Landestheater Linz Netzbühne: The Wave / Die Welle

März 27, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Experiment ist rundum geglückt

Kathrin Schreier, Lukas Sandmann, Alexander Findewirth, Celina dos Santos, Lena Poppe, Samuel Bertz, Paolo Möller, Malcolm Henry und Caroline Juliana Hat Bild: © Reinhard Winkler

Ende der 1960er-Jahre unterrichtete Ron Jones Geschichte an der Cub­berly High School im kalifornischen Palo Alto. Er war ein unkonventioneller Lehrer und für seine radikalen Methoden bekannt. Jones war ein Kumpeltyp, er wohnte im Baumhaus und spielte Punk. Er war bei den Schülerinnen und Schülern sehr beliebt. An einem Montag im April 1967 – Ron Jones da gerade mal 25 Jahre alt – stand er am Beginn eines Kurses über den Aufstieg des Nationalsozia­lismus vor der Klasse.

Im Unterrichtsgespräch stellte sich heraus, dass seine 15-, 16-jährigen Schutzbefohlenen eines nicht verstehen konnten: Wie war es möglich, dass sich so viele „Psychos“ den barbarischen Ansichten und Methoden von Verbre­chern unterworfen haben? „Man versteht nur das, was man erfahren hat“, kam Jones spontan die Idee zu einem Experiment, dessen Tragweite er allerdings nicht abzu­schätzen vermochte: The Third Wave, „Die Welle“, bekannt als Filmdrama mit Jürgen Vogel, nun als Auftragswerk des Landestheater Linz zur Uraufführung gebracht.

Als Musical „The Wave“ von Komponist und Librettist Or Matias (www.ormatiasmusic.com) – Corona-bedingt als Online-Premiere auf der hauseigenen Netzbühne. Die Produktion ist bis 17. April auf www.landestheater-linz.at/netzbuehne für jeweils 48 Stunden ab dem Ticketerwerb zu streamen, pay as you wish! Diese ins Internet zu verlegen, mag wahrlich keine leichte Entscheidung gewesen sein, doch kann man angesichts der Spannung und Stimmung, die sich auch via Bildschirm überträgt, getrost sagen: Dieses Experiment ist rundum geglückt!

In der Inszenierung von Christoph Drewitz und mit Juheon Han am Pult und an den Keyboards überzeugen die Mitglieder des Linzer Musicalensembles Christian Fröhlich, Hanna Kastner, Lukas Sandmann und Celina dos Santos sowie die Studierenden des Studiengangs Musical an der Musik und Kunst Privatuniversität Wien Samuel Bertz, Malcolm Henry, Alexander Findewirth, Carolina Juliana Hat, Paolo Möller, Lena Poppe, Alexander Rapp und Kathrin Schreier mit ihrer schauspielerischen wie gesanglichen Leistung.

Gleich zu Beginn stellt Christian Fröhlich als progressiver – und sind das nicht stets die gefährlichsten? – Pädagoge Ron klar: „Um Menschen wie euch geht es in meinem Kurs: schwach, durchschnittlich, beeinflussbar.“ Das wollen Jess, James, Stevie und Robert freilich nicht auf sich sitzen lassen, und noch dazu lockt Ron mit Einsernoten. Schon ist man auf die Parole „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Zusammenhalt! Kraft durch Taten! Kraft durch Stolz!“ eingeschworen, ein Schelm, wer hier an „Kraft durch Freude“ denkt, denn auch der eingeübte, salutierte Wellen- erinnert an den Deutschen Gruß. Eine blaufarbene Uniform wird eingeführt.

„Mr. Jones“, den Christian Fröhling zwischen zwielichtig und blindwütig von seinem Vorhaben enthusiasmiert anlegt, gefällt sich mehr und mehr in der Rolle des An/Führers. Einzig die einzelgängerische Musterschülerin Ella, ein kritischer, alle und alles hinterfragender Geist, Hanna Kastner mit sehr intensivem, aufrüttelndem Spiel, widersetzt sich Jones‘ protofaschistischer Bewegung. Sie wird zum Schluss zur „Wellenbrecherin“ werden.

Dos Santos, Sandmann und Henry. Bild: © Reinhard Winkler

Samuel Bertz und Hanna Kastner. Bild: © Reinhard Winkler

Celina dos Santos mit Ensemble. Bild:© Reinhard Winkler

Fröhlich und die MUK-Studies. Bild: © Reinhard Winkler

Nicht nur Hanna Kastner, auch die anderen Solistinnen und Solisten sind perfekt gecastet. Allen voran brilliert Lukas Sandmann als schüchterner Außenseiter Robert, der von seinen Mitschülern gemoppt wird, bis diese sich samt ihm zur Gemeinschaft formen. Sandmann gibt genau die tragische Figur, die Robert ist, den das neue Zusammengehörigkeitsgefühl aus seinem Schneckenhaus holt, der sich in der Organisation bald zur Nummer zwei hinter Mr. Jones hocharbeitet, sich als solche als erster radikalisiert und zum scharfen Regelhüter wird – und wie Sandmann das darstellt, bis hin zum Welteneinsturz nach dem Ende der Welle, kommt man nicht umhin, an einen gescheiterten Kunstmaler zu denken. Oder an Krakeeler auf der Praterwiese.

Celina dos Santos gibt das Prekariatskind Jess als freche Göre, die zusammenstiehlt, was sie sich nicht leisten kann. Auch ihr verschafft die Welle gesellschaftlichen und hierarchischen Aufstieg. Ihr am nächsten steht Stevie, und als dieser berührt Malcolm Henry nicht nur mit seinem Sportass-Song, auf dem Basketballfeld ein Held, in der Schulstunde ein Schafskopf, sondern auch bei einem von Ron verlangten Ausplaudern persönlichster Geheimnisse. Während der brave, angepasste, in Ella verliebte James von Samuel Bertz über einen verpatzten Auftritt bei einem Singer/Songwriter-Contest jammert, verrät Stevie, dass er immer noch mit Stofftier einschlafe.

Bis aus ihm eine Geschichte von familiärer Gewalt platzt. Derart beklagt, verklagt das stimmlich höchst harmonische Quintett die kleinkarierte Stadt, die kleingeistigen Eltern. Perspektive nirgendwo, Probleme allüberall, man kriege keine Luft, singen die fünf, von „Arbeitsmarktkrise, Armutsspirale, sinnlosen Wahlen“. Die Corona-Jugend anno 2020/21 geistert einem im Kopf herum, Distance-Learning, Schichtbetrieb in Schulen, Präsenzunterricht, das klingt schon nach Präsenzdienst.

Gruppengefühl könnt‘ auch was Gutes sein, doch hier wird aus Worten eine Front der Aggression, in der sich das Individuum, die Identität des einzelnen auflöst, schnell ist man auf dem rechten Weg. „Rechts um!“, wie Ella sarkastisch kommentiert. Wie jeder Ver/Führer hat Ron ausgefahrene Antennen für diese Emotionen, „das Buch des Lebens ist ein Witz, den uns jemand auf die Seiten spuckt“, konstatiert er, dazu Or Matias‘ Musik immer haarscharf neben der Spur eines 1950er-Jazz‘, atonal, oft kakophonisch.

Eine Hommage – Ellas Lieblingsautor Langston Hughes arbeitete ja mehrmals mit Kurt Weill zusammen, unter anderem an der ersten afroamerikanischen Oper „Street Scene“. Melodisch, ja hymnisch wird’s immer dort, wo’s um Wellen-Propaganda geht, was einen mitreißt, auch wenn man weiß, dass es falsch ist. Das ist der „Tomorrow belongs to me“/“Der morgige Tag ist mein“-Effekt, wenn es heißt: „Du einsamer Funke, strahlendes Wunder / Blende die Welt, bis sie brennt / Sei endlose Sonne für uns …“ Kein Wunder gehören Lukas Sandmann mit seiner schönen Musicalstimme die meisten Balladen.

Hanna Kastner und Celina dos Santos. Bild: © Reinhard Winkler

Christian Fröhlich und Ensemble. Bild: © Reinhard Winkler

Christian Fröhlich und Ensemble. Bild: © Reinhard Winkler

Hanna Kastner und Lukas Sandmann. Bild: © Reinhard Winkler

Veronika Tupy hat fürs turbulente Treiben ein raffiniertes Bild, einen sich drehenden Quader mit halbdurchsichtigen Wänden auf die Bühne gestellt. Diese nicht nur verschiebbar, so dass sich immer neue Räume öffnen und ungeahnte Sackgassen schließen, sondern auch genutzt als im doppelten Wortsinn Projektionsflächen, vom gezeichneten Plattenspieler über Schattentheater bis zur Großaufnahme beseelter Gesichter – wiewohl die Kamera sowieso closeup-vernarrt ist.

Immer schneller, pulsierender, dringlicher wird der Rhythmus der Musik, dazu die zackige Choreografie von Hannah Moana Paul, neue Welle-Mitglieder werden rekrutiert, Ella per Schattenspiel zusammengeschlagen; Robert baut ein Spitzelsystem auf, Ron lässt sich von seinen Parteigängern auf Händen tragen. Die Gleichschaltung der Köpfe eskaliert, Mr. Jones ist die Situation längst so entglitten, wie den Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstranten, die Kenntnis darüber, wer aller unter ihnen marschiert.

Ron Jones bittet die Schülerinnen und Schüler zur „Kundgebung“ in die Aula, eine aufputschende Rede, mit der er sie vorstellen will, „die neue Alternative, die „Allianz für“, den neuen „Führer“, und auf Filmaufnahmen erscheint – eh schon wissen. „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ / „History doesn’t repeat itself, but it does rhyme“, sagte Mark Twain. Ron, beste Absichten, schlechtester Ausgang, erachtet sein Experiment damit also als beendet. Doch nicht so der zutiefst verletzte und verzweifelte, weil einmal mehr einem Schwindel aufgesessene, nunmehr bewaffnete Robert …

Fazit: Trotz Home Theatre ist „The Wave“ aus dem Landestheater Linz ein Bühnenereignis. Jonatan Salgado Romero und Constantin Georgescu hinter den Kameras schaffen mit ihrem Mix aus Großaufnahmen, Totalen und Halbtotalen beinah Saalatmosphäre, ebenso die Tonmeister Christian Börner und Gerald Landschützer. Agiert wird von allen ganz großartig, die MUK-Studierenden zeigen beim Singen, Tanzen, Spielen ihre 1A-Ausbildung, und gleich einer Mahnung im Gedächtnis bleibt Lukas Sandmanns glaubhaft erschreckende Wandlung vom Underdog zum Fanatiker, der, sobald er durch die Welle Macht erlangt, seinen heißgestauten Frust abkühlt.

Und würd’s, wenn wieder live gespielt wird, noch gelingen das Schimpfwort „Hackfresse“ gegen ein gebräuchlicheres zu ersetzen, es muss ja nicht gleich „Ogrosl“ sein, dann würde aus einer fabelhaften Aufführung eine fantastische. Bis 17. April auf www.landestheater-linz.at/netzbuehne für jeweils 48 Stunden ab dem Ticketerwerb zu streamen. Pay as you wish!

www.landestheater-linz.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=x45S6wgxKUk

  1. 3. 2021

James Salter: Jäger

Oktober 15, 2014 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Die Jäger werden zu Gejagten

d0b4392794Männer, die jagen, stehen im Mittelpunkt von James Salters literarischem Erstling, der seit Kurzem nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Doch die Jäger jagen nicht nach Tieren. Sie jagen Kampfjets, in denen andere Jäger sitzen. Für Ruhm und Ehre und einen kleinen roten Stern am Flugzeug eines Piloten, direkt unter das Cockpit gemalt – als Zeichen des Abschusses, der von einem anderen Flieger bestätigt werden musste. Ort der Handlung ist der Korea-Krieg, der zwischen 1950 und 1953 ausgetragen wurde. Jetflugzeuge waren gerade neu im Einsatz, und die ersten Kämpfe zwischen ihnen fanden statt, als die Sowjetunion die kommunistischen Armeen von China und Nordkorea mit Flugzeugen (MiG 15) und Piloten unterstützte. Ihnen entgegengesetzt wurden vor allem Jets (F-86) der USA. Luftraketen gab es damals noch keine, geschossen wurde mit Maschinengewehren, die bei Feuergefechten über Munition für maximal elf Sekunden verfügten.

„Kampfpiloten kämpfen nicht, wie Saint-Exupery schrieb, sie morden, und das taten sie für gewöhnlich, indem sie sich, so nah es ging, ans Heck der feindlichen Maschine hefteten und feuerten“, schreibt Salter in seinem Vorwort. „Jäger“, 1956 geschrieben, 1957 erschienen und 1997 von ihm leicht überarbeitet und neu herausbracht, ist der erste Roman von Salter und zugleich einer seiner prägnantesten. Auf den ersten Blick ist für die „Helden“ des Romans Töten ein Sport. Aber es geht Salter schon in seinem Erstling um den Menschen: Was ihn antreibt, demotiviert, aber auch um das berauschende Gefühl des Siegens und am Schluss das Scheitern. Der Roman ist autobiographisch und stützt sich auf seine Erfahrungen als Kampfflieger im Korea-Krieg. Während auf dem Boden ein schwerer Bürgerkrieg stattfindet, wetteifern die Piloten in der Luft in ihren Kampfeinsätzen um die begehrten fünf Kills – den gültigen Nachweis dafür, dass man ein „Ass“ ist. Und dafür gehen einige über Leichen. Konkurrenz, Sehnsucht, Neid und auch Verrat bestimmen das Leben der Männer. Motive, die Salter auch in späteren Romanen in den Mittelpunkt rückt.

Der US-Autor schildert in einer kurzen und nüchternen Sprache die Motive und Gedanken der Kampfjäger. Ein Vergleich mit Hemingway drängt sich unwillkürlich auf. Und wer zu viel denkt, wird am Schluss zum Opfer und fällt buchstäblich vom Himmel – unblutig, einfach. Die Zerrissenheit zwischen der unbedingten Pflicht, für die Sicherheit der Kameraden zu sorgen (die oberste Pflicht des Wingman, der als „Bodyguard“ für seinen Führer fungiert), und der Waghalsigkeit, die nötig ist, um den Feind zu eliminieren, droht die Hauptfigur, Cleve Connell, zu zerstören. Cleve ist Captain, abgeklärt und sorgt sich um seine Fliegerstaffel. Eigentlich ist er nicht gekommen, um nur zu überleben, aber Abschüsse stellen sich nicht ein – und das nagt an seinem Ego. Als dann auch noch ein junger Leutnant, Pell, zur Truppe stößt, eskalieren die Ereignisse. Pell geht für seinen eigenen Ruhm über Leichen. Er liebt die Männerrituale und Auszeichnungen, Cleve folgt dem Ehrenkodex. Aber mit seiner Leichtsinnigkeit hat Pell Erfolg, sprich: Abschüsse. Und das steht bei seinen Vorgesetzten hoch im Kurs. Am Ende bleibt Cleve allein, seine alten Freunde sind großteils tot, die Neuen wissen mit dem „Alten“ nichts mehr anzufangen. „Die Stuben füllten sich zusehends mit neuen Gesichtern, jede Woche waren es mehr. Sie wusste nichts von der Vergangenheit, oder wie heilig sie war.“ Und so fliegt er am Schluss seinem letzten Einsatz entgegen und „ihre Geschosse waren in ihn eingedrungen, während sie ihm bis nach unten folgten und auf ihn feuerten, die ganze Zeit, mit jener ansteckenden Leidenschaft, die Jägern eigen ist.“ Und so endet ein Jäger. Nach der Veröffentlichung des Romans quittierte Salter seinen Dienst als Kampfpilot.

Über den Autor
James Salter, 1925 in Washington D.C. geboren und in New York aufgewachsen, wurde mit seinen großen Romanen „Lichtjahre“ und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ auch im deutschsprachigen Raum berühmt. Er diente als Kampfflieger zwölf Jahre lang in der US Air Force und nahm 1957 seinen Abschied, als sein erster Roman, „The Hunter“ (Jäger), erschien. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller in New York City und auf Long Island. Er gilt als moderner Klassiker der amerikanischen Literatur.

Berlin Verlag, James Salter: „Jäger“, 304 Seiten. Aus dem Englischen übersetzt von Beatrice Howeg.

www.berlinverlag.de

Wien, 15.10. 2014

TAG: Shut (me) down

Oktober 9, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Europas Stier ist nur noch ein Totenschädel

Bild: Anna Stöcher

Bild: Anna Stöcher

Was passiert, wenn ein Philosoph und Mathematiker mit kompliziertem Trümmerbruch im Bett liegt? Er schreibt ein Stück. Und zwar ein großartiges. Steffen Jäger verfasste fürs TAG „Shut (me) down oder Der Weg ins Zentrum des Abseits“, fungierte auch gleich als Uraufführungs-Regisseur, und ließ sich für sein Autoren-Debüt von Iwan Gontscharows Roman “Oblomow” inspirieren. Allerdings: Sehr frei nach … dem Bettgenossen. Zur Erinnerung: Der 1859 erschienene „Oblomow“, nach dem auch ein psychiatrisches Symptom benannt ist, ist der Prototyp des faulen russischen Adligen. Er verliert sich in den Traum eines geborgenen, sicheren, von aller Verantwortung freien Lebens, in dem der Schlaf Zentrum und Schwerpunkt der täglichen Verrichtungen ist. Der Roman ist eine engagierte Anklage gegen die herrschende Gesellschaft der Gutsbesitzer, des Land- und des Dienstadels. Oblomows Tod das Ende eines vergeudeten, ungenutzten Lebens.

Nun Jäger: Lilie (Julia Schranz) hat das Investmentbanking im kleinen Finger. Sie fällt die Karriereleiter steil nach oben. Alles scheint berechenbar. Das Leben ist letztlich nur das, was man fest im Griff hat. Doch eines Morgens steht sie einfach nicht mehr aus dem Bett auf. Ihr schwant etwas. DRAUSSEN sieht es nicht gut aus. DRAUSSEN lauert die Verantwortung. DRAUSSEN bricht das System zusammen. „Hatten wir das nicht schon mal?“, ist der leitmotivische Satz, den im Laufe der Inszenierung alle Figuren sagen werden. Und während die Krise DRAUSSEN ihre Wellen schlägt, bleibt Lilie einfach liegen. Ihr irritiertes soziales Umfeld wählt das Mittel der Belagerung … Dabei beginnt alles so schön auf einem weißen Podest (Bühne: Alexandra Burgstaller; Kostüme: Aleksandra Kica), auf dem Lilies Beförderung gefeiert wird. Gut, dass der Börsenbulle nur noch als Skelettschädel daliegt, könnte irritieren. Und, dass Lilies Boss am nächsten Tag verschwunden ist. Schon mal bemerkt, dass die Begriffe Bankenchef und Bandenchef nur ein Buchstabe trennt? Lilie, gerade noch dabei, durch perfektes Investieren Geld zu machen, um es in die nächste Finanzkatastrophe zu stecken – das Spiel der „neuen“ Generation -, verkriegt sich unter  der Bettdecke. Und findet ihr neopoststrukturistisches Heim plötzlich Scheiße.

Der Dramatiker Steffen Jäger entpuppt sich als Satiriker, als Sprachspieler, als Wortejongleur, der seine Figuren in skurril-sarkastische Situationen treibt. Was in den Dialogen nicht passt, wird passend gemacht. Redest du deins, rede ich meins. So kalauert sich das Ensemble durch Halbsätze im Serve-and-Volley-Spiel. Alles ist eindeutig zweideutig. Etwa Julia Schranz‘ U-Bahn-Ansage, man möge den Spalt zwischen Waggon und Perron beachtet. „Je mehr wir in die Renovierung investieren, um so größer wird er.“ Was will man auch erwarten vom „Proletenschlauch“?

Lilies Unproduktivität – und Schranz kann wunderbar mit der Gesteppten von einer Ecke der Bühne in die andere robben – bringt eine Schar weder so irr- noch so witziger Personen auf. Da muss doch was, da muss man doch … Der erste „Durchgreifer“ ist Georg Schubert als Ehemann Robert, ein Lokalpolitiker, für den das alles wahnsinnig peinlich, aber weil Hochzeitstag und so, und Anschleimen sowieso sein Geschäft – keine Chance. Ein Sieg immerhin: Da außer ihm keiner mehr zur Wahl geht, gewinnt er mit 100% der Stimmen. Jens Claßen spielt den vor Zukunftsfurcht ganz zerfressenen Untergebenen Schachinger, der, es wäre wegen einiger Unterschriften … Elisabeth Veit als Schwester Rosa und Emese Fáy als gleich morgen ihren Jahrhundertroman beginnende Schriftstellerfreundin Helene scheitern ebenso beim Deckenwegziehen. Nur Hund Brutus (Raphael Nicholas erfüllt alle Hol’s-Balli- und Gib‘-dem-Fraudi-ein-Bussi-Erwartungen besser als Martin Rütters Vorzeigewauwaus) freut sich. Was gibt es Schöneres, als sich den ganzen Tag im Bett herumzuflätzen? Da kann aus dem Bäuchleinkraulen schon ein „Ja, ja, ja, tu es“ werden. Na ja.

Jäger fügt diesen Merk- noch ein paar Denkwürdigkeiten hinzu. Das Highlight: Der Chor der Obdachlosen, von Claßen, Nicholas und Veit angelegt wie in der griechischen Tragödie, samt Wehgeschrei, bekannt nur aus Performances auf Bühnen, nicht aus dem Fernsehen, vielleicht noch als dokumentarische Häppchen, als sozialkritisches Requisit, auf Festen, auf denen „die anderen“ andere Häppchen fressen. Sehr schön auch Fáy als Mona Lisa (echter Kopf in fotokopiertem Gemälde), die erbost ihre Geschichte erzählt. Nämlich, dass erst der Diebstahl durch Vincenzo Peruggia und die damit verbundene öffentliche Erregung ihr ihren Ruhm beschert hätten (und, dass sie seit 500 Jahren ihren podice nicht mehr gesehen hätte) – ein mit Verve hingeworfenes Kabinettstück über die Werteskala von Kunst. Jäger spielt mit virtual und reality, lässt Konsoleninhaftierte und Autorenschaftinternierte miteinander agoraphobien. My home is my pokey. Und dann natürlich sie: Europa (Veit) mit dem Stier(schädel). Sich beklagend, dass ihr Name nur noch ein Wort zum Handeln, im Sinne von Ware, von Preisschacherei, nicht im Sinne von zur Tat schreiten, ist. „Als Hure habe ich begonnen und als Hure werde ich enden.“

„Schleichende Fehler werden erst bemerkt, wenn sie schon rennen.“ Noch so ein jägerscher Halali-Satz. Und so danken die Darsteller den Menschen zum Schluss, dass sie so konsequent inkonsequent sind. Dank zurück für diesen intelligenten, ironischen Abend, für diesen ideenreichen Text und dessen imposante Darbietung. Anm. laut Prof. Jäger, Lexikon der Krise: Stier sind wir schon, jetzt muss es nur noch in den Schädel rein.

http://dastag.at

Trailer: http://vimeo.com/108120574

Wien, 9. 10. 2014