Burgtheater: Ingolstadt

September 5, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Die Wasserschlacht der jungen Wilden

Jan Bülow, Tilman Tuppy und Lukas Vogelsang. Bild: © Matthias Horn

„Ingolstadt“ in der Inszenierung von Ivo van Hove ist von den Salzburger Festspielen ans Burgtheater übersiedelt, und liest man die Rezensionen von der Perner-Insel, waren die KollegInnen entweder in einer anderen Aufführung oder es wurde an dieser im August noch intensiv gearbeitet. Selten jedenfalls sieht man scheinbar somnambule Schattengeschöpfe zu solch Scheusalen mutieren und derart unvermittelt in Gewalt ausbrechen, dass es beim Betrachtenden ein geradezu körperliches Unwohlsein auslöst. Ein enthemmter Totschlag, ein grausames Waterboarding, die unerbittlichen Vergewaltigungen – und das alles sehr sorgsam in Szene gesetzt.

Auf emotionale Implosion folgt die Explosion, man spürt die vom kalten, katholischen Generalgewissen diktierte Scham, die Sehnsucht, sich aus einer fatalen Herkunft emporzuziehen, spürt das vorprogrammierte Scheitern, die Wut im Bauch mit voller Wucht am eigenen Leib. Zur Wasserschlacht der jungen Wilden gilt es fünf neue Ensemblemitglieder zu begrüßen: Dagna Litzenberger Vinet als Alma, Maximilian Pulst als Korl, Jonas Hackmann als Fabian, Lukas

Vogelsang als Christian und Julian von Hansemann als Rosskopf – und wer fragt, wie sich dieser Figurenreigen ineinanderfügt: Nun, Koen Tachelet hat Marieluise Fleißers Stücke „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ zu einem gemacht, das erste aus dem Jahr 1924 von der Kritik hochgelobt, Fleißers Debütschauspiel über das Rudelgesetz unter Gymnasiasten und deren Umgang mit Ausgestoßenen, das zweite 1929 von Bert Brecht erzwungen und „bearbeitet“, weil sie den Ton hatte, den er nicht finden konnte, weil er sich via Theaterskandal einen Namen als Rebell und Erneuerer machen wollte.

Toxische Männlichkeit allüberall – von der Entstehungsgeschichte des Werks bis zum Inhalt der „Komödie“: Küstriner Soldaten sind für den Bau einer Holzbrücke in Ingolstadt stationiert, was die Dienstmädchen Berta und Alma auf Liebespfaden wandeln lässt, wobei die Almas durchaus ins Professionelle führen. Das Ineinander-Fließen-Lassen der beiden Texte wirkt dank Tachelet bemerkenswert selbstverständlich und vollkommen logisch. In dichten Dialogen erzählt er tatsächlich beide Stücke parallel. Szenen werden wechselweise gespielt und bleiben überwiegend im Original. Gelegentlich greift sogar das Personal des einen Stücks in das andere ein. Der harte Kerl Peps ist ein Kumpel vom mit seinem Vater hadernden Elegiebürscherl Fabian und beide per Outfit ausgewiesen als Provinz-Rocker, Olga kann sich nur mit letzter Kraft vor den sexhungrigen Pionieren retten, der sinistre, undurchschaubare Protasius taucht mal in der Gruppe auf, mal in jener unter.

Für diese dysfunktionale Gesellschaft, in der Verschlossenheit und Verstocktheit die Verletzlichkeit kaschieren, hat Bühnenbildner Jan Versweyveld eine Wasserlandschaft mit gefährlichen Tiefen zum Ertrinken und Ertränken erdacht („Fegefeuer“ sollte ursprünglich „Die Fußwaschung“ heißen), dazwischen kleine Inseln, darüber bunte Lichterketten wie beim immerwährenden Volksfest, an drei Seiten Weltspiegelwände, manchmal auch eine Leinwand für Videoprojektionen und giftgrüner Nebel, dazu Türme mit Megafonen, die unangenehm an Lager erinnern, ein Nährboden für Feinseligkeiten, ein Flickwerk aus Hindernissen und Abgründen. Zum Beginn im Sonnenuntergang sagen alle brav knieend das Glaubensbekenntnis auf, zum Schluss das Vater unser, dazu dezent irrlichternde Choräle.

Der Abend beginnt mit der von Peps schwangeren Olga, Marie-Luise Stockinger ruppig und Tilman Tuppy rabiat, die bei der Engelmacherin schnell das Weite gesucht hat. Das wiederum hat der, weil er einem Hund die Augen ausgestochen hat, von der Schule expedierte Roelle gesehen, der Love Interest Olga nun mit seinem Wissen über den „Widersacher“ in ihrem Uterus (so Olga über den Fötus) zu erpressen sucht. Roelle hält sich selbst für einen Heiligen, erzählt leider den falschen Leuten, dass ihn die Engel besuchen, weshalb er hier nicht von den Mitschülern, sondern von den Pionieren gefoltert wird – und Jan Bülow ist grandios als creepy Schmerzensmann, der die Augen bis zum nur noch Weißen verdreht, wenn die himmelschreiende Ungerechtigkeit ihn demütigt.

Lukas Zach, Julian von Hansemann, Oliver Nägele, Etienne Halsdorf und Marie-Luise Stockinger. Bild: © Matthias Horn

Der Schmerzensmann und seine Mater dolorosa: Jan Bülow und Elisabeth Augustin. Bild: © Matthias Horn

Jan Bülow, Rainer Galke als mysteriöser Protasius und Marie-Luise Stockinger. Bild: © Matthias Horn

Marie-Luise Stockinger, Pioniere (M.: Gunther Eckes) und Dagna Litzenberger Vinet. Bild: © Matthias Horn

Nicht weniger durchdringend die nächste Niedertracht, diesmal die von Maximilian Pulst als Pionier Korl Lettner, dem sich die Berta von Lilith Häßle an den Hals wirft, obwohl die jungfräuliche Hausgehilfen nach dem Willen des Hausherrn eigentlich Fabrikantensohn Fabian Unertl, so sensibel wie gereizt: Jonas Hackmann, zum Mann machen soll. Korl warnt Berta vor wahrer Liebe: „Da kann ich bös sein, wenn eine gut zu mir ist. Die Frau wird von mir am Boden zerstört, verstehst.“ Und so geschieht es auch.

In den Ingolstädter Stücken spielen drei Machtstrukturen eine Rolle: Hier die subtileren von Patriarchat und Kirche als Beschleuniger der Katastrophe, dort die durchschaubare, aber nicht minder wirkungsvolle Hierarchie des Militärs. Zwei Systeme, zwei Mal Zwangsjacken. Sie dominieren das soziale Leben und verlangen Unterwerfung für die sittliche Säuberung und den Schutz, den sie dadurch bieten. Im fliegenden Wechsel der Allianzen, zwischen all den imaginiert-seelischen und tatsächlich messerscharf gezückten Waffen findet niemand seinen Platz. Fleißer will das nicht analysieren, sie will zeigen, wie sogenannte moralische Richtlinien eine Gemeinschaft wie mit Säure zersetzen, wenn der einzelne den Geboten und Verboten nicht standhalten kann. Tachelet und van Hove folgen der Dramatikerin auf diesem Weg – oder um den ihr so unlieb gewordenen Brecht zu bemühen: der Vorhang zu und alle Fragen offen.

„Alma“ Dagna Litzenberger Vinet versucht sich als Nachwuchs-Prostituierte, um der modernen Sklaverei einer Dienstmagd in die fragwürdige „Freiheit“ zu entschlüpfen, wird vom großartig von Gunther Eckes verkörperten Münsterer und vom Rosskopf des Julian von Hansemann bedrängt, schließlich vom Feldwebel genommen und ausgenommen. Der Druck steige immer von oben nach unten, vom General zum Major zum Hauptmann, „je mehr nach unten, desto reißender wird der Zorn, desto mehr wirkt er sich aus“, hält der lapidar fest und kommandiert ein „Rechts um!“ Bierzeltstimmung, aktuelle Wahlkampf-Atmosphäre herrscht im Menschenzirkus der Monstrositäten, der Wutbürger und Verschwörungstheoretiker. Beunruhigend ist das: Der Wiedergänger Ingolstadt ist immer und überall – beim ersten Mal dauerte der Albtraum Jahre, binner derer man hierzulande und beim Nachbarn diese dreckig-gärende Brühe auschwitzen musste.

Lili Winderlich und Lukas Vogelsang. Bild: © Matthias Horn

Maximilian Pulst und Lilith Häßle. Bild: © Matthias Horn

Jonas Hackmann und Dagna Litzenberger Vinet. Bild: © Matthias Horn

Die Jungs, die Gang um Peps und Fabian, dabei auch Lukas Vogelsang als Olgas Bruder Christian, klaut der Armee Holz für die Ausbesserung des eigenen Badestegs, der Feldwebel beschuldigt Korl und seine Mannen, der will aus Roelle-Pendant Fabian ein Geständnis erpressen. „Das alles geht dich gar nichts an“, erläutert der brutal auftrumpfende Münsterer seinem Opfer. „Aber das wär grad für dich was, und dass lass ich jetzt an dir aus.“ Die einzige Funktion von Gewalt besteht darin, sie weiterzugeben. Alldieweil dämmert der auf Olga eifersüchtigen Clementine, Lili Winderlich mit Vernaderer-Gen, dass das Schicksal der Schwester nichts weniger als die Ächtung durch die Gemeinde bedeutet.

Währenddessen schauen die Pioniere dem verhassten, weil seine Macht missbrauchenden Feldwebel beim Untergang in den Donaufluten zu. Als dieser Kommisskopf brilliert Oliver Nägele, sowie als Olgas Vater Berotter, der sich vor den Befindlichkeiten seiner Kinder in Ohnmachten rettet, und als Geschäftsmann Unertl, der mit dem selber früher oft gehörten Satz, die neue Generation wisse gar nicht wie gut’s ihr gehe, die Meinung der Altvorderen in Ingolstadt zusammenfasst. Zu diesen gehört auch die famose Elisabeth Augustin als Roelles Mutter, eine ihn unterdrückende, ihn dirigieren wollende Mater dolorosa. Die Szenen zwischen Augustin und Bülow gehören mit zu den besten, ebenso die Erscheinungen von Rainer Galke als Agent Provocateur Protasius, der den „vom Teufel besessenen“ Roelle einem Doktor überantworten will – und honi soit, der da an einen mit den Initialen J.M. denkt.

Weder Tachelet noch van Hove haben aus dem Blick verloren, dass Fleißer aus weiblicher Perspektive erzählt – und sie haben dafür die richtigen Mitstreiterinnen. Dagna Litzenberger Vinet, Lilith Häßle, Lili Winderlich und Marie-Luise Stockinger fegen mit ihrem psychischen wie physischem Leid, ihrer Verachtung, ihrer Wucht, ihrem Trotz, ihrer sprachlichen Präzision alle an die Wand. Und doch finden sie kein Glück. Das ist die bitter-ernüchternde Wahrheit von „Ingolstadt“. Zum Ende seiner emphatisch-energetischen Schauspielleistungen stellt sich das Ensemble im Gegenlicht zum Chor auf. „Ein Lied!“ fordert der nächste Feldwebel, der in Gestalt von Oliver Nägele der alte ist. Und die Meute singt:

Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel
Weil wir so brav sind, weil wir so brav sind
Das sieht selbst der Petrus ein
Er sagt: „Ich lass‘ gern euch rein“
Ihr ward auf Erden schon die reinsten Engelein …

Teaser: www.youtube.com/watch?v=K4mJ5AM7Pqo           www.burgtheater.at

5. 9. 2022

Ismael Ivo. Ich glaube an den Körper

August 9, 2022 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Umfassende Hommage an einen Ausnahmekünstler

Bild: Anno Wilms, 1991 © Stiftung Anno Wilms

1955 als Sohn eines Bauarbeiters und einer Putzfrau in einem Armenviertel in São Paulo geboren, wurde Ismael Ivo zu einem der bekanntesten, erfolgreichsten, faszinierendsten Tänzer und ein weltweit gefeierter Choreograf. Als Initiator und Direktor von Festivals wie dem ImPulsTanz Festival in Wien, das er 1984 mit Karl Regensburger gründete und das zum größten europäischen Tanzfestival heranwuchs, hat er Tanzgeschichte geschrieben und wurde dafür 2019 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.

Künstlerisch ging er enge Verbindungen mit Johann Kresnik, Marcia Haydée, Ushio Amagatsu, George Tabori, Koffi Kôkô und vielen anderen ein. Heute ist er eine Symbolfigur der afrobrasilianischen Emanzipation.

Der Band „Ismael Ivo. Ich glaube an den Körper“ versammelt Interviews aus verschiedenen Epochen seines Schaffens, Erinnerungen von Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter in Brasilien und Europa, Bildessays von Anno Wilms und Dieter Blum sowie ein umfassendes Werkverzeichnis.

So zeichnet die Publikation erstmals das Leben und Wirken eines Ausnahmekünstlers und -menschen nach. „Ismael Ivos Erbe ist im Wesentlichen immateriell, überliefert allein in den Erinnerungen an seine überwältigende Präsenz auf der Bühne, in den Fotogra­fien, Filmen und Videodokumentationen, in den Interviews, in den Bewegungsimpulsen, die er in zahllosen Workshops und Gesprächen gesetzt hat. Exemplarisch hat sich für uns mit diesem Projekt die Frage gestellt, wie eine Persönlichkeit, die in ihrem Wirken radikal auf körperliche Transformation und Vermittlung setzte, in einem Buch dargestellt werden kann“, so Johannes Odenthal und ImPulsTanz-Intendant Karl Regensburger über ihre „unvollendete Rekonstruktion eines Lebenswerks“.

In Interviews hat Ismael Ivo über die Prozesse des Verkörperns, des Aufnehmens von politischen, gesellschaftlichen, künstlerischen oder kulturellen Themen gesprochen: die konkrete Form eines ästhetischen Meta­bolismus. Er bezieht sich immer wieder auf das erste kulturelle Manifest der brasilianischen Moderne, auf die Antropofagia, mit der sich eine Gruppe von SchriftstellerInnen und Schriftstellern um Oswald de Andrade von der europäischen Kolonialisierung emanzipierte.

„Ismael Ivo. Ich glaube an den Körper“ ist der gelungene Versuch einer zeitgenössischen archäologischen „Grabung“, die in der Zusammenstellung vieler Perspektiven das Schaf­fen eines Ausnahmekünstler erfahrbar macht. Dabei wird deutlich, dass das Werk von Ismael Ivo vor allem auch durch die Verbindung mit seiner individuellen Biografie als Afrobrasilianer auf eine zukünftige Entwicklung der Performing Arts wirken wird. Die Themen Rassismus, Identität, post­- und neokoloniale Verwerfungen sind in seinem Werk substanziell ver­ankert.

„Mein schwarzer Körper steht in einer Beziehung zur Gesellschaft, und in dieser gibt es nun einmal Rassismus und Xenophobie, die sich in letzter Zeit verschärft haben. Man spürt das“, sagte Ivo etwa in einem Presse-Gespräch 2016 anlässlich seines Solos „Discordable – Bach“, und weiter: „Ich bin ein Optimist, noch immer, aber es ist nicht leicht. Wir leben in schwierigen Zeiten. Die französische Choreografin Maguy Marin sagte neulich zu mir: ,Wir Künstler müssen jetzt einen Plan zur Veränderung der Welt entwickeln.‘ Wir können die Probleme nicht lösen, aber die Kunst kann sie reflektieren. Mein Körper war immer politisch. Wir schauen in den Spiegel, wir sind nicht perfekt und werden es nie sein. Die Geschichte wiederholt sich. Ich möchte mich selbst als Lampe auf einen Altar stellen und den Menschen Impulse geben, über bestimmte Themen nachzudenken.“

Ismael Ivo verstarb im Pandemiejahr 2021 im Alter von 66 Jahren in seiner Heimatstadt Sao Paulo an einer Coronavirus-Infektion.

Über den Herausgeber und die FotografInnen: Johannes Odenthal, Kunsthistoriker und Autor für Tanz, Performance und zeitgenössische Kunst, war von 2006 bis 2022 Programmbeauftragter der Akademie der Künste, Berlin. Anno Wilms (1935 – 2016) arbeitete als freiberufliche Fotografin. Dieter Blum arbeitete unter anderem für Stern, Der Spiegel, Time, National Geographic, FAZ-Magazin und SZ-Magazin.

Spector Books, Johannes Odenthal (Hrsg.): „Ismael Ivo. Ich glaube an den Körper“, Fachbuch, 240 Seiten mit Fotografien von Anno Wilms und Dieter Blum, 180 Schwarzweiß- und 40 Farbabbildungen. Erhältlich auch in einer englischsprachigen Fassung: „Ismael Ivo. I Believe in the Body“.

spectorbooks.com           ismaelivo.com           www.impulstanz.com

  1. 8. 2022

Wiener Festwochen 2017: Jude Law spielt Theater

Februar 17, 2017 in Bühne, Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Tomas Zierhofer-Kin präsentiert sein erstes Programm

Ein Hollywoodstar spielt in Wien Theater: Jude Law wird in Ivo van Hoves Visconti-Adaption „Obsession“ auf der Bühne im MuseumsQuartier stehen. Bild: Jan Versweyveld

Donnerstag Vormittag präsentierte Tomas Zierhofer-Kin, neuer Intendant der Wiener Festwochen, gemeinsam mit Geschäftsführer Wolfgang Wais und Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny im magdas Hotel sein Programm für die erste Saison. Von 12. Mai bis 18. Juni will er die Stadt in einen „kulturellen Ausnahmezustand“ versetzten und mit neuen Ideen frischen Wind ins mehr als 65 Jahre alte Festival bringen.

„Das Neue braucht Freunde“, fiel Mailath-Pokorny dazu ein. Zierhofer-Kin, der Mann, der zuvor das Kremser donaufestival als Hort der Avantgarde etablierte, will auch diesmal auf „Hochglanz“ verzichten. Wobei das so nicht ganz stimmt, haben doch auch eine ganze Menge Theaterstars ihr Kommen angesagt. Auf die Frage einer Journalistin, ob er aufs Publikum über 40 verzichten wolle, konnte Zierhofer-Kin daher kontern, er wünsche sich, dass sich Stamm- und junges Publikum mischen, und die jeweils einen den anderen den Weg von Theatersaal zu Performanceraum, von der Sub- zur Hochkultur und retour zeigen.

Überhaupt ist Mitmachen, miteinander Machen eine Sache, die dieses Jahr groß geschrieben wird. „In einer Zeit, die sich tagtäglich albtraumhaft zum Negativen verändert, wollen wir einen anderen, ungewöhnlichen Blick auf die ,echte‘ Welt eröffnen“, so Zierhofer-Kin. „Wir verstehen Kunst als Tool zur Selbstermächtigung. Wir wollen das Publikum einbeziehen und ihm Raum zum Nachdenken eröffnen. Wir haben nämlich Vieles, nur einfache Antworten auf komplizierte Fragen haben wir nicht.“ Das „Viele“, so Wolfgang Wais ergänzend, wird mit einem Budget von 13 Millionen Euro finanziert, davon 10,5 Millionen Subventionen. Mit 40.000 Karten kommen etwas weniger als im Vorjahr in den Verkauf. „Das ist so“, so Wais, „weil viele Produktionen bei freiem Eintritt zu besuchen sind.“

Akademie des Verlernens und Performeum

Drei neue Programmschienen wird es heuer geben: Die Akademie des Verlernens knüpft an die Gründungszeit der Wiener Festwochen an. „Sie wird als ein Denkmodell entstehen, das sich ins restliche Programm integriert“, erklärt Zierhofer-Kin. Künstler, Aktivisten, Philosophen sind eingeladen, mit den Zuschauern (in kostenlosen Workshops) über den Zustand der Gesellschaft zu diskutieren. Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak wird die Akademie mit ihrem Vortrag „What Time is it on the Clock of the World?“ im Rathaus eröffnen. Die Anti-Fascist Ballet School lädt zum gemeinsamen Tanzen in die Lugner City, bei Hamamness kann man sich von Badepersonal verwöhnen lassen, beim Simmeringer Frühschoppen bittet die Burschenschaft Hysteria zu Würstel, Bier und Politdiskussion. Ein Muss ist der Vortrag der Journalistin Carolin Emcke „Gegen den Hass“ am 19. Mai im MQ. Für ihr gleichnamiges Buch wurde Emcke 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Mit dem Performeum wird auf einem ÖBB-Gelände nahe des Hauptbahnhofs ein temporäres Performancemuseum entstehen. „Wir wollen dort möglichst viele unterschiedliche Bereiche von Performance zeigen: Tanz, Klang, Installationen, Medienkunst …“, so Zierhofer Kin, der empfiehlt: „Am Wochenende morgens hingehen und bis zum Abend bleiben.“ Zwei der spannendsten Programmpunkte: Ben Pryors „House of Realness“, ein Ort für queeren ekstatischen Widerstand gegen eine Trump-Welt – für Zuschauer ab 18 Jahren, und „Nathi.Aha.Sasa“. Für diese Gruppenausstellung hat Kuratorin Zohra Opoku afrikanische Künstlerinnen, die in Europa weitgehend unbekannt sind, aufgefordert die Geschichte ihres Kontinents und „Herstory“ darzustellen. Hyperreality schließlich beschäftigt sich in vier Nächten mit elektronischer Musik.

Musiktheater: Jonathan Meese zeigt endlich seinen Parzifal

Die diesjährige Eröffnungsproduktion: „Ishvara“ des chinesischen Shootingstars Tianzhuo Chen. Bild: Zhang Yan

Musiktheater nach Mozarts „Entführung aus dem Serail“: Les Robots ne connaissent pas le Blues. Bild: Knut Klassen

Die Eröffnungsproduktion der Festwochen 2017 ist die Europa-Premiere von Ishvara. Der junge chinesische Künstler Tianzhuo Chen untersucht in seinem Opernhappening Geschichte und Religion, die menschliche Existenz und die spirituelle Ausbeutung in der modernen Welt. Dazu mischt er Buddha mit South Park, Hinduismus mit Popkultur – eine bildgewaltige, stark politische Performance, die einen visuellen und akustischen Sog entwickelt. Besonders freut sich Zierhofer-Kin, dass er nach der Absage von Bayreuth, Jonathan Meese gewinnen konnte, sein Parzifal-Projekt für Wien weiterzuentwickeln (mehr dazu: www.mottingers-meinung.at/?p=20786).

Das hat der Kunstberserker nun mit Komponist Bernhard Lang, dem Klangforum Wien und dem Arnold Schoenberg Chor getan. Das Ergebnis dieses sehr kreativen Umgangs mit Wagner heißt Mondparsifal Alpha 1-8 (Erzmutterz der Abwehrz), eine Space Opera und laut Zierhofer-Kin „ziemlich gewaltig“. Mozarts „Türkenoper“ haben Monika Gintersdorfer und Benedikt von Peter zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht. Nach der „Entführung aus dem Serail“ zeigen sie mit Les Robots ne coinnaissent pas le Blues die Konfrontation zweier heterogener Kulturen.

Sprechtheater und mehr: Von Peter Brook und Ivo van Hove bis zu Romeo Castellucci

Peter Brook zeigt seine jüngste Arbeit „Battlefield“, eine Kurzversion seiner Inszenierung des Mahabharata. Bild: Caroline Moreau

Nach Jelineks „Schutzbefohlenen“ die neue Arbeit der „Schweigenden Mehrheit“: Traiskirchen. Das Musical. Bild: www.christianstangl.at

Mit den Zuständen der USA befassen sich zwei Produktionen: Romeo Castelluccis Arbeit Democracy in America beschäftigt sich mit der Gründung der Vereinigten Staaten als Utopieprojekt des kolonialistischen Europa und mit Alexis de Tocquevilles „De la démocratie en Amérique„. Es geht um Puritanismus, Populismus und die Tyrannei der Mehrheit.

Saint Genet zeigt in Promised Ends: The Slow Arrow of Sorrow and Madness die Migrationstragödie der Donner Party. 1846 waren 87 Siedler auf dem Weg in den Westen. Nachdem sie in der Sierra Nevada in einen Schneesturm geraten waren, passierten zwischen den Überlebenden unfassbare Gräueltaten. Saint Genet gehen der Frage nach, was passieren muss, damit eine Gesellschaft die Tabugrenzen niederreißt, und Kannibalismus an die Stelle von Empathie tritt.

Autor Mohammad Al Attar und Regisseur Omar Abusaada schildern im Drama Während ich warte den Syrienkrieg aus sehr persönlicher Sicht: In einem Krankenhaus liegt der junge Taim im Koma, doch sein Gehirn arbeitet und dokumentiert gesehene Szenen von Verzweiflung und Liebe, Aufbegehren und Ohnmacht. So wird sein Krankenzimmer zum Sinnbild für ein ganzes Land, das zwischen Leben und Tod schwebt.

Nach viel zu langer Absenz darf man sich endlich wieder auf eine Arbeit von Peter Brook freuen. Der Regiealtmeister hat dreißig Jahre nach seiner legendären Inszenierung des indischen Epos „Mahabharata“ eine Kurzfassung erstellt. Battlefield zeigt die apokalyptischen Auswirkungen des Krieges zwischen zwei Königsfamilien – wie immer mit großem spielerischem Ernst. Da verwandlen sich Schals in Flüsse und Leichentücher, und die Lebenden wie die Toten werden von Adlern und Würmern begleitet.

Nach der von Identitären gestörten Aufführung von Elfriede Jelineks „Schutzbefohlenen“, zeigt Die Schweigende Mehrheit im Volkstheater ihre jüngste Produktion: Traiskirchen. Das Musical. Tina Leisch und Bernhard Dechant haben erneut ihr Künstlerkollektiv aus Helfern und Hilfsbedürftigen zusammengetrommelt, um in einem verwegenen Spektakel die dringenden Fragen dieser Tage zu stellen. Ein Sittengemälde der Gesellschaft ist auch Die selbsternannte Aristokratie der Truppe La Fleur. Entlang der Romane und Erzählungen von Honoré de Balzac werden arme, ehrgeizige junge Menschen porträtiert, die Kontinente überqueren, um in den westlichen Metropolen ihr Glück zu versuchen. Zierhofer-Kin: „La Fleur geht es darum, zu zeigen, wie Menschen auf der Flucht Rollen annehmen, die ihnen zugeschrieben werden, und so in Muster verfallen, die ihnen gar nicht entsprechen.“ Regisseur Milo Rau, bekannt für seine künstlerischen Auseinandersetzungen mit Anders Breivik und Marc Dutroux, wird mit dem Journalisten und Blogger Robert Misik im Schauspielhaus Wien eine performative Agora kreieren, in der Publikum, Politiker, Experten und Ensemblemitglieder des Hauses gemeinsam diskutieren sollen. Die Agenda wird vom Publikum mitbestimmt, sei’s österreichisches Tagesgeschehen oder Weltpolitik.

Auch ein Hollywoodstar wird in Wien erwartet: Jude Law wird in Ivo van Hoves Visconti-Adaption Obsession in der Rolle des Gino auf der Bühne stehen. Mit „Ossessione“, der bahnbrechenden Verfilmung des Klassikers „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ von James M. Cain, gilt Luchino Visconti als Wegbereiter des italienischen Neorealisums. In kurzen Szenen, roh, poetisch und brutal, erzählt er die Geschichte von zwei Liebenden am Rande der Gesellschaft: Gino, einem attraktiven Herumtreiber, und Giovanna, einer jungen, unglücklichen Ehefrau eines Tankstellenbetreibers, die versucht, ihrem früheren, von Armut geprägten Leben zu entkommen. Zusammen entwerfen sie den Plan, Giovannas Mann zu töten …

Drei besondere Tipps von mottingers-meinung.at

Zum Mitmachen für Mutige: Haircuts by Children. Bild: John Lauener

Das australische Back to Back Theatre zeigt mit Lady Eats Apple die Vertreibung aus dem Paradies und den Aufbruch in eine unbekannte Welt. Die Schauspieler mit Down Syndrom erklären in einer aufblasbaren Skulptur die Schöpfung aus ihrer Sicht. Ein Mitmachen für Mutige ist die Performance Haircuts by Children, die genau das ist, wonach es klingt: Kinder werden von professionellen Friseuren in einem Crash-Kurs unterrichtet.

Dannach betreiben sie einen Frisiersalon und bieten einen kostenfreien Haarschnitt der besonderen Art. Die Übung: sich einem Kind anzuvertrauen und eine einmalige Erfahrung mit ihm zu teilen. Das kanadische Kollektiv Mammalian Diving Reflex wird nicht nur mit Wiener Kinder Grenzen durchbrechen, sondern auch mit sechs Wiener Seniorinnen und Senioren, Vertretern einer Großelterngeneration, die man in All the Sex I’ve Ever Had nach den Dingen fragen kann, die einem die Eltern nie erklärt haben.

Der Online-Kartenverkauf startet jetzt.

www.festwochen.at

Wien, 16. 2. 2017

Nebel im August

Oktober 5, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein stiller Film über die NS-Kindereuthanasie

Ernst Lossa durchschaut das Mordsystem von Dr. Veithausen: Ivo Pietzcker und Sebastian Koch. Bild: © Filmladen Filmverleih

Ernst Lossa durchschaut das Mordsystem von Dr. Veithausen: Ivo Pietzcker und Sebastian Koch. Bild: © Filmladen Filmverleih

Kinder laufen lachend zwischen frisch gewaschenen Bettlaken umher. Der kleine Friedhof hinter dem schlossartigen Gebäude wird größer. Aus dem fernen, orangefarbenen Himmel hört man das Donnern der Alliiertenbomber. Die Rettung naht. Doch der kleine Friedhof hinter dem schlossartigen Gebäude wird größer …

Nur wenige solcher Illustrationen gestatten sich Regisseur Kai Wessel und sein Kameramann Hagen Bogdanski für die Ausgestaltung ihres Films. „Nebel im August“, ab Freitag in den heimischen Kinos, erzählt von einer der scheußlichsten Untaten des Dritten Reichs, erzählt von der NS-Kindereuthanasie, und er tut das unaufgeregt, nie pathetisch – und daher umso wirkungsvoller. Wessel ist ein ruhiger, stiller Film gelungen, wie anders könnte man versuchen etwas über das Unsagbare zu sagen?

Die Geschichte ist wahr. Michael von Cranach, Experte zur Psychiatrie im Dritten Reich und den Verbrechen, die in ihren Einrichtungen begangen wurden, befasste sich in seiner Zeit als ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren mit der Vorgeschichte dieser Klinik im Nationalsozialismus – und stieß dabei auf die Akte Ernst Lossa. 2008 veröffentlichte Robert Domes den Tatsachenroman „Nebel im August“, nun der Film. Ernst, 13 Jahre alt, ein „Jenischer“, der Vater deshalb schon bald im KZ, ist ein ungemein kluger, ergo unangepasster Bub. Die Kinder- und Erziehungsheime, in denen er aufwächst, haben ihn als „nicht erziehbar“ eingestuft und schieben ihn schließlich wegen seiner rebellischen Art in ein Institut für Behinderte ab. Nach kurzer Zeit bemerkt er, dass unter der Klinikleitung von Dr. Veithausen Insassen getötet werden. Er setzt sich zur Wehr und versucht, den Patienten und Mitgefangenen, Großteils Kinder und Jugendliche, zu helfen. Womit er sich in Lebensgefahr bringt.

Es hätte ihn beim Lesen der Krankenakte beeindruckt, wie wissend dieser Knabe geschaut habe, sagt Cranach. Keinen besseren Darsteller für Ernst Lossa hätte man finden können, als den 12-jährigen Berliner Schauspieler Ivo Pietzcker. Sein kraftvolles Spiel fährt direkt unter die Haut. Wie er erst schreit „Ich gehör‘ hier nicht her“, weil ihm vor den „Idioten“ graust, bis er begreift, dass hier einer helfen muss. Und so wird aus Ernst, dem Überlebenskünstler, der schlau auf brenzlige Situationen reagiert, eine Art Messiasgestalt für die Insassen. Am Ende, ein letztes Bild, regnet es Fische. Pietzcker ist beeindruckend, seine Mimik, seine beredten Augen; angesichts der großen Ernsthaftigkeit, bangt man mitunter darum, ob in diesem Talent noch genug Kind steckt …

Sebastian Koch gibt den Dr. Veithausen als Wolf im Schafspelz. Mit genialer Ambivalenz changiert er zwischen charmantem Anstaltsvater und selbst ernanntem Erlösergott, zwischen Karrierist und Überzeugungstäter. Ganz Eugeniker ist er von der Idee der „reinen Rasse“ überzeugt – Koch spielt das Grauen der NS-Todesmaschinerie subtil, als Subton, so wie der ganze Film nie mit Nazisymbolik um sich wirft, geht auch er nie in die Klischeefalle, spielt nie schwarzweiß, sondern alle Schattierungen von Grau.

Und während er versucht, den kleinen Patienten Gutes zu tun, ...: Carla Karsten mit Ivo Pietzcker. Bild: © Filmladen Filmverleih

Während Ernst versucht, den kleinen Patienten Gutes zu tun, …: Carla Karsten mit Ivo Pietzcker. Bild: © Filmladen Filmverleih

... bringt Schwester Edith (Henriette Confurius) den tödlichen Himbeersaft. Bild: © Filmladen Filmverleih

… bringt Schwester Edith (Henriette Confurius) den tödlichen Himbeersaft. Bild: © Filmladen Filmverleih

Bis in kleinste Rollen ist „Nebel im August“ vorzüglich besetzt. Branko Samarovski ist als Hauswart Mitwisser, aber nicht Mitläufer, einer eben, der sich gegen das System nicht wehren kann. Karl Markovics hat als Ernsts Vater nur einen kurzen Moment, da versucht er einmal noch sein Kind zu sich zu holen.  Doch weil er Jenischer ist, sei Ernst ohnehin nicht sicher bei ihm, sagt Veithausen – und Markovics sind der drohende Horror und Tod, die Demütigung und Angst ins bereits eingefallene Gesicht geschrieben. Thomas Schubert und David Bennent sind das Gegensatzpaar Pfleger – Patient, der eine hinkt, passt sich aus Angst deshalb an?, der andere lebt seine archaischen Gefühle aus. Wie sich Bennent über die Leiche eines ermordeten Mädchens wirft, beschuldigt, um sich schlägt, schließlich niedergespritzt wird, das ist eine der eindrücklichsten Szenen im Film.

Die beiden Frauenrollen sind, sucht man denn etwas zu kritisieren, ein wenig stereotyp geraten. Henriette Confurius als der schöne, kalte Todesengel Schwester Edith und Fritzi Haberlandt als Ordensfrau Sophia, die mit ihrer Fürsorge versucht zu retten, was nicht zu retten ist – und ergo zu Tode kommen muss. Als Statisten fungieren viele behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die aus Theater- und Wohngruppen kommen. Ihnen schenkt der Film seine Sympathie.

Mehr als 200.000 behinderte und kranke Kinder und Erwachsene wurden zwischen 1939 und 1945 in deutschen Nervenkliniken getötet, weil die Nazis ihr Leben als „unwert“ abtaten. Die Täter kamen mit Bagatellestrafen davon, die realen Vorbilder für Dr. Veithausen und Schwester Edith gingen schon kurz nach dem Krieg wieder ihren Berufen nach. Siehe Heinrich Gross. Man wolle aber, so Sebastian Koch im Gespräch mit mottingers-meinung.at, mit dem Film vor allem eine Brücke ins Heute schlagen. Sei doch die Frage, was lebenswertes Leben ist, angesichts von Pränataldiagnostik und Diskussionen um Spätabtreibung oder Sterbehilfe hochaktuell. „Meine Einstellung zu all diesen Fragen“, sagt Koch, „hat sich während unseres Drehs sehr verändert.“

Sebastian Koch im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=23294

www.nebelimaugust.de

Wien, 5. 10. 2016

Nebel im August: Sebastian Koch im Gespräch

Oktober 4, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Star in einem Film über die NS-Kindereuthanasie

Sebastian Koch als Dr. Werner Veithausen. Bild: © Filmladen Filmverleih

Sebastian Koch spielt den aus vier real existiert habenden Medizinern geschaffenen NS-Euthanasiearzt Dr. Werner Veithausen. Bild: © Filmladen Filmverleih

„Nebel im August“, ab 7. Oktober in den heimischen Kinos, das ist ein Film nach einer wahren Begebenheit, in Süddeutschland, Anfang der 1940er-Jahre. Der 13-jährige Ernst Lossa, ein „Jenischer“, der Vater deshalb im KZ, ist ein ungemein kluger, ergo unangepasster Bub. Die Kinder- und Erziehungsheime, in denen er aufwächst, haben ihn als „nicht erziehbar“ eingestuft und schieben ihn schließlich wegen seiner rebellischen Art in ein Institut für Behinderte ab.

Nach kurzer Zeit bemerkt er, dass unter der Klinikleitung von Dr. Veithausen Insassen getötet werden. Er setzt sich zur Wehr und versucht, den Patienten und Mitgefangenen, Großteils Kinder und Jugendliche, zu helfen. Womit er sich selbst in Lebensgefahr bringt. Michael von Cranach, Experte zur Psychiatrie im Dritten Reich und den Verbrechen, die in ihren Einrichtungen begangen wurden, befasste sich in seiner Zeit  als ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren mit der Vorgeschichte dieser Klinik im Nationalsozialismus – und stieß dabei auf die Akte Ernst Lossa. In der Regie von Kai Wessel spielt ihn nun der 12-jährige Berliner Schauspieler Ivo Pietzcker. Außerdem spielen Fritzi Haberlandt, Branko Samarovski, Karl Markovics, David Bennent und Thomas Schubert. Sebastian Koch schlüpft in die Rolle des Dr. Veithausen. Ein Gespräch:

MM: Darf ich mit einer persönlichen Frage beginnen? Wie war’s am Set mit diesen vielen fröhlichen Kindern, in dem Wissen, dass etliche von ihnen das Dritte Reich nicht überlebt hätten?

Sebastian Koch: Schön, dass wir damit anfangen, denn mit den Kindern, und vor allem mit den behinderten Kindern zu arbeiten, war für mich das Schönste und Tollste an dem Projekt. Die Dreharbeiten gingen über zwei Monate, da entwickelt sich schon fast so etwas wie eine Familie. Man denkt ja von sich selbst immer, dass man so souverän und ungezwungen sei, und zum Teil mag das auch stimmen, aber hier war’s doch auch etwas anderes. Man tritt auf eine ganz andere Art und Weise in Kontakt, als man das sonst tut. Da kamen für mich ganz neue Fragen auf: Beispielsweise, wenn ich ein Kind tragen musste, und darüber nachdachte, wie ich es anfasse, ohne ihm weh zu tun. Daran sieht man, wie wenig wir doch über Behinderungen wissen und wie sehr unsere Gesellschaft diesem Thema nach wie vor aus dem Weg geht. Man scheut sich davor, Fehler zu machen, gerade weil man so wenig Information hat. Mir hat es sehr gut getan, das einmal so nah miterleben zu dürfen, welch bezaubernde Menschen Kinder mit Down-Syndrom sind, gerade weil sie so ungefiltert reagieren und pure Emotion leben. Sie haben eine sehr klare Wahrnehmung – und das macht unglaubliche Freude.

MM: Die Erfahrung zeigt ja, dass die Kinder mit uns viel unverkrampfter sind, als wir mit ihnen.

Koch: Absolut. Die haben überhaupt kein Problem. Eher haben wir das Problem, weil wir so wenig wissen. Durch Unsicherheit, durch Unwissenheit und Ängste ziehen wir uns fast reflexartig vor behinderten Menschen zurück.

MM: Sie spielen im Film Dr. Veithausen, ein Konglomerat aus real existiert habenden NS-Euthanasieärzten. Was ist der? Überzeugungstäter, Karrierist, glaubt er sich als gottgleichen Erlöser oder ist er Eugeniker?

Koch: Er kommt sicher aus der Eugenik. Das war ja Ende des 19. Jahrhunderts ein gesellschaftlich absolut relevantes Thema, basierend auf dem Sozialdarwinismus, der die Erbgesundheitslehre der damaligen Zeit bestimmt hat. Die Menschen waren davon überzeugt, sie machen in diesem wissenschaftlichen Bereich etwas Gutes, indem sie positives Erbgut fördern und damit den besseren Menschen erfinden. Das hat mit den Nazis per se erstmal gar nichts zu tun gehabt.

MM: In Österreich gab’s Sozialdemokraten, die der Eugenik anhingen. Allerdings wollten die durch Aufklärung über Verhütung oder Hygiene riskante Schwangerschaften verhindern, nicht geborenes Leben vernichten.

Koch: Die Nazis haben diese Geistesströmung zu ihrem Zweck missbraucht, haben 1933 mit den „Gesetzen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ begonnen, um Schwangerschaftsabbruch zu legitimieren und Zwangssterilisation einzuführen. Alles gesetzlich legalisierte Vorgänge, die die Nazis letztlich dazu benutzt haben, eine „reine Rasse“ entwickeln zu können. Damit wurde eine Mordwaffe geschaffen, die bis zum Exzess angewandt wurde. Aber was mir eher wichtig war, worum ich Produzent Ulrich Limmer und Regisseur Kai Wessel gebeten habe, war, dass wir den Film optisch nicht zu sehr im Nazi-Milieu ansiedeln, also dass es keine Hakenkreuzfahnen und anderen  NS-Symbole gibt. Aus heutiger Sicht sehen wir zwar die Monster, aber damals waren sie nicht als Monster erkennbar. Veithausens Vorbild wird von Zeitgenossen und von seinen Mitarbeitern im Institut als netter, zugänglicher Mensch beschrieben. Zwar hat „Tiergarten vier“, das Berliner Büro die Tötungen vorgeschrieben, aber Menschen wie Veithausen haben dann die Entscheidung getroffen, wer leben darf und wer sterben muss. Für ihn war das ein medizinischer und gesellschaftlicher Durchbruch, weil er davon überzeugt war, er habe als Mediziner den richtigen Blick auf seine Patienten.

MM: Die Darstellung der Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Tatsachenroman von Robert Domes und der Forschung von Michael von Cranach. Er war ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren und fand die unaufgearbeiteten Euthanasie-Akten. Die Täter kamen mit Bagatellestrafen davon. Was wurde aus dem damaligen Anstaltsleiter?

Koch: Er hat drei Jahre bekommen, wurde aber wegen Haftunfähigkeit frühzeitig entlassen und ist später in Ehren gestorben. Ich glaube, dass er sogar wieder praktiziert hat. Die Krankenschwester, die bei uns Edith heißt und die den Kindern den tödlichen Himbeersaft verabreicht, hat nach relativ kurzer Zeit auch wieder gearbeitet. Die Entnazifizierung in Deutschland ist ja insgesamt relativ nachlässig verlaufen. Ich glaube, der Anstaltsleiter hatte in seiner Verwandtschaft auch ein behindertes Kind, was im Drehbuch weggelassen wurde. Obwohl ich mir gewünscht hätte, dass wir es erzählen, weil es der Geschichte noch eine Nuance mehr gegeben hätte.

MM: In Kaufbeuren wurde auch die E-Kost erfunden?

Koch: Die Entzugs-Kost ist eine entsetzliche Perversion, Patienten beim Essen verhungern zu lassen, indem die Nahrung, die sie zu sich nehmen, keine Nährstoffe mehr enthält. Menschen, die sich so etwas ausdenken sind „ver-rückt“, in dem Sinne, dass sich ihre Wahrnehmung verrückt hat. Solch ein Mensch sieht dann die Dinge, die er tut, als in sich logisch und berechtigt an und benimmt sich dadurch auch nicht auffällig, weil er erst gar kein schlechtes Gewissen hat. Diese verrückte Wahrnehmung und die gleichzeitige Logik, die in dieser Wahrnehmung liegt, so genau und intensiv und in sich stimmig wie möglich darzustellen, das war und ist meine Aufgabe als Schauspieler. Aus seiner Sicht hat also Veithausen mit der E-Kost etwas unglaublich Tolles erfunden. Er liebt seine Patienten, er ist sogar ein guter Anstaltsleiter, er spielt mit den Kindern, dreht sie im Kreis, aber gleichzeitig sieht er einen vermeintlich Unheilbaren, der ein Bett belegt anstelle eines anderen, der vielleicht noch eine Chance hat. Also „erlöst“ er ihn von seinen Leiden. Ich stelle Veithausen nicht aggressiv und bösartig dar, sondern als ein Mensch, der an sich glaubt und meint, das „humane“ Sterben für etwas Gutes zu ermöglichen. Für ihn ist langsam verhungern humaner als die spastischen Krämpfe, die durch Barbiturate ausgelöst werden.

MM: Wie war es mit Ivo Pietzcker, der den Ernst Lossa spielt, zu arbeiten?

Koch: Ivo ist in dem Sinne gar kein Kind mehr, er hat eine geradezu erwachsene Wahrnehmung. Man kann Dinge miteinander entwickeln, gemeinsam erfinden, das hat mich sehr erstaunt. Es war schön, mit ihm zu spielen. Wohingegen die Kinder mit Down-Syndrom einfach richtig loslegen. In der Szene, in der ich dem kleinen Toni ein Spielzeug schenke, rief von hinten immer ein anderer: Meiner! Meiner! Darauf zu reagieren, macht riesigen Spaß, weil alles immer so spontan daherkommt und man vor laufender Kamera schnell reagieren muss. Mit Ivo wiederum gibt es den Schlüsselmoment am Grab von Schwester Sophia, wo Ernst Lossa dem Veithausen „Mörder!“ ins Gesicht schreit. Und da entgleisen dessen Gesichtszüge, sie erkalten, werden hart und unsympathisch. Das ist die Szene, in der Veithausen tatsächlich zum Mörder wird, vorher war er der „Erlöser“.

Veithausen gaukelt den Kindern Väterlichkeit vor: Koch mit Frizi Haberlandt als Schwester Sophia. Bild: © Filmladen Filmverleih

Veithausen gaukelt den Kindern Väterlichkeit vor: Koch mit Fritzi Haberlandt als Schwester Sophia. Bild: © Filmladen Filmverleih

Doch der Knabe Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) durchschaut sein Spiel. Bild: © Filmladen Filmverleih

Doch der Knabe Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) durchschaut seine Vorgehensweise. Bild: © Filmladen Filmverleih

MM: Denn, um es hier kurz zu sagen, das Ende für Ernst ist kein gutes.

Koch: Rettung aus diesem Mordapparat wäre auch nicht möglich gewesen. Ernst versucht zwar zu flüchten, aber auch das misslingt. Aber darum geht es auch nicht. Es geht in diesem Film darum, wie Ernst Losssa mit Kinderaugen das System entlarvt, in das er eigentlich zunächst eingearbeitet werden soll. Er wird für Veithausen zu einem revolutionären Widerpart, zum Sand im Getriebe. Und am Ende steht er als Prinzip Hoffnung wieder auf. Wenn man’s denn so sehen will.

MM: In Österreich ist die NS-Euthanasie durch Friedrich Zawrel und die Spiegelgrund-Debatten als Thema in der Öffentlichkeit präsent. Wie ist das in Deutschland? Wird Ihr Film Aufklärungsarbeit leisten?

Koch: In Deutschland ist es kein großes Thema. Die Dopplung Nationalsozialismus und Behinderung, also vermeintlich „unwertes Leben“, da will man überhaupt nicht ran. Ich hoffe, dass der Film das ändert. Man muss sich damit beschäftigen, denn diese Taten hängen in unserer Gesellschaft bis heute nach.

MM: Hängen über ihr als Glocke, die unseren Umgang mit Themen von Pränataldiagnostik bis Sterbehilfe beeinflusst.

Koch: Dazu wollte ich dringend noch kommen, denn das ist der eigentliche Grund, warum ich den Film gemacht habe: Um die Brücke zum Heute zu schlagen. Um zu zeigen, was daran für uns immer noch relevant ist. Wenn man rein an die wissenschaftliche Lehre der Eugenik glaubt, und dazu die moderne Pränataldiagnostik nimmt, ist das vom Grundgedanken her erschreckend nah beieinander. Die Pränataldiagnostik hat große Vorteile, birgt aber auch die große Gefahr, dass sie perfide und gegen jegliche Ethik einsetzbar ist. Da muss, glaube ich, per Gesetz darauf zu achten sein, dass es sich nicht plötzlich in eine Richtung bewegt, eine, die den perfekten Menschen schaffen will. Die medizinische Forschung ist schon auf dem Weg dazu. Das bringt meiner Meinung nach die gesellschaftliche Balance ins Ungleichgewicht; die Natur aber sieht vor, dass wir alle unterschiedlich sind.

MM: Und am anderen Ende der Fahnenstange? Würden Sie sich wünschen einmal vor Schmerzen, Siechtum … erlöst zu werden?

Koch: Wenn Sie auf die Sterbehilfe hinaus wollen, da haben wir in Deutschland und Österreich durch die Nazi-Zeit natürlich zu Recht Manschetten. Ein weiterer Grund, warum dieser Film so wichtig ist, ist die Frage, wann Leben lebenswert ist und wann es das vielleicht nicht mehr ist. Das darf keine Institution entscheiden, keine dritte Kraft. Das muss immer jeder für sich selber entscheiden dürfen. Ich selbst bin auch ein erklärter Gegner der Todesstrafe. Menschen dürfen nicht über anderer Menschen Leben und Tod urteilen, wer leben darf und sterben muss. Das ist für mich mit meiner ethischen Grundhaltung überhaupt nicht vereinbar. Wichtig finde ich, dass der betroffene Mensch selbst, genauso wie betroffene Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, ein Recht haben über ihr Leben zu entscheiden.

MM: Haben Sie mit Eltern gesprochen?

Koch: Ich habe die Eltern unserer kleinen Schauspieler gefragt, wie das war, als sie in der Pränatalphase die Diagnose bekamen: Durch die Bank sagten sie, die Ärzte hätten ihnen dringend davon abgeraten, ihr Kind zur Welt zu bringen. Ganz im Sinne von: Tun Sie sich das nicht an. Was natürlich in einem Entscheidungsfindungsprozess fatal ist, da Ärzte immer noch eine Instanz sind, der man vertraut und auf die man hört, und viele sich ablenken lassen von der Freiheit der eigenen Entscheidung. Man muss sich aber seine Gedanken selber machen und ein Gefühl für die Situation entwickeln dürfen. Die Entscheidung muss in der Familie bleiben, die kann nicht an ein Krankenhaus oder eine Instanz gehen. Wenn man mit diesen Kindern so viel Kontakt hat, wie ich jetzt mit diesen Kindern hatte … meine Einstellung zu all diesen Fragen hat sich während unseres Drehs sehr verändert.

MM: Um noch ein anderes Thema anzuschneiden: Sie kommen Ende Oktober mit einem weiteren Film in die Kinos, „Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka“. Erzählen Sie etwas zur Figur Dr. Krombach?

Koch: Ja, lassen Sie uns das kurz halten. Es geht um einen realen Kriminalfall, Krombach soll ein Mädchen, seine Stieftochter, ermordet haben und es gibt viele Ungereimtheiten in dem Fall. Jedenfalls wurde er verurteilt, ist jetzt 81 Jahre alt und sitzt in einem französischen Gefängnis. Auch er ist ein Ver-rückter mit ver-rückter Realitätswahrnehmung. Mir macht es Spaß als Schauspieler, in so eine Parallelwelt einzusteigen, und ich versuche, die verquere Logik dieser Figuren zu finden. Krombach war als Monster auch nicht erkennbar. Da frage ich mich, wie man solch eine Tat begeht, ohne auch nur ein schlechtes Gewissen oder einen Unrechtssinn zu haben. Das sind vielleicht die Parallelen zu Veithausen, mehr ist da nicht.

MM: Sie drehen viel, allein für 2016 sind’s schon drei Filme, …

Koch: … wobei ich in Projekten wie „Bridge of Spies“ oder „The Danish Girl“ nur kleine Rollen hatte. Da macht man mit, weil man gerne mit dem Regisseur arbeiten möchte oder einen das Thema interessiert.

MM: … was ist denn Ihr Motor?

Koch: Solche Gespräche hier zu führen. In denen man vertiefen kann, was auf der Leinwand zu sehen ist. Da durchbricht ein Kind die Gesetze eines Systems; auch wir leben in Systemen, die über weite Strecken fragwürdig sind, da sollte man mal ansetzen nachzudenken und Gegenbewegungen zu starten. Wenn uns das gelingt, wenn eine Diskussion losgeht, dann haben wir viel erreicht.

www.nebelimaugust.de

www.sebastiankoch.com

Wien, 4. 10. 2016