbildnerin Lena Newton zeigen ist ebendieser Schrein als Hightech-Verherrlichungsapparat. Auf x-en Monitoren blinkt und flimmert es, Youtube-Girlies, die ihre pubertären Lebensweisheiten zum Besten geben, Kirsten Dunst in Sofia Coppolas Selbstmord-Schwestern-Verfilmung, die Jungfrau Maria mit blutendem Herzen …, hinten ein nacktes Schneewittchen in gläsernem Sarg, in Vitrinen sind Donuts aufgespießt, stehen Coca-Cola-Flaschen, hurra, wir machen hier Popkultur.

Dazu passt die Aufmachung der Schauspieler Hassan Akkouch, Walter Hess, Christian Löber und Damian Rebgetz, die sich dem japanischen Cosplay-Trend folgend, als Mangamädchen verkleidet haben (Kostüme: Teresa Vergho). Einzig Figurentheatermacher Ingmar Thilo darf sich maskenlos als jüngste Lisbon-Tochter und erster Todesfall das graue Greisenhaar bürsten lassen. Und weil bei Kennedy Verfremdung bis zur Unverständlichkeit Trumpf ist, ist der Text vorab eingesprochen, Voice over: Çiğdem Teke. Wer an dieser kitschigen Illusionsmaschine etwas deuten möchte, hat von vorne herein verloren.

Was von dieser Aufführung (?) im Gedächtnis bleibt, ist nicht viel. Kennedy, die seit Beginn ihrer Regisseurinnen-Tätigkeit an der Reduktion von Handlung und Aktion arbeitet, hat’s diesmal auf die Spitze getrieben, hat ihre Arbeit hermetisch abgeriegelt. Was anfangs noch spannend und schön anzuschauen ist, wird mit der Zeit öde, der Erkenntnisgewinn – und ging’s Leary-Guru nicht schließlich darum? – tendiert gegen Null, die vielen auch im Programmzettel herbeizitierten Reverenzen verpuffen ins Nichts. „You may feel confused and bewildered“ / „Sie könnten sich jetzt verwirrt und perplex fühlen“, sagt Learys Stimme kurz vor dem Ende. Das Wiener Publikum hielt’s höflich aus und applaudierte kurz, bevor es schnell zum Ausgang drängte.

www.festwochen.at

  1. 6. 2018