Corsage: Vicky Krieps als verbitterte Kaiserin Elisabeth. Ein Film von Marie Kreutzer

Juli 9, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Gefangen im Korsett aus Rollenbildern und Ritualen

Die Kaiserin raucht Kette: Vicky Krieps zeichnet das Bild einer um ihre Backfisch-Prinzessinnen-Träume gebrachte Elisabeth von 40 Jahren. Bild: © Alamode Film

In ihrer Badewanne, den Kopf unter Wasser, hält sie die Luft an, bis den beiden Kammerzofen angst und bang wird. Abtauchen, das kann sie gut, das hat Wien sie gelehrt. Ebenso wie auf Knopfdruck in Ohnmacht zu fallen: Nach hinten wegkippen, bisschen seufzen, die Augen verdrehen, so macht sie’s später beim Flirt mit ihrem Cousin Ludwig II. vor. Heute noch wird sie diese Strategie des zivilen Ungehorsams anwenden. Es ist das Jahr 1877, Heiliger Abend in der Hofburg,

und ergo für die Hofgesellschaft ein höchst willkommener Anlass, Elisabeth bei einem Festbankett anlässlich ihres 40. Geburtstags hochleben zu lassen. Allein, die Kaiserin von Österreich-Ungarn ist so gar nicht in Feierlaune. Mit 40 ist sie im späten 19. Jahrhundert eine alte Frau, und jedes der unzähligen Porträtgemälde im Palast erinnert sie an die Zahl der Jahre, die hinter ihr liegen.

Ihre natürliche Schönheit, die elfenhafte Figur und die ikonischen Flechtfrisuren, für die sie von Volk und Vaterland so verehrt wird, sind mittlerweile zum täglichen Überlebenskampf geworden. Die Angst vorm Älterwerden, vorm Bedeutungsverlust, vorm Schwinden ihrer Jugendlichkeit bekriegt Elisabeth mit Kälbersaft-Diätwahn und Sportsucht. Jedes ihrer beim dreistündigen Kämmen ausgegangenen Haare (bodenlang und geschätzt mehr als zwei Kilogramm schwer, „Ich bin die Sklavin meiner Haare“, ist ein bekanntes Elisabeth-Zitat) wird gesammelt und in einer Hutschachtel aufbewahrt.

Die Kettenraucherin und Hungerkünstlerin hat für ihre Ankleiderinnen nur einen morgendlichen Befehl: „Fester, fester!“ – und meint damit die Schnürung ihres Mieders. Das Schönheitsideal ist zugleich ein Panzer. Taillenumfang 45 Zentimeter, jedes Gramm mehr als 49,7 Kilo auf der Waage eine tiefe Kränkung, eine Mahnung an ihre Disziplinlosigkeit punkto Selbstkasteiung. Franz Joseph hat es seiner Frau beim Dinner für zwei deutlich mitgeteilt: „Halte dich raus aus der Politik, meine Aufgabe ist es, die Geschicke des Reichs zu lenken, deine Aufgabe ist es, mich zu repräsentieren. Dafür habe ich dich ausgebildet, dafür bist du da.“ Die Gesichtsschleier aus schwarzer Spitze, munkelte man weiland, trage die Anorektikerin, um ihre Hungerödeme zu verbergen.

Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer, bekannt unter anderem für „Was hat uns bloß so ruiniert“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=23103), verwendet sie für eine eigene Lösung. „Corsage“ heißt ihr Film über Ihre Kaiserliche Hoheit Grenzgängerin, und kein Biopic ist, was da am 7. Juli in den Kinos anläuft, sondern ein Spiel mit Stilbrüchen, vom sphärischen Soundtrack der französischen Sängerin Camille, „She Was“ gleichsam das Leitmotiv: https://www.youtube.com/watch?v=Z-YaTKXBNVY, bis zu schwarzweißen Filmaufnahmen, gedreht von Gyula Graf Andrássy, auf denen Elisabeth übermütig über eine Wiese tollt, beinah zwei Jahrzehnte vor den Brüdern Lumière.

Elisabeth-Darstellerin Vicky Krieps gewann für die Hauptrolle im Mai in Cannes/Sektion Un Certain Regard den Preis für die Beste Performance, der ganze Cast liest sich wie das Who‘s Who deutschsprachiger Film- und Theatergrößen: Florian Teichtmeister als Kaiser Franz Joseph, Katharina Lorenz als Hofdame und engste Vertraute Marie Festetics, Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy, Alma Hasun als Friseurin Fanny Feifalik – diese drei Elisabeths innerer Kreis,

Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II., Aaron Friesz als Sympathieträger Kronprinz Rudolf, Alexander Pschill als Hofmaler Georg Raab, Raphael von Bargen als Erster Obersthofmeister Hohenlohe-Schillingsfürst, Regina Fritsch als Gräfin Fürstenberg, Oliver Rosskopf als Kammerdiener Eugen, Marlene Hauser als Kammerzofe Fini, Stefan Puntigam als Majordomus Otto, David Oberkogler als Rudolfs Erzieher Latour von Thurmburg, Norman Hacker als Chefarzt Leidesdorf, Eva Spreizhofer als Marie Hohenlohe, Raphael Nicholas als Earl of Spencer sowie Kajetan Dick als Wiener Bürgermeister Cajetan Felder.

Gewichtskontrolle mit Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy. Bild: © Alamode Film

Tägliche Routine – mehrere Stunden Sport: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: ©Alamode Film

Mit den Haaren fallen geschätzt zwei Kilos: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: © Alamode Film

Engste Vertraute: Katharina Lorenz als Hofdame Marie Festetics (li.) mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Doch zurück zur Stillen Nacht, die Strophe „Schön soll sie bleiben“ wird grad gesungen, da wendet Sisi ihren Synkope-Schmäh an, wegkippen, seufzen, Augenverdrehen, so viel Macht bleibt der Machtlosen, sich einem ihr unlieben Umfeld zu entziehen. Es sind vielleicht folgende zwei Szenen, die Marie Kreutzers Film skizzieren. Die eine: Teichtmeisters Franz Joseph, der an der Türe klingeln muss, um in Elisabeths Gemächer vorgelassen zu werden, wo er erst einmal den berühmten Backenbart abnimmt, als säße er, nun da das Happy-Birthday-„Theater“ vorbei ist, in der Garderobe, in der Maske –

die beiden einander Aug‘ in Augenring gegenüber, ausgelaugt, abgehetzt, und ja, da ist noch was, „mon cœur“ nennt er sie, aber sie können’s nicht mehr (be-)greifen. Teichtmeister ist grandios als in Uniform erstarrter, doch innen drin spürbar sensibler Habsburger, „der erste Diener des Staates“, der Soldat, der über seine Völker wacht – und wer jemals des Kaisers karge Gemächer in Bad Ischl besichtigt hat, weiß, was das bedeutet. Heute würde man sagen: Ein Workaholik.

Die andere Szene: Beim Besuch in einer Heilanstalt für nervenkranke Frauen, etwas, das die empathische Elisabeth wie jenen in Feldlazaretten als ihre vornehmste Pflicht ansah, wird sie von Chefarzt Leidesdorf herumgeführt: tobende Kranke in Gitterbetten, fixierte Frauen, frierende in Eiswasserbädern, heulende, halbverbrühte in der gegenteiligen „Therapie“ … und in der Kaiserin Gesicht die Erkenntnis, wärst du nicht von Rang, du lägest auch hier. Doch auch ein goldener Käfig ist vergittert … Der Kontrast zu den mitgebrachten, üppig verzierten und nun hastig verteilten Törtchen könnte größer kaum sein.

In diesem Spannungsfeld von bewusster Provokation, für die Vicky Krieps der Etikette und den hofzeremoniellen Tableaux Vivants gern auch mal den Mittelfinger oder dem Leibarzt die Zunge zeigt, wenn er die durchschnittliche Lebenserwartung von „Frauen des Volkes“ bei ihr als erfüllt ansieht, zwischen draufgängerischer Exzentrik und depressiver Einsamkeit hält Kreutzer den von ihr angelegten Sisi-Charakter in der Schwebe. Die Possenhofener Posse ist passé. Nun ist sie ausrangiert, hat ausgedient als Vorzeige-Majestät. Franz Joseph flaniert derweil ungeniert mit seiner kindfraulichen Geliebten Anna Nahowski durch den Schönbrunner Schlosspark, alldieweil Elisabeth von allen Seiten für ihr Tun, ihr (Da-)Sein getadelt wird.

Von Rudolf, ihrer Schwester Marie, Königin beider Sizilien, ja sogar von ihrem letzten und jüngsten Kind Valerie: „Maman, ich geniere mich für dich.“ Sie sei für Vater ein Grund zur Sorge bescheidet sie die Tochter … „Hauptsache, wir hinterlassen ein hübsches Bild“, sagt Sisi zu einem Porträt ihrer dreijährig verstorbenen Tochter Sophie. Die Manipulation der Menschen, der Massen durch Bilder, ist hier eines der Hauptthemen …

Einbestellt zum Festbankett: Aaron Friesz als Kronprinz Rudolf, Vicky Krieps und Katharina Lorenz. Bild: © Alamode Film

Bereitmachen für den kaiserlichen Auftritt: Florian Teichtmeister als Franz Joseph mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vater-Sohn-Konflikt nicht zuletzt wegen Non-Kommunikation: Aaron Friesz und Florian Teichtmeister. Bild: © Alamode Film

Seelenverwandt: Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vor den Augen aller verschwindet die brüchig gewordene Elisabeth, diese Idealvorstellung einer Niemandin. Längst schon bereitet sie Marie Festetics als Double vor, eine Aufgabe, die in der Realität wegen größerer körperlicher Ähnlichkeit Fanny Feifalik übernahm, hier nun Lorenz‘ Festetics, die sich nach dem ersten Auftritt mit Gesichtsschleier ob der ihr viel zu engen Korsettschnürung in die Waschschüssel übergibt. „Sie werden sagen, dass ich zugenommen habe, und es wird ihnen gefallen haben“, kommentiert Elisabeth. Katharina Lorenz, das heißt: Marie Festetics spielt ihre Rolle mit dem abgehärmten Stoizismus einer Märtyrerin.

Es ist ein sprödes und schmerzliches Bild, das Kreutzer von der Kaiserin und ihrer Entourage zeichnet. Zwischen all deren violett-schwarzen Roben (Kostüme: Monika Buttinger) beleben die betörende Camille und Judith Kaufmanns düster-symbolhafte Kamerabilder sowie ein skurril-subtiler Humor (siehe Backenbart-Abnahme), der sich wie ein seidener Faden durch das Drehbuch zieht, den Film. Aber es ist die vom leibärztlich verschriebenen „Heilmittel“ Heroin berauschte Elisabeth, die einerseits ungeniert ausscherende und zugleich extrem kontrollierte Darbietung der Krieps, die alles zusammenhält.

Ihr Auftritt ist so kühn wie Kreutzers Film, der sich historischen Zwängen wie ins kollektive Gedächtnis eingeschriebenen Klischees in jeder Einstellung klug und mit Nachdruck zu entziehen weiß. Geschichtliche Unstimmigkeiten verteidigt Kreutzer mit Vehemenz. Für eingefleischte Elisabeth-AuskennerInnen hat die wie stets akribisch recherchierende Kreutzer aber weder auf die Anker-Schulter-Tätowierung noch auf die kandierten Veilchen vom Demel vergessen. Dabei istCorsage“ ein vieldeutiger Titel, der Körper, Geist und Seele miteinschließt. Eingeschnürt-Sein in der Epoche, der Gesellschaftsschicht, dem Geschlecht – der Corsage und wegen all dem dieser stete Mangel an Luft zum Atmen. „Fester, fester!“

In ihrer Sommerresidenz 1878 wird sich Sisi des symbolischen Drucks ihrer Frisuren entledigen, indem sie zur Schere greift – was bei Alma Hasuns Fanny Feifalik einen Nervenzusammenbruch auslöst. „Mein Lebenswerk ist zerstört“, heult sie, was Jeanne Werner als Ida Ferenczy lapidar mit „Blöde Gans!“ kommentiert. Sisi wird lose „Reformkleider“ à la Emilie Flöge und ihr nunmehr kinnkurzes Haar vom Wind zerzaust tragen. „As Tears Go By“ erklingt dazu ein Cover des Rolling-Stones-Songs: „It is the evening of the day …“ Marie Festetics hat längst den Anker in die Haut geritzt bekommen und Elisabeths Unterschrift geübt. Für Franzls Geliebte hat Sisi nur einen Rat: „Der Kaiser hat keine Zeit und ist ungeduldig. Empfangen Sie ihn bereits im Bett und ohne Mieder.“

Einen Luigi Lucheni braucht Marie Kreutzer nicht, an Elisabeths Ende steht Selbstermächtigung. Kreutzers Arbeit ist eine avantgardistisch-feministische Perspektive auf ein Frauenleben, ein scharfer Blick auf toxisch-männliche Strukturen, eine konsequent ins Zeitgemäße weitergedachte Erzählung der gereiften Elisabeth. Sich mit dieser modernen Sisi, etwas, das die tatsächliche Elisabeth zweifellos war, zu identifizieren, fällt leichter, als eine Verbindung zur Technicolor-Sissi zu finden, die in der filmischen Nachkriegs-Heile-Welt als nostalgischer Verdrängungsmechanismus perfekt funktionierte.

Den letzten Absatz für Marie Kreutzer: „Wäre es das alles Elisabeths exklusives Problem gewesen, hätte es mich nicht interessiert. Aber an Frauen werden auch heute noch viele der Erwartungen gestellt, mit denen sie zu kämpfen hatte. Es gilt nach wie vor als die wichtigste und wertvollste Eigenschaft einer Frau, schön zu sein. Daran hat die Geschichte, ja auch die Frauenbewegung und Emanzipation, nichts ändern können. Immer noch gelten Frauen als weniger wertvoll, wenn sie übergewichtig sind oder älter werden. Im Jahr 2022 müssen Frauen zwar noch viel mehr können und erfüllen, aber dabei bitte schön schlank und jung bleiben. Ab einem gewissen Alter kann frau es auch nicht mehr richtig machen – denn lässt sie ,etwas machen‘ wirft man ihr Eitelkeit vor, tut sie es nicht, werden ihre Falten kommentiert.“

mk2films.com/en/film/corsage           www.alamodefilm.de/kino/detail/corsage.html

7. 7. 2022

Kosmos Theater: Das große Heft

Dezember 4, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Selbsterziehungsziel ist die totale Entmenschung

Die Großmutter und die Zwillingsbrüder aka die Hexe und ihre Hundesöhne: Martina Rösler, Martin Hemmer und Jeanne Werner. Bild: Bettina Frenzel

Der Modergeruch, der sich beim Betreten des Spielraums in der Nase festsetzt, ist eine präzise Ortsangabe dieses Abends. Steigt er doch auf von einem alles überschüttenden Erdhügel, der gleich Schützen- graben gleich Gräberfeld gleich Niemandsgrenzland ist. Und weil Sara Ostertags Inszenierung funktioniert wie ein Negativfilm, lässt sich das Setting auch als Anti-Sandkasten beschreiben. „Wir spielen nie! Wir arbeiten, wir lernen“, versichern die Zwillinge in der Sache nachfragenden Erwachsenen.

Das Leben kein Kindertraum. Schon gar nicht für jene beiden Buben, die die ungarische Autorin Ágota Kristóf im Schweizer Exil als Protagonisten für ihren Roman „Das große Heft“ erdachte. Die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs, 1956, Volksaufstand, Sowjetarmee sind im Mehrfachsinn die Flucht-Punkte dieses Textes, die Nachbarn, die ebendiese dieser Tage freiwillig aufgeben, im Straßenkampf für ihre Freiheit. Im Wiener Kosmos Theater zeigt Regisseurin Ostertag nun eine Dramatisierung des Stoffs als österreichische Erstaufführung, als Koproduktion mit ihren makemake produktionen, die letzte Zusammenarbeit „Muttersprache Mameloschn“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27612) vergangenes Jahr mit dem Nestroy-Preis für die beste Off-Produktion ausgezeichnet.

Als Wir-Erzählerin tritt eingangs Schauspielerin Jeanne Werner auf. „Wer wir?“, wird klar, sobald sie Martina Rösler als ihren Bruder aus Nanna Neudecks Bühnenbild exhumiert. Nicht ein Wort wird die Choreografin und Tänzerin in den kommenden 90 Minuten sagen, umso beredter ihre Körpersprache sein, mit der sie die Stimmungen ihres und ihrer Widerparts wiedergeben wird. Nach und nach schälen sich die anderen verscharrten Darstellerinnen und Darsteller aus dem Staub, Zombie-Zeugen einer entsetzlichen Vergangenheit, aber auch ein kleines Gespenst, das via Schriftzug als Zeit-Geist ausgewiesen wird.

Die wunderbare Emma Wiederhold gestaltet die Wehret-den-Anfängen-Figur, später eine kindliche Geigerin, mittels des gleichen roten Kleides als elfjähriges Pendant der Musikerin Jelena Popržan zu erkennen – die am Rand des Geschehens sitzend mit ihren Instrumenten für Atmosphäre sorgt. Die ist in erster Linie düster und unheilvoll, wenn die Hexe die „Hundesöhne“ bei sich aufnimmt, heißt: die Großmutter ihre Enkel, die deren Mutter ihr überlässt, um sie den Gefahren der Stadt und dem Zugriff durch die Besatzungsmacht zu entziehen. Ostertag gendert, was das Zeug hält, Martin Hemmer macht als besenschwingende Skelettfrau hässliche Miene zum garstigen Spiel, einmal stöckelt Simon Dietersdorfer, auch er mit aufgemaltem Gerippe, als Polizist in High Heels über die Scholle, beide bereits gekennzeichnet als die sterblichen Überreste, die sie am Ende sein werden.

Im bodygepainteten Micky-Maus-Shirt: Jeanne Werner. Bild: Bettina Frenzel

Der Offizier lässt sich peitschen: Simon Dietersdorfer. Bild: Bettina Frenzel

Die kleine Geigerin bezahlt mit Zahngold: Emma Wiederhold. Bild: Bettina Frenzel

Und apropos, aufgemalt: die Jungs von Jeanne Werner und Martina Rösler tragen von Nadja Hluchovsky auf ihre Bodys gepaintete Micky-Maus-Shirts, ein optisches Kontern der Disney-Soundtracks, die im Hintergrund laufen. Zu „Whistle While You Work“ rennen die Performer geschäftig im Kreis, und apropos, Gerippe: Ostertag erzählt ihre Lesart der Geschichte mit knochentrockenem Humor. Dort, wo die Scheußlichkeiten von Kristóf mit einer lapidaren, kaum zu ertragenden Sachlichkeit geschildert sind, mildert die Theatermacherin den Schmerz mit einem Salbenklecks distanzschaffender Satire.

Sich den Schmerz auszutreiben, ist die wichtigste Aufgabe im Dasein der Zwillinge, die sich, da ihrer Wollt-ihr-die-totale-Abhärtung-Oma ausgeliefert, im Hungern, in der Selbstzüchtigung, in der Kunst des Tötens von Hühnern, im Aufsatzschreiben in „Das große Heft“ üben. Das Selbsterziehungsziel dabei die Entmenschung, doch die von Kristóf explizit ausgestellten – auch sexuellen – Erfahrungen der Knaben von Ostertag nur angedeutet. Je grausamer die Ereignisse, desto poetischer die Bilder, die sie findet. Dietersdorfer wird als im Haus einquartierter Offizier mit BDSM-Passion nicht bis aufs Blut gepeitscht, sondern mit Farbbeuteln beworfen, als triebhafte Magd spricht er Schönbrunner Deutsch.

Der gebeinedeite Hemmer totentanzt in Kruzifix-Geste über die Bühne, er in diesem Moment der lüsterne Pfarrer, dessen anlassige Übergriffe auf das Nachbarsmädchen endlich aufgeflogen sind. Dies Mädchen mit der Hasenscharte spielt Michèle Rohrbach, beständig auf allen vieren, ein Grimm’sches Nachtwesen mit Tierschnauze und aus dem Herzen sprudelnden Blutkreislauf, an ihrer Seite, die Ostertag traut sich was mit den sprichwörtlich die Show stehlenden Kindern und Hunden, Border Collie Lilli. Ostertag kennt in ihren bloßen Fingerzeigen ebenso wenig Gnade, wie die literarische Vorlage: ein Soldat, der im Wald erfriert und die Bewaffnung der Zwillinge bedeutet; Vergewaltiger, die als Befreier gekommen sind; der Hohn der Dorfbewohner gegenüber denen, die nun abtransportiert werden.

Das Mädchen mit der Hasenscharte und ihr Hund: Michèle Rohrbach mit Border Collie Lili. Bild: Bettina Frenzel

Mutter will ihre Söhne abholen: Rohrbach, hinten: Dietersdorfer, Wiederhold, Rösler und Werner. Bild: Bettina Frenzel

In dieser Welt gibt es keine Hoffnung, niemals mehr, nur noch Sarkasmus – und den Schaden, den Krieg in jungen Seelen anrichtet, wenn statt moralischer Grundsätze blanker Hass vorgelebt wird. Die Zwillinge müssen ihren moralischen Kompass allein kalibrieren – und naturgemäß scheitern. Die Spiegelung der eigenen Menschlichkeit im anderen ist nichts als eine Sehnsucht, sagt Ostertag, sagt Kristóf, und wenn die Autorin am Ende ihres Buchs die Brüder trennt und in den Folgeromanen „Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“ Zweifel an der Existenz des zweiten Zwillings aufkommen

lässt, so tut dies Ostertag mit ihren rund ums Wir-Individuum komponierten Duplizitäten um nichts weniger. Neben allen anderen Akteuren ein Glücksfall ist Emma Wiederhold als gruselig grinsendes Kind von mutmaßlich Deportierten. Die großmütterliche Hexe will die verwaiste Violinistin nämlich nur gegen Geld bei sich aufnehmen, da fletscht die Kleine die Lippen und zeigt ihren Edelmetall-Grill – Zahngold im Mädchenmund. Mehr Gänsehaut verursacht lediglich die Schlussszene von Michèle Rohrbach, die sich am Ende, um die Mutter darzustellen, schließlich auf die Beine stellt. Diese kommt samt neugeborener Schwester.

In der Absicht, ihre Söhne zu sich zu holen, doch eine explodierende Granate tötet sie und die Tochter. Dass Rohrbach unübersehbar tatsächlich demnächst ein Baby bekommt, macht diesen kurzen Augenblick umso eindrücklicher, umso furchtbarer. „Das große Heft“ im Kosmos Theater ist ein Gesamtkunstwerk, das an Bertrand Mandicos „Les garçons sauvages“ erinnert (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33934), jeder platzende Ballon, manche davon mit im Dunkeln effektvoll leuchtender Farbe gefüllt, jeder Sprachtakt-, Licht-, Musikwechsel, jede Körperbewegung dieser perfekten Performertruppe, die Hintergrundschriften, die französischen Passagen, diese, weil Kristóf den Text auf Französisch verfasste, lassen einen aufgewühlt und atemlos zurück. Die Albträume kommen nach dieser Aufführung – so sicher wie das Amen in des Pfarrers Gebet.

Teaser: www.youtube.com/watch?v=uNPz4h1v54M           www.youtube.com/watch?v=N17UJKVvMyo           www.kosmostheater.at           www.makemake.at

4. 12. 2019