TheaterArche: Odyssee 2021

September 11, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume

Eike N.A. Onyambu, Helena May Heber, Roberta Cortese, Bernhardt Jammernegg, Pia Nives Welser, Marc Illich und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Es wäre nicht Jakub Kavin, wenn er nicht wieder etwas Besonderes in petto hätte. Der Theatermacher, der seine TheaterArche als einziger am ersten möglichen Tag nach dem Kulturlockdown zur Premiere des überaus passenden Rückzugsstücks „Hikikomori“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=40634) öffnete, hat mit seinem Team nun die „Odyssee 2021“ erarbeitet. Ein Stationentheater, dessen erste zum Prolog ein jeweils anderer Ort im sechsten Bezirk sein

wird, diesmal war’s der Fritz-Grünbaum-Platz vorm Haus des Meeres, bevor es in die Münzwardeingasse 2 geht. Uraufführung ist heute Abend, www.mottingers-meinung.at war bei der gestrigen Generalprobe. Und so beginnt die Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume. Zu Homer, Dantes „Göttlicher Komödie“, Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und natürlich James Joyces „Ulysses“, hat Kavin, weil ihm das alles zu männlich konnotiert war, als weibliche Gegenstimmen die Autorinnen Marlene Streeruwitz, Miroslava Svolikova, Lydia Mischkulnig, Kathrin Röggla, Theodora Bauer, Margret Kreidl und Sophie Reyer eingeladen, Texte für die „Odyssee 2021“ zu verfassen.

„Mit dem Resultat“, so Kavin im Gespräch über sein nunmehriges „Frauenstück“, „jetzt vier Odyssas, zwei Penelopes und eine Lucia Joyce zu haben, Lucia, die Tochter von James Joyce, eine Tänzerin, die mit 30 als schizophren diagnostiziert wurde und 50 Jahre in diversen psychiatrischen Kliniken zubrachte.“ – „Errrrrrrrrrrrr wiederholt sich. Sch! Schlauch, Schlund, Schlamassel. Der Schlüssel zum Ödipuskomplex.“ (Margret Kreidl)

Sieben Performerinnen und sieben Performer, Roberta Cortese, Max Glatz, Claudio Györgyfalvay, Elisabeth Halikiopoulos, Helena May Heber, Marc Illich, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Eike N.A. Onyambu, Amélie Persché, Pia Nives Welser und Charlotte Zorell, dazu Multiinstrumentalist Ruei-Ran Wu, die meisten davon erstmals im TheaterArche-Engagement, gestalten die Collage. Eine Reise ins Ungewisse, Unbekannte, Untiefe, die sich für jede Zuschauerin, jeden Zuschauer des in drei Gruppen aufgeteilten Publikums anders gestaltet.

Choreografin Pia Nives Welser, hi.: Roberta Cortese und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg im Inferno mit Max Glatz, Manami Okazaki und Charlotte Zorell. Bild: © Jakub Kavin

Roberta Cortese unter Höllentieren: Claudio Györgyfalvay, Max Glatz und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg, Roberta Cortese, Charlotte Zorell und Pia Nives Welser. Bild: © Jakub Kavin

Man selbst strandet zuerst im Irish Pub, die Ausstattung aller Räume ist von Schauspielerin und Bildhauerin Helena May Heber, denn wie stets hat Kavin interdisziplinär tätige Künstlerinnen und Künstler um sich versammelt, strandet im Irish Pub also, wo man aber nicht etwa Leopold Bloom, sondern in Marc Illich und Tom Jost zwei Raskolnikows begegnet, die Serviererin-Prostituierter Sonja, Pia Nives Welser, mit Marc Illich und Claudio Györgyfalvay auch für die Choreografien zuständig, und Barkeeper Johannes Blankenstein bei Wodka und Whiskey vom Totschlag der Pfandleiherin berichten.

Dass dabei auch Russisch gesprochen wird, ist in der TheaterArche Programm, später wird’s noch Monologe in Englisch, Italienisch und Japanisch geben, Eike N.A. Onyambu rappt Amanda Gormans Amtseinführungsrede für Joe Biden: „We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Roberta Cortese klagt im „Inferno“: „ich bin verwirrt gewesen, das kommt doch vor. ich hatte die mitte des lebens erreicht, die mitte des horizonts, den halben weg. oder, wo sonst bin ich hier?“ (Miroslawa Svolikova).

Koloratursopranistin und TheaterArche-Co-Leiterin Manami Okazaki spricht und singt zur AKW-Katastrophe in Fukushima: „Die Natur schlug zu und traf das Kernkraftwerk. 120 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt bin ich aufgebrochen und wusste wohin. In ein Zelt. Und was wird sein?“ (Lydia Mischkulnig). Kavin hat den Begriff Odyssee weit gefasst, vom antiken Inselhopping zur Irrfahrt zu sich selbst zur Rückkehr in ein verseuchtes Land.

Bernhardt Jammernegg als Teiresias. Bild: © Jakub Kavin

Fukushima-Monolog von Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Elisabeth Halikiopoulos im Spiegel-Boudoir. Bild: © Jakub Kavin

Bildhauerin Helena May Heber. Bild: © Jakub Kavin

„Es geht mir um die Heimatsuche, die geografische wie die innere“, sagt er. „Meine Figuren sind Weitgereiste, Wartende, vom Schicksal verwehte, Anti-Heldinnen und -Helden, die fehlgehen, wo immer der Mensch nur irren kann. Das heißt“, unterbricht er sich, „meine Figuren sind es nicht, wir sind ein Produktionskollektiv, bei dem alle in die Rolle das Ihre einbringen. Ich vertraue den Spielerinnen und Spielern den Text an, damit sie ihn mit ihren eigenen Subtexten zum Leben erwecken.“

Derart ist die Performance von der ersten Minute an intensiv, durch die Nähe zum Geschehen auch intim, meint: auf spezielle Weise immersiv, die TheaterArche gewohnt innovativ. Weiter geht’s in den Theatersaal, wo sich im von Tom Jost und Nagy Vilmos gesprochenen „Inferno“ Roberta Cortese und Bernhardt Jammernegg in Höllenqualen winden. TheaterArche, das ist immer auch Körpertheater, hier kriecht ein Ensemble aus Unterweltsfratzen gleich Totentieren auf die Unglücklichen zu. Grausam-poetisch ist das, enigmatisch, aufregend, und so findet man sich in der persönlichen Lieblingsschreckenskammer wieder.

Einem Dostojewski’schen Spiegel-Boudoir mit Elisabeth Halikiopoulos als frech-frivole Molly Bloom, Charlotte Zorell als Reitgerten-bewehrte Domina und Nagy Vilmos mit Beißkorb – pst, mehr soll da nicht verraten sein. Nur so viel, um Sartre zu bemühen: Die Hölle, das sind die anderen …

Die Raskolnikows Marc Illich und Tom Jost parlieren im Irish Pub auch auf Russisch. Bild: © Jakub Kavin

Selbst das Klavier ist gestrandet: Amélie Persché, Nagy Vilmos und Charlotte Zorell. Bild: Jakub Kavin

Als Reitgerten-bewehrte Domina mit einem Stammkunden: Charlotte Zorell mit Nagy Vilmos. Bild: © Jakub Kavin

Endlich Penelope und Odysseus: Helena May Heber und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Die „Odyssee 2021“ dreht sich kaleidoskopisch um die Achse Homer, bei Kavin reimt sich selbst noch Amanda Gorman aufs Gorman-Gilbert-Schema zum „Ulysses“, Homer also, als dessen antiker Odysseus Claudio Györgyfalvay durch das Labyrinth der Räume rennt, gehetzt von Kirke und eigenen Dämonen, einen Ausweg erflehend, doch von Kavins Assoziationsketten in Fesseln geschlagen. Und apropos, schlagen: Im Foyer findet man erneut Helena May Heber, die während der zweimonatigen Spielzeit einen 300-Kilo-Stein zur Muttergöttin meißeln wird, begleitet von Amélie Persché, mit 17 Jahren die jüngste im Ensemble, auf der Bratsche. Zwei Frauen, Homers Penelope und Theodora Bauers Penny: „Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer, immer warten. Ich hasse warten.“

Am Ende, alle versammelt im Theatersaal, gesellt Jakub Kavin zu seinen Protagonistinnen und Protagonisten die Antagonisten: Bernhardt Jammernegg als mittels Kontaktlinsen erblindeter Teiresias im Fake-News-Anzug, Tom Jost als Swidrigailow, Nagy Vilmos als Leopold Bloom und Max Glatz, eben noch Polyphem, als Joyces „Telemach“ Stephen Dedalus. Für Marc Illich als Zukünfigen Odysseus hat Hausautor Thyl Hanscho einen Text geschrieben. So endet nach drei Stunden ein herausforderndes, faszinierendes Theaterereignis, ein Gesamtkunstwerk, dessen Genuss man nur von ganzem Herzen empfehlen kann.

„Zwischen Skylla und Charybdis lassen wir die Ketten zur Brücke werden. Wir befreien die Ungeheuer und damit uns von der Angst in die alten Sprachen zurückzugeraten.“ (Marlene Streeruwitz)

Vorstellungen bis 11. November. Den Spielort des Prologs erfährt man jeweils beim Kauf des Tickets. www.theaterarche.at

TIPP:

Von 11. September bis 11. November findet in der TheaterArche außerdem das Odyssee Festival statt. Zu den 14 Aufführungen zählen: Dione – mit Koloratursopranistin Manami Okazaki präsentiert Scharmien Zandi erstmals alle Elemente des internationalen Kunstprojekts als Opernperformance. Lost My Way von und mit Saskia Norman, Regie: Elisabeth Halikiopoulos. Das Tanztheaterstück Mythos. The Beginning of the End of the Story von Nadja Puttner und Unicorn Art. Das Schauspiel- und Figurentheater Der Sturm, für Kinder ab 6 Jahren, frei nach Shakespeare und inszeniert von Eva Billisich. Stilübungen – Raymond Queneaus Meisterwerk als Theaterstück. Und von 28. bis 30. Oktober Das Dostojewski Experiment, eine szenische Collage der TheaterArche mit großem Ensemble, ein Fest zum 200. Geburtstag des russischen Romanciers.

www.theaterarche.at

  1. 9. 2021

TheaterArche: Mauer

November 27, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Zähne zusammenbeißen bis sie zerbröseln

Ivana Veznikova, Bernhardt Jammernegg, Pegah Ghafari, Manami Okazaki, Agnieszka Salamon, Maksymilian Suwiczak, Nagy Vilmos, Tom Jost und Eszter Hollosi. Bild: Jakub Kavin

Wo sie gewesen seien, als …? darüber berichten die Darsteller im Programmheft: von ihrem ersten Trip in den „Westen“, der ihnen so viel farbenprächtiger vorkam, als das triste Polen, von Freuden-, heißt: Freiheitstränen, vom Überwechseln aus Ungarn nach Wien – als Kind noch, mit der Mutter, Jacek Kaczmarskis Lied „Mury“ findet sich darin, und Gedanken über Barrieren, die Sprache, Seelenregung, oder ein scheint’s banales Straßen- hindernis sein können …

Anlässlich 30 Jahre Mauerfall zeigt Jakub Kavin in der TheaterArche seine Textcollage „Mauer“. Der Regisseur und Schauspieler ist selbst hinter einer solchen, genauer: hinter dem Eisernen Vorhang, geboren. Seine Eltern Nika Brettschneider und Ludvík Kavín waren Unterzeichner der Charta 77, der Sohn erzählt im Laufe der Aufführung noch davon. Wie er als Zweijähriger, da nun Staatsfeind, von der Staatspolizei aus dem Kindergarten geholt wurde, und wie die Familie das von Bruno Kreisky angebotene politische Asyl annahm.

„Mauer“, das sind Szenen aus dem Stück von Thyl Hanscho, erweitert um persönliche Erfahrungen. Gefängniswärter, Grenzsoldaten, Geflohene sind allgegenwärtig, wenn Kavin aus dem Off Václav Havel spricht, oder Bernhardt Jammernegg auf der Spielfläche Jürgen Fuchs, den nach West-Berlin abgeschobenen Schriftsteller, der die „Zersetzungsmaßnahmen“ der Stasi mit dem Begriff „Auschwitz in den Seelen“ benannte. Uwe Tellkamp kommt zu Wort, Katja Lange-Müller, Antje Rávik Strubel, Robert Menasse. Elf Akteure, mit Kavin und Jammernegg Pegah Ghafari, Eszter Hollosi, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Agnieszka Salamon, Maksymilian Suwiczak, Christina Schmidl und Ivana Veznikova gestalten den Abend.

„Grenzsoldat“ Tom Jost und Eszter Hollosi. Bild: Jakub Kavin

Tai Chi mit Manami Okazaki und Pegah Ghafari. Bild: Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg und Eszter Hollosi. Bild: Jakub Kavin

In ihren Muttersprachen Deutsch, Polnisch, Tschechisch, Ungarisch, Farsi und Japanisch führen sie das Publikum durch die Vaterländer. Von Deutsch- und Deutschland bis nach den USA und Mexiko. Der „Arm des Gesetzes“ tritt auf und trifft, passend zur Jahreszeit, auf ein Ehepaar, die Frau hochschwanger, das erwartete Flüchtlingskind von Kavin allerdings mit dem Namen „Viktor“ versehen. „Kollektive Forschungsarbeit“ sagt das TheaterArche-Team über dies Projekt, mit dem es auf eindrucksvoll kreative Art eine Vielzahl von Lebens- und Leidensgeschichten verknüpft, ohne je in das Pathos zu entgleiten, und durchs diverse Ensemble auf die Erfahrungsverwandtschaft der Einzelschicksale verweisend.

Von Verwahrungszellen geht’s in innere Sperrgebiete, Intellektuelle werden Inhaftierte, Gewalt hinter verschlossenen Türen ist zu hören, Geräusche von Vernehmungen, und wenn Tom Jost mit dem Schlagstock im Takt klopft, dann weiß man, wo das Unheil lauert. Beobachtung, so eine Figur, als Mauerforscher und Mauertheoretiker wild diskutieren, ist immer Mitschuld. Und apropos, wild: So wird auch getanzt, Tai Chi steigert sich zum Kung Fu, zum Kampf zwischen dem Staat und denen, die in ihm untergebracht sind. Das alles unterstützt von Jost am Schlagzeug, Suwiczak mit der E-Gitarre und Jammernegg, der ein selbstverfasstes, von Wolf Biermanns „In China hinter der Mauer“ inspiriertes Lied singt.

Die Mauer und die, die  hinter ihr leben müssen: Ivana Veznikova, Eszter Hollosi, Nagy Vilmos und Bernhardt Jammernegg. Bild: Jakub Kavin

Bemerkenswert, bedrückend, beklemmend auch, ist die so entstehende Polyphonie. Die Rede kommt auf Gefahr und Gericht, den „Gegenstand“ Mensch und Massengräber in der Grenzregion. Nach dem Sterben in der Wüste wird das Licht meeresblau – man versteht, hier suchen andere in den Fängen von Schleppern Gestrandete das rettende Festland. Bis zu fünf Rollen hat jeder Spieler zu bewälti- gen, und sie tun das einpräg- sam und zu Jakub Kavins und Ausstatterin Erika Farinas effektvoll-abstrakten Bildern.

Die Absurditäten staatlicher Abschottung werden bloßgestellt, und Repressionen an den Pranger, albtraumhaft ein Moment, an dem davon gesprochen wird, wie Gefangene die Zähne zusammenbeißen. Bis zum Zerspringen. Bis sie zerbröseln. Diese „Mauer“ kann Horizonte öffnen. Die TheaterArche, dieses Jahr Nestroy-Preis-Nominee für „Anstoß – Ein Sportstück“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=31865) und nach wie vor ohne Subvention agierend, empfiehlt sich auch mit der aktuellen Produktion. Zu sehen noch bis 3. Dezember.

www.theaterarche.at

  1. 11. 2019

TheaterArche: Das Programm der Saison 2019/20

Juli 20, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Crowdfunding für „MAUER“ und „HiKiKoMoRi“

MAUER: Eszter Hollosi, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Jakub Kavin, Nagy Vilmos, Ivana Nikolic, Andrea Novacescu, Agnieszka Salamon, Maksymilian Suwiczak und Ivana Veznikova. Bild: Jakub Kavin

Nach der fulminanten Eröffnungsproduktion „Anstoß – Ein Sportstück“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=31865) im Jänner dieses Jahres hat sich das Team der TheaterArche für seine erste komplette Saison 2019/20 einiges vorgenommen. Geplant sind vier Eigenproduktionen, ein einwöchiges Festival und zahlreiche Gastspiele, wie zuletzt der gefeierte Čechov-Abend von Arturas Valudskis und seinem „Aggregat“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33317).

MAUER ist der Titel der ersten Eigenproduktion, die am 7. November – anlässlich des Falls der Berliner Mauer vor 30 Jahren – uraufgeführt wird. Jakub Kavin, künstlerischer Leiter der TheaterArche, hat die Textcollage nach einem Stück von Thyl Hanscho erdacht, und um autobiografische Berichte von Vaclav Havel, Schilderungen des Grenzsoldaten Jürgen Fuchs von der Grenze zwischen den USA und Mexiko, Erzählungen eines ehemaligen Auftragskillers, zahlreicher Flüchtender aus Lateinamerika sowie diversen anderen autobiografischen Erinnerungen ergänzt.

Proben zu MAUER: Regisseur Jakub Kavin mit Schauspieler Bernhardt Jammernegg. Bild: Jakub Kavin

Proben zu MAUER mit Andrea Novacescu und Maksymilian Suwiczak. Bild: Jakub Kavin

Wie stets wird die Inszenierung in kollektiver Forschungsarbeit entwickelt. Kavin: „Wir wollen die physischen wie psychologischen Mauern die Menschen umgeben, voneinander trennen, einsperren oder auch beschützen, untersuchen. Der Abend wird eine theatrale Reise rund um die Welt, vom ehemaligen Osteuropa, nach China, bis zur Mauer, die Donald Trump errichten möchte. Es geht also um Mauern einst und heute, in den Köpfen und in der Realität.“

Umgesetzt wird das Projekt von zehn Schauspielerinnen und Schauspielern, Eszter Hollosi, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Jakub Kavin, Nagy Vilmos, Ivana Nikolic, Andrea Novacescu, Agnieszka Salamon, Maksymilian Suwiczak und Ivana Veznikova, in sechs Muttersprachen – Deutsch, Polnisch, Rumänisch, Serbisch, Tschechisch und Ungarisch. Die Musik kommt von Jammernegg, Jost und Suwiczak.

Für „MAUER“ läuft wieder ein Crowdfunding, wobei mehr als zwei Drittel bereits finanziert sind. Für die restlichen knapp 5000 Euro bleiben 37 Tage Zeit, um sich ein Premierenticket samt Sekt, ein Saison-Abo, eine Wohnzimmerlesung oder Schauspielunterricht zu gönnen – oder das Theater für einen Tag zu mieten.

Video: www.youtube.com/watch?v=fkG2C6GpWlE           Crowdfunding: wemakeit.com/projects/mauer

Nach der österreichischen Erstaufführung von NITTEL – BLINDE NACHT, einem Drama von Simon Kronberg über ein Pogrom in der Weihnachtszeit 1941, am 19. Dezember in der Regie von Christoph Prückner, folgt am 19. März als nächste Eigenproduktion HIKIKOMORI, ein Theaterstück nach einer Idee von Jakub Kavin, ein „schizophrener Monolog“, geschrieben im dialogisch-schriftstellerischen Ping Pong von Sophie Reyer und Thyl Hanscho, den Koloratursopranistin und Schauspielerin Manami Okazaki (www.manami-okazaki.com) mit Klavier und Saxophon als Spielpartner performen wird.

Regisseur Kavin: „Auf unserer Forschungsreise nach Japan haben wir versucht, uns möglichst tiefgreifend mit dem Phänomen Hikikomori auseinanderzusetzen. Es ist ein Begriff für junge Menschen, die nach Schulverweigerung oder Arbeitsunfähigkeit viele Jahre zu Hause bleiben, ein Syndrom, ein Tabu, eine Volkskrankheit, die in Japan jeder kennt. Laut einer Studie haben sich in Japan 700.000 Menschen, die im Durchschnitt 33 Jahre alt sind, auf diese Weise zurückgezogen. Das bedeutet, es gibt heute bereits 50-Jährige, die seit 35 Jahren zu Hause eingesperrt sind, sich von ihren 80-jährigen Eltern das Essen vor die Tür stellen lassen und nie aus ihrem Zimmer kommen …“

Manami Okazaki performt „HiKiKoMoRi“. Bild: Jakub Kavin

Manami Okazaki wird den Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Frustrationen, die diese Rückzugsbevölkerung plagen, mit ihrem Gesang, ihrer Sprache und ihren Instrumenten Ausdruck verleihen, wird vom überspannten Nichtstun zum unkoordinierten Alles-auf-einmal-Machen wechseln, vom Messi zum Putzteufel, von Mager- zu Fresssucht – bis die Absurditäten überhand nehmen …

Auch für diese Produktion, die im Mai kommenden Jahres nach Japan übersiedeln soll, läuft ein Crowdfunding – nur noch sechs Tage werden unter anderem Wohnzimmerkonzerte oder ein Geburtstagsständchen angeboten. Video: www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=hXRz-mtt6UM           Crowdfunding: wemakeit.com/projects/hikikomori

Als vierte Eigenproduktion schließlich stehen im April/Mai entweder DIE SCHAMLOSEN – eine Textcollage von Nagy Vilmos mit Texten von Daniil Charms oder VERSUCHE EINES LEBENS – eine Stückentwicklung von Thyl Hanscho auf dem Programm. „Hier müssen wir noch aus produktionstechnischen Gründen, auf die finale Entscheidung warten, welches Stück schlussendlich im Frühjahr gespielt wird. Das andere Stück folgt dann im Herbst 2020“, so Kavin, der für den Jänner 2020, genauer: 13. bis 19., ein FESTIVAL DER VIELFALT verspricht: „Mit Tanztheater, diverser Musik, Clownerie und Kabarett bereiten wir eine bunte und internationale Woche vor. Dies Festival soll ein weiterer Schritt dazu sein, die TheaterArche als Haus für die vielfältige, spartenübergreifende Freie Wiener Szene zu etablieren“.

Womit die Sprache nun auf die Gastspiele kommt, von denen Kavin seinem Publikum vorerst drei ans Herz legen möchte: von 8. bis 12. Oktober „Blasted“ von Sarah Kane im englischen Original, eine Koproduktion Mental Eclipse Theatre House und Vienna Theatre Project, von 18. bis 20. Oktober „Yogur Piano“ von Gon Ramos aus Madrid und ergo auf Spanisch, und von 5. bis 8. Dezember das surreale Zirkustheater „Picknick For One“.

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  1. 7. 2019

TheaterArche: Anstoß – Ein Sportstück

Februar 9, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

In jeder Hinsicht ein Kraftakt

Colin Kaepernick (Johannes Scherzer) verweigert das Singen der Hymne. Bild: © Jakub Kavin

Das Außergewöhnliche gestern war die persönliche Anwesenheit von Nicola Werdenigg, war es, die ehemalige Skirennläuferin auf der Spielfläche der neu gegründeten TheaterArche zu sehen, wo sie vom systematischen Macht- und vom sexuellen Missbrauch im ÖSV erzählt, von ihrer Vergewaltigung und ihrer Bulimie. Da erscheint Annemarie Moser-Pröll, das heißt: Schauspielerin Johanna König im feschen Dirndl, und widerspricht.

Gut is gangen, nix is gschehn, wie man ja sagt, und wie Johanna König sich aufpudelt, darüber muss man durchaus lachen. Und schon ist man bei Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler, der den Sport dereinst mit einem Shakespeare-Stück verglich, so tragisch wie komisch, allerdings spannender, da ungewissen Ausgangs. Das sind die beiden Pole, zwischen denen Jakub Kavin seine aktuelle Arbeit „Anstoß – Ein Sportstück“ auspendelt. Erst zu Beginn des Jahres hat sich dessen TheaterArche im vormaligen Theater Brett häuslich niedergelassen, jetzt diese Eröffnungsproduktion rund um die Tabuthemen des Massenphänomens und Identifikationsobjekts, von Doping zur Droge Alkohol zur Sucht nach Publicity, von psychischem Druck bis Depression, von erzwungenem Geschlechtsverkehr bis Homophobie. Kavin selbst führte Regie, hat auch aus aberhunderten Originalzitaten von Aktiven wie Funktionären, von Autoren wie Ödön von Horváth und David Foster Wallace den Text collagiert, und lässt diesen nun von 17 Akteurinnen und Akteuren performen.

Ein Kraftakt in jeder Hinsicht. Für die Darsteller, die allein oder in ausgefeilten Choreografien als Gruppe körperlich alles geben. Für das Publikum, über das drei Stunden lang Namedropping und Faktenlage prasselt. Für Kavin, der diesen Neustart ohne öffentliche Gelder stemmt, das Ganze getragen vom Enthusiasmus und vom selbstausbeuterischen Einsatz seiner Truppe. Die einmal mehr auf höchstem Niveau ihre Kunst zeigt. Jörg Bergen etwa wankt als dauertrunkener Fussballer Ulli Borowka durchs Aufwärmtraining der anderen, und macht später einen herrischen Peter Schröcksnadel. Nicolaas Buitenhuis spricht Sätze des schwulen Torschützen Thomas Hitzlsperger, Bernhardt Jammernegg legt als zynischer Unsympath Lance Armstrong schauspielerisch und auf dem Spinning-Rad eine Höchstleistung vor. Vom beinah Totenbett zum Doping ein einziger Überlebensbeweis.

Annemarie Moser-Pröll weiß von keinem sexuellen Missbrauch beim ÖSV: Johanna König. Bild: © Jakub Kavin

Zwischen Antike und Offenbach: Opernsängerin Manami Okazaki als Olympia. Bild: © Jakub Kavin

So wie der Radrennsportler seiner Physis alles abverlangt, so schildert Florian-Raphael Schwarz als Thomas Muster dessen harten Weg zurück nach dem Key-Biscayne-Autounfall, Johannes Scherzer als Robert Enke, wie er seinen aus der Depression nicht gefunden hat. Es sind Gänsehautmomente, wenn der Chor dem Torwart ein Spottlied singt, bevor dieser in den Tod geht. Berührend auch die Geschichte von Heidi Krieger, auf der Bühne umgesetzt von Maksymilian Suwiczak, der DDR-Kugelstoßerin, der das Staatsdoping, wie sie sagt, die geschlechtliche Identität genommen hat – und die heute als Andreas lebt. Oder – wieder Scherzer – als knieender NFL-Spieler Colin Kaepernick, den Donald Trump via Vidiwall wüst beschimpft. Auf dieser auch zu sehen, der spektakuläre Sturz von „Verausgabungsapparat“ Hermann Maier in Nagano. „Anstoß – Ein Sportstück“ ist immer wieder auch reinstes Dokutheater. Nagy Vilmos lässt als diverse Trainer Bonmots und markige Sprüche ab, Peter Matthias Lang als Shaolin-Mönch philosophische, Saskia Norman spielt Tonya Harding, Corinna Orbesz die Mixed-Martial-Arts-Fighterin Ronda Rousey, die Trumps Einwanderungspolitik öffentlich kritisierte.

Tabea Stummer spricht als Torhüterin Hope Solo über ihr schwieriges Elternhaus, Sarah Victoria Reiter trägt als Anna Veith mitten in der #MeToo-Debatte das Superfruits-Shirt eines Fruchtsaftherstellers … Mehr gibt es zu sehen und zu hören, als man auf einmal zu fassen vermag. Kavin, so scheint es, hat die Überforderung, die Überfrachtung zum Programm gemacht, man kann’s zwischen Zeitlupenspielzügen und der Haka der neuseeländischen Rugbymannschaft also nur sportlich nehmen, versuchen den roten Faden dieser Übung in freier Assoziation nicht zu verlieren, und wie die hier Dargestellten an und über die eigenen Grenzen gehen. Moderatorin Elisabeth Halikiopoulos hält die Aufführung von Aufstiegen bis tiefen Abstürzen, im Fall der Bergsteigerin Gela Allmann/Johanna König im Wortsinn von einer atemberaubend hohen Leiter, zusammen, bevor Koloratursopranistin Manami Okazaki, als sich gegen Technowummern stemmende Jacques-Offenbach’sche Olympia, auf die transhumanistische Zukunft des Sports und den nächsten Austragungsort der Olympischen Spiele, Tokio 2020, verweist.

Tonya Harding und Jeff: Saskia Norman und Florian-Raphael Schwarz. Bild: © Jakub Kavin

Anna Veith und Ulli Borowka: Sarah Victoria Reiter und Jörg Bergen. Bild: © Jakub Kavin

„Anstoß – Ein Sportstück“ ist ein lohnender, hochaktueller Theaterabend, eigentlich Work in progress, zumal nicht zwei davon gleich sein werden. An jedem ist nämlich ein anderer Gast eingeladen, um aus seiner Perspektive über dieses Spiegel- wie Zerrbild der Gesellschaft zu berichten. Am 22. Februar zum Beispiel wird es wieder Nicola Werdenigg sein, am 24. Februar der Autor Franzobel.

Jakub Kavin im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=31475

Video: www.youtube.com/watch?time_continue=68&v=3Z1aY9ny0Nw

www.theaterarche.at

  1. 2. 2019

In Wien entsteht eine neue Bühne: TheaterArche-Leiter Jakub Kavin im Gespräch

Januar 24, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eröffnung ist am 29. 1. mit „Anstoss – Ein Sportstück“

Schauspieler, Regisseur und Leiter der TheaterArche: Jakub Kavin. Bild: Renée Kellner

Wien-Mariahilf, Münzwardeingasse 2. Noch wird im Haus gehandwerkt, ausgemalt und angeschraubt, aber gleich stellen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler zur Probe der neuen Produktion „Anstoss – Ein Sportstück“ auf. Eine hat gerade die frisch gewaschene Leinwand für die späteren Video-Projektionen gebracht, einer ist noch mit der neuen Bestuhlung unterwegs, da üben die anderen bereits den Text, den Gesang, die aufwändige Choreografie.

Die konzentrierte Spannung ist greifbar, die Tage sind schon an einer Hand abzuzählen. Am 29. Jänner findet die Eröffnungspremiere der TheaterArche am neuen fixen Spielort statt. Deren künstlerischer Leiter Jakub Kavin will das Haus nicht nur selbst bespielen, sondern auch als Raum für die freie Szene etablieren und Künstlerinnen und Künstlern einen Platz für, wie er’s nennt, „das professionelle Experiment“ schaffen. Jakub Kavin im Gespräch über Diversität, sein Sportstück und das leidige Thema Subventionen:

MM: Wie verrückt muss man sein, um in Wien ein festes Haus zu gründen, und warum glauben Sie, dass die Stadt ein weiteres braucht?

Jakub Kavin: Verrückt muss man wohl ziemlich sein, allerdings auch so klar bei Verstand, dass man eine Idee hat, was sich in diesem Haus künstlerisch ereignen soll. Was das betrifft, bin ich überzeugt, dass Wien eine weitere Spielstätte braucht. Tatsache ist, dass dieser Raum hier zwei große Vorteile hat: Er ist einerseits absolut variabel, heißt: es ist ganz viel möglich, was die Zuschauerbestuhlung und die Spielsituation betrifft, andererseits sind wir völlig barrierefrei, man kann ohne eine einzige Stufe überwinden zu müssen vom Gehsteig in den Theatersaal kommen. In dieser Mischung heben wir uns schon einmal von anderen Häusern ab. Wie wichtig das ist, weiß ich, weil ich immer wieder mit Cornelia Scheuer zusammenarbeite, die auch als co-künstlerische Leiterin der TheaterArche angedacht ist.

MM: Dazu muss man erklären, dass Schauspielerin und Tänzerin Cornelia Scheuer im Rollstuhl performt …

Kavin: Ja, und sie ist auch Beraterin für Barrierefreiheit. Durch sie weiß ich, dass es großen Bedarf an leicht zugänglichen Theatern gibt, ich habe aber, als die TheaterArche frei unterwegs war, auch selber erfahren, wie schwer es ist, eine adäquate Spielstätte zu finden. Was das Künstlerische angeht, wollen wir kein rigides Konzept umsetzen, sondern offener sein, sehr vieles ermöglichen und dazu die Wiener Szene einladen. Wir suchen die Heterogenität, nicht die Homogenität, wir wollen kein kleineres und wahrscheinlich schlechteres Burgtheater sein, sondern wir wollen die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln – in allen Facetten, die es gibt.

MM: Sie haben die Räumlichkeiten von Ihren Eltern Nika Brettschneider, die vergangenen Sommer leider verstorben ist, und Ludvik Kavin übernommen, die hier das Theater Brett betrieben.

Kavin: Genau. Es waren harte, aber faire Verhandlungen mit den Hausbesitzern, und nun habe ich einen Mietvertrag für 30 Jahre, ich kann mich also ein paar Jahre austoben. Dazu bedürfte es allerdings der Subventionen, es braucht nämlich schon sehr viel Selbstaufgabe, ein fixes Haus zu betreiben.

MM: Trotzdem, das ist das Theater Ihrer Kindheit …

Kavin: 1984 ist es eröffnet worden. Ich war davor schon mit meinen Eltern viel in Europa unterwegs, beispielsweise bei Theaterfestivals, dann habe ich hier die Aufbauarbeiten miterlebt und, wie man aus einer völlig kaputten Möbelfabrik, in der die Tauben gehaust haben, ein Theater macht. Das war eine intensive Zeit damals und natürlich eine spannende Kindheit, ich verbinde damit sehr schöne Erinnerungen. Ich habe hier auch erste Bühnenerfahrungen gesammelt, als „Kleiner Prinz“ oder als infantiler König in einem Jeanne-D’Arc-Stück. Vor etwa zehn Jahren habe ich mich dann künstlerisch emanzipiert und bin meiner eigenen Wege gegangen. Als das Haus vom ehemaligen Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny im Zuge der Wiener Theaterreform …

MM: … ausgeblutet worden ist …

Kavin: … hat das schon sehr weh getan. Die Stadt Wien hat alles getan, damit das Haus geschlossen werden muss, sie hat’s nur bis heute nicht geschafft. Bei der neuen Kulturstadträtin kann man nur hoffen, dass die Ziele andere sind. Die sind zwar noch nicht so klar raus, aber grundsätzlich sagt sie doch, sie will neue Räume für die Szene. Da könnte sie ja auch alte wiederbeleben, dann wären die quasi auch neu. Ich ziehe den Hut vor meinen Eltern, dass sie 14 Jahre Theater ohne Förderungen gemacht haben, das war wirklich existenziell, ein harter Kampf, der an die Substanz ging. Ich habe kein Interesse daran, hier Hausmeister zu sein und an jede Amateurtruppe vermieten zu müssen, um die nächste Miete bezahlen und die Fixkosten abdecken zu können. Ich möchte ein qualitätsvolles Programm präsentieren, und warum ich glaube, das zu können, und dass sich das hier etablieren wird, sind eben die Vorzüge dieses Raums.

Anstoss – Ein Sportstück: Bernhardt Jammernegg als Lance Armstrong und Florian-Raphael Schwarz als Thomas Muster. Bild: Jakub Kavin

Anstoss – Ein Sportstück: Olympia und der Transhumanismus, Koloratursopranistin Manami Okazaki mit Ensemble. Bild: Jakub Kavin

Anstoss – Ein Sportstück: Corinna Orbesz als Mixed-Martial-Arts-Kämpferin Ronda Rousey. Bild: Jakub Kavin

MM: Bei der Renovierung packen alle Künstlerinnen und Künstler mit an, …

Kavin: Und zwar ehrenamtlich, hier sind alle sozusagen ehrenamtliche Vereinsmitglieder. Geht ja nicht anders. Das, was an Geld reinkommt, wird unter allen aufgeteilt.

MM: … was genau wird nach Ihren Wünschen umgestaltet?

Kavin: Dass es eben keine fixe Zuschauertribüne mehr gibt, dass wir das vollgeräumte Büro in ein Theatercafé verwandeln, in dem sich das Publikum nach der Vorstellung mit den Schauspielern auf ein Glas Wien zusammensetzen kann, außerdem ein frischer Anstrich … mehr geht sich finanziell ohnedies nicht aus. Ich kann keine Wände einreißen.

MM: Außer die in den Köpfen.

Kavin: Stimmt, das ist auch viel wichtiger.

MM: Das bringt uns zum künstlerischen Konzept. Wie und womit möchten Sie die TheaterArche in dieser Stadt positionieren, welche Themen möchten Sie bespielen?

Kavin: Ich habe den Eindruck, in Wien gibt es entweder die große, subventionierte darstellende Kunst oder jene, die versuchen, genau dasselbe im kleineren Format umzusetzen. Auch das ist natürlich aller Ehren wert, aber für mich ein bisschen schwierig, ich sehe mich nicht als einen Theatermacher, der den 2000sten „Hamlet“ auf die Bühne bringt, zu dieser Form von Theater habe ich wenig Bezug. Daneben gibt es viele Gruppen, die sich sehr spezialisiert haben, die mit Flüchtlingen, mit Migranten, mit behinderten Menschen arbeiten, sehr oft in einem hierarchischen System.

Heißt: das Nicht-Betroffene Betroffene inszenieren. Diese Programme sind wichtig, weil sie den diversen Communities eine Möglichkeit für Öffentlichkeit geben, in sich sind diese Konzepte aber sehr verschließend. Meine große Bestrebung ist, da wir alle Menschen sind, dass dieser Raum dazu dient, dass sich das ganze Mensch-Sein, das in Wien abgebildet ist, hier künstlerisch finden kann. Diesen Rahmen möchte ich ermöglichen – für die Künstler und für das Publikum.

MM: Nun sagen Sie zwar, Sie wollen kein Hausmeister sein, doch das klingt doch nach Plattform bieten, Arbeitsperspektiven schaffen, Künstler vernetzen. Wollen Sie die in Ihre Produktionen einbinden oder denen das Haus als Spielstätte anbieten?

Kavin: Sowohl als auch. Wir wollen den Raum zu etwa einem Drittel der Saison selber bespielen, der Rest soll wirklich für die freie Szene offen sein. Ich will keine ästhetische, keine Geschmacks-Polizei sein, ich will nicht entscheiden, was sein darf und was nicht, das gibt es in Wien ohnedies schon viel zu oft. Ich wünsche mir möglichst professionelle Arbeit, und dass es einen künstlerischen Background gibt, dass die jeweiligen Truppen tatsächlich auf der Suche sind. Für die Bespaßung des Publikums gibt es andere Häuser in Wien, hier soll Platz sein für das professionelle Experiment. Dieser Raum soll einer sein, in dem Künstlerinnen und Künstler ihrer Kreativität freien Lauf, die Gedanken fließen lassen und sich austoben können. Das ist auch das Konzept, das der Stadt Wien vorliegt.

Das ist eigentlich alles. Szenische Collage nach Miniaturen von Daniil Charms, 2018. Bild: Jakub Kavin

Das Schloss, 2017. Bild: © Felix Kubitza / www.lichtmalerei.photo

RM Rilke – wie ist es möglich, da zu sein?, 2018. Vorne: Jakub Kavin. Bild: © Felix Kubitza / www.lichtmalerei.photo

MM: Und noch einmal nach den eigenen Themen gefragt?

Kavin: Wir gehen an die Themen ganz unterschiedlich heran, „Das Schloss“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=26330) von Kafka war etwa eine Romanbearbeitung,  „RM Rilke – wie ist es möglich, da zu sein?“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=28716) eine Textcollage, wir arbeiten mit Improvisationen, performativen Elementen, wir betreiben Stückentwicklung. Unsere aktuelle Produktion, „Anstoss – Ein Sportstück“, ist eine Textcollage aus autobiografischen Büchern und Interviews von Sportlerinnen und Sportlern oder Wortmeldungen von Funktionären und Trainern.

MM: Es kommen beispielsweise Thomas Muster, Lance Armstrong, Robert Enke oder Peter Schröcksnadel vor, und die behandelten Themen reichen von Homosexualität im Sport bis zu sexuellem Missbrauch, von der Droge Alkohol bis Doping, von patriarchalen Strukturen bis zu ungesundem Patriotismus. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Kavin: Ich finde es spannend, dass der Sport ein riesiges Showbusiness ist und damit der Kultur artverwandt. Gleichzeitig gibt es aber große Berührungsängste zwischen den beiden Disziplinen, es gibt im Kunstbereich etliche, die mit Sportrezeption gar nichts anfangen können und umgekehrt ist es genauso. Doch beides hat sein Publikum, der Sport in Wahrheit ein viel größeres, und diese Diskrepanz zwischen Faszination und Abstoßung interessiert mich. Sport hat faschistische Züge, ist aber auch – ich mag das Wort nicht – völker-, also Kulturen verbindend. Und: Sportlerfiguren sind außerdem wahnsinnig gute Theaterfiguren, weil die dramatische Fallhöhe so groß ist.

MM: Wie das?

Kavin: Weil es Menschen sind, die ungefähr zehn Jahre Zeit haben, ihren Beruf auszuüben, was vermutlich ein Grund ist, warum viele so skrupellos sind. Lance Armstrong zum Beispiel ging an jede Grenze, die man nur ansteuern kann, auch in seiner Art, wie er Menschen manipulierte, wie er mit den Medien spielte. Das ist doch eine Geschichte! Vom quasi Totenbett auferstanden zum größten Sportler aller Zeiten geworden – und dann als Doping-Bösewicht ins Bodenlose gefallen. Es gibt so viel zum Thema Sport, und wir können bei weitem nicht alles behandeln, aber gerade diese Diversität passt perfekt zur Arbeit der TheaterArche, die sich ja vorgenommen hat, genau das als gesellschaftliches Phänomen in ihren Projekten zu zeigen.

MM: Es gibt an jedem Abend einen Stargast. Wer kommt?

Kavin: Ganz wichtig: Die ehemalige Rennläuferin Nicola Werdenigg, die als erste den sexuellen Missbrauch im österreichischen Skiverband aufgebracht hat, und die auch schauspielerisch mitwirken wird, Franzobel, der ein großer Sportfan ist, Ulli Lunacek, weil sie erstens in einem Schwimmteam ist und zweitens aus der Blickrichtung des europäischen Parlaments berichten kann, Antidoping-Experte und Lauftrainer Wilhelm Lilge und viele andere.

MM: Ihre zweite Produktion wird dann „Mauer“ sein. Wird das eine Familiengeschichte? Ihre Eltern stammen ja aus der damals noch so genannten Tschechoslowakei.

Kavin: Ich bin ebenfalls dort geboren, in Brünn. „Mauer“ hat drei Gründe: Die Jahreszahl – 30 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs. Die Tatsache, dass Mauern, auch wenn sie „nur“ Grenzzäune sind, gerade wieder überall errichtet werden. Gefühlt werden weltweit derzeit mehr Mauern gebaut als Brücken geschlagen. Drittens natürlich die Familie, man schöpft ja immer aus dem, was mit einem selber zu tun hat. Ich kann mich sehr gut erinnern an die Zeiten vor 1989, als wir immer wieder an der grünen Grenze waren, und ich als 7-, 8-Jähriger meine Eltern gefragt habe, wieso die tschechoslowakischen Soldaten ihre eigenen Leute bewachen. Denn die haben nicht in unsere Richtung geschaut, sondern ins Land hinein und uns den Rücken zugekehrt. Die Systematiken dieses Regimes haben wohl nicht nur mir, der ich tatsächlich nicht über diese Grenze durfte, sondern den Ostösterreichern generell das Gefühl vermittelt, dass sie ein bisschen an einem Ende der Welt leben, von wo aus es nicht mehr weitergeht.

MM: Lassen Sie uns noch einmal übers Thema Geld reden. Sie haben schon Produktionen via Crowdfunding auf die Beine gestellt. Ist das kein Weg, den man fortbeschreiten kann? Wie sieht es mit Subvention aus?

Kavin: Crowdfunding darf man nicht ausreizen, je öfter man das macht, umso abgestumpfter sind die Leute. Letztlich ist es ein Betteln-Gehen bei Freunden. Zur Subvention: Ich stelle zwei Mal im Jahr Förderanträge und bekomme eigentlich immer ein Nein. Ich versuche nun, in Gespräche mit Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler zu kommen, hatte auch einen Termin, den aus Zeitgründen aber im Endeffekt ihre Referenten wahrgenommen haben. Da habe ich halt Vertröstungen gehört, im Sinne von, man könne anderen nichts wegnehmen, um uns etwas zu geben. Was interessant ist, denn beim Theater Brett ging’s umgekehrt schon. Es ist seltsam und schwierig. Tatsache ist, dass gläserne Decken eingezogen worden sind. Es gibt die sogenannte ortsgebundene Förderung, das ist ein Beschluss zur Förderung jener Theater, die es schon länger gibt, egal, ob sie was Gutes machen oder nicht – und für andere gibt’s kein Geld. Sie drehen sich’s halt immer, wie sie’s brauchen, um das Ziel zu erreichen, das sie wollen. Und das ist offensichtlich, Theater abzuschaffen.

www.theaterarche.at                www.jakubkavin.com

Kritik: Anstoß – Ein Sportstück: www.mottingers-meinung.at/?p=31865

24. 1. 2019