MdM Salzburg: This World Is White No Longer

April 23, 2021 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Schau gegen Rassismus und Xenophobie

Angelika Wienerroither: Utopia (Why can’t we all just get along?) (Detail), 2021. Courtesy of the artist, © Angelika Wienerroither

„Diese Welt ist nicht mehr weiß und wird es nie mehr sein“, stellte der USamerikanische Schriftsteller James Baldwin 1953 in seinem Essay „Stranger in the Village“ fest. Baldwins prophetischer Satz steht für eine entschiedene Kritik am weißen westlichen Denken und zugleich für einen Aufruf zu einem universellen Humanismus. In seinem Essay reflektiert er seine Erfahrung als schwarzer New Yorker, der Anfang der 1950erJahre in einem Schweizer Dorf

zu Besuch ist. Die ausschließlich weißen Bewohnerinnen und Bewohner begegnen dem Schriftsteller nicht mit einer feindseligen, aber doch grundsätzlich abweisenden Haltung. Sein Aussehen, seine Sprache erscheinen ihnen fremd. Von diesem spezifischen einfachen Blick unterscheidet Baldwin jene Erfahrung, in der es nicht mehr eine für sich stehende weiße oder schwarze Sichtweise der Welt gibt, sondern eine Geschichte unterschiedlicher Perspektiven, die durch das Drama von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus und durch das fortwährende Ringen mit diesen Herausforderungen eng, tiefgehend und komplex miteinander verbunden sind.

Die Ausstellung „This World Is White No Longer. Ansichten einer dezentrierten Welt“, ab 24. April im Museum der Moderne Salzburg, sieht in Baldwins Kernaussage, dass der machtpolitisch dominante weiße Blick seine Gültigkeit verloren hat, eine wesentliche Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit Rassismus, Xenophobie und Exklusion. Die Ausstellung vertritt eine Haltung, in der es nicht um eine reine Darstellung von Kritik geht, sondern darum, die „weiße Brille“ abzunehmen. Sie untersucht das Potenzial des Perspektivenwechsels als eine Methode zur Dezentrierung des eigenen Blicks auf die Welt. Die Kritik an rassistischen Denk-und Verhaltensmustern ist dabei ebenso wichtig wie die Wahrnehmung und Reflexion unterschiedlicher Sichtweisen und der Wechsel zwischen verschiedenen Identitätskonstruktionen und Lebenswirklichkeiten.

Ein Referenzwerk der Ausstellung ist die aus der Sammlung Generali Foundation stammende MultimediaInstallation „Black Box / White Box“ der Künstlerin und Philosophin Adrian Piper. Piper bietet in dieser 1992 entstandenen Arbeit zwei Sichtweisen auf die Misshandlung des schwarzen USBürgers Rodney King durch die örtliche Polizei und die darauffolgende Unterstützung der Täter durch den damaligen Präsidenten George Bush senior: eine schwarze und eine weiße Sichtweise.

Samuel Fosso: Self-Portrait (Angela Davis), 2008. Courtesy the artist und JM Patras, Paris © Samuel Fosso und JM Patras, Paris. Bild: Samuel Fosso

Samuel Fosso: Emperor of Africa, 2013. Courtesy the artist und JM Patras, Paris © Samuel Fosso und JM Patras, Paris. Bild: Samuel Fosso

Samuel Fosso: Black Pope, 2018. Courtesy the artist und JM Patras, Paris © Samuel Fosso und JM Patras, Paris. Bild: Samuel Fosso

Die Installation erlaubt es in zwei unterschiedliche Perspektiven einzutauchen und vom jeweils eigenen Standpunkt aus einen Blickwechsel vorzunehmen. In einem solchen Prozess der Dezentrierung des Denkens wird Diskriminierung mit einem Mal spürbar. Während Betroffene darin eine Bestätigung ihrer Situation finden, lernen die anderen, was es bedeutet Rassismus zuerfahren. Pipers Arbeit ist ein Schlüsselwerk der jüngeren Kunstgeschichte. Wie kaum eine andere Arbeit schließt sie die Problematik von Rassismus und Xenophobie mit dem Erkenntnispotenzial eines empathischen Perspektivenwechsels kurz.

Die Ausstellung präsentiert ausgehend von zentralen Werken der Sammlung Generali Foundation eine Auswahl signifikanter Positionen von Künstlerinnen und Künstlern, die sich auf jeweils spezifische Weise mit der Dezentrierung und Dekolonisierung des Denkens und der Bewegung zwischen unterschiedlichen Identitäten und Lebenswirklichkeiten befassen. Diese Instrumente einer multiperspektivischen Globalität bilden wichtige Elemente der Infragestellung von Rassismus, Xenophobie und sozialer und kultureller Exklusion.

Mit Werken von Karo Akpokiere, Lothar Baumgarten, Danica Dakić, Forensic Architecture, Samuel Fosso, Charlotte HaslundChristensen, Alfredo Jaar, Voluspa Jarpa, Belinda KazeemKamiński, Adrian Piper, Lisl Ponger und Kara Walker.

Kara Walker: Bureau of Refugees, Freedmen and Abandoned Lands: Lucy of Pulaski (Videostill), 2009. Courtesy Sprüth Magers und Sikkema Jenkins & Co © K. Walker. Bild: K. Walker

Danica Dakić: El Dorado. Gießbergstraße, 2006–07. Farbdiapositiv, Leuchtkasten. Courtesy of the artist © Danica Dakić / Bildrecht, Wien 2021. Bild: Danica Dakić

Lothar Baumgarten, Unsettled Objects (Detail), 1968–69. © Sammlung Generali Foundation – Dauerleihgabe am MdM Salzburg / Bildrecht, Wien 2021. Bild: Dario Punales

Forensic Architecture: Border Violence Across the Evros/Meriç River: Six Investigations (Videostill), 2019–21: „Ein Zeuge beschreibt die Gewalt, die er während eines Push-Backs durch Grenzschutzbeamte erlitten hat“. Courtesy of the artists © Forensic Architecture. Bild: Forensic Architecture

Dazu präsentiert die Klasse für Fotografie und Neue Medien der Universität Mozarteum Arbeiten, die aus einer intensiven Beschäftigung mit verschiedenen Ausprägungen von Rassismus entstanden sind. Mit einer Vielfalt an Zugängen reflektieren die Studierenden alltäglichen und strukturellen Rassismus, hinterfragen Identitätszuschreibungen und untersuchen Möglichkeiten von Machtkritik und Selbstermächtigung. Sie stellen Verbindungen zu anderen Diskriminierungsformen her und thematisieren die Mechanismen sozialer Medien ebenso wie neokolonialistische Praktiken des Tourismus.

Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage nach der eigenen Position innerhalb von Kulturen und Ökonomien in Österreich und das damit einhergehende Verhältnis zu Rassismus. Die Ausstellung versteht sich als Verhandlungsraum. Sie verändert sich während der Laufzeit und macht damit einen Diskussionsprozess sichtbar, der unbeantworteten Fragen, fragmentarischen Überlegungen und Richtungswechseln gleichermaßen Raum gibt wie vollendeten Werken.

Werke unter anderem von Pia Geisreiter, Hannah Imhoff, Charlotte Pann, Sabine Reisenbüchler, EvaMaria Schitter, Sculpting Feminism Reading Group, Angelika Wienerroither und Alba Malika Belhadj Merzoug.

www.museumdermoderne.at

23. 4. 2021

Das Off Theater im Live-Stream: This is what happened in the Telephone Booth

April 7, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Leonie Wahls TanzImOff-Eröffnung via Bildschirm

Die Telefonzell-Membran der verlorenen Seelen: Gerald Walsberger, Michael Welz und Kajetan Dick, im Telefonhäuschen Leonie Wahl und Hannah Timbrell. Bild: Günter Macho

Eigentlich sollte ab morgen im Off Theater das Festival TanzImOff stattfinden, aber aufgrund der Reiserestriktionen vieler internationaler Gäste ist es erst mal auf Dezember verschoben. Das Off Theater zeigt dafür die geplante Eröffnungsvorstellung „This Is What Happened In The Telephone Booth“ von Leonie Wahl und Ernst Kurt Weigel am 8. April um 20 Uhr als Live-Stream. Das Besondere diesmal: Wahl und Weigel beginnen mit einer etwa 15-minütigen Werkeinführung mit allen Beteiligten und starten im

Anschluss mit der Vorstellung – komplett live via der Homepage off-theater.at und der Social Media Channels. Einfach am 8. 4. kurz vor 20 Uhr reinklicken! Hier noch einmal die Rezension vom November 2019:

Den Wahn mit Witz wegtanzen

Die sphärischen Soundscapes von Asfast und die sich zur Crecendo-Klage steigernde Stimme von Tamara Stern schaffen eine stimmige Atmosphäre. Auftritt Leonie Wahl mit butterblumengelbem Haar. „Eines Tages verschwand meine Mutter in einer Telefonzelle um ihren Geliebten anzurufen. Als sie heraustrat, war sie ein komplett anderer Mensch geworden. Sie war völlig außer sich, nicht mehr zu beruhigen. Von da an blieb sie psychisch krank. Ich war zehn Jahre alt und konnte mir nicht erklären, was passiert sein mag. Deshalb begann ich zu tanzen“, sagt sie – und beginnt nun wirklich.

Als Tanz.Schau.Spiel bezeichnet die in Wien lebende Schweizer Choreografin und Tänzerin ihre aktuelle Arbeit „This is what happened in the Telephone Booth“, die Koproduktion von Leonie Wahls orgAnic reVolt und das.bernhard.ensemble an dessen Spielstätte, dem Off Theater, von Regisseur Ernst Kurt Weigel zur Uraufführung gebracht. Das gemeinsame Projekt ist für Wahl ein autobiografisches, die damit einen berührend privaten Einblick in den bisher tiefsten Einschnitt ihres Daseins gibt:

Choreografin und Tänzerin Leonie Wahl … Bild: Günter Macho

… will die Erkrankung ihrer Mutter … Bild: Barbara Pálffy

… für sich performativ verarbeiten. Bild: Barbara Pálffy

Es ist 1987 in der Toskana, und die Familie, Mutter, Schwester, Leonie, Teil einer Aussteigergemeinschaft. Dann die Zellenszene, Halluzinationen, Stimmenhören, Mutter sagt, sie könne „den Tod riechen“. Schock, Carabinieri, Krankenhaus, Diagnose Schizophrenie – und die kindliche Erkenntnis, dass ab nun nichts mehr sein wird, wie es war. Aus Trauma wurde Tanztheater, weil, so Wahl, das Wichtigste ohnedies nicht mit Worten zu erzählen sei. Weshalb sie sich nach der kurzen Einführung in ihre Geschichte gleich aufs Körperliche verlegt, ihr Eingang in die verworrenen Gedankengänge des Wahns von Weigel dabei keineswegs als Krankheitstragödie, sondern als komödiantische Groteske mit spooky Psychothriller-Elementen inszeniert.

Wahl zeigt das Implodieren einer Seele mit explodierender Körpersprache, aber auch umgekehrt, den psychischen Auf- als physischen Stillstand, wobei es ihr mit außerordentlicher Ausdruckskraft gelingt, sowohl Stakkato-Schritte als auch Stasis gleich einer Druckwelle über die Köpfe des Publikums brausen zu lassen. Einziges Requisit, das ihr Ausstatterin Devi Saha an die Hand gibt, ist eben jenes Telefonhäuschen, eine entsetzliche Geisteszelle, die Wände mit einer semitransparenten, pergamentfarbenen Membran ausgekleidet, eine unappetitlich vergilbte Haut, durch die sich Gesichter und Gliedmaßen des Ensembles drücken, eine zwar elastische Zellmembran, die dennoch weder Flucht erlaubt noch Freiheit duldet.

Verwickelt im Kabelsalat: Hannah Timbrell, Kajetan Dick, Gerald Walsberger, Leonie Wahl und Michael Welz. Bild: Günter Macho

Keiner kann rein, keiner kommt raus: Gerald Walsberger, Leonie Wahl, Michael Welz, Hannah Timbrell und Kajetan Dick. Bild: Günter Macho

Im psychedelischen Sinne als One in five bestreiten Tänzerin Hannah Timbrell und die Performer Kajetan Dick, Gerald Walsberger und Michael Welz mit Leonie Wahl den Abend, gespenstische Gestalten, die sich nach und nach aus den Membranwänden winden, Hirngespinste, die sich mal als Wahl’sche Alter Egos, mal als Mutters multiple Persönlichkeiten, vielleicht auch als Wiedergänger des abwesenden Vaters interpretieren lassen. Mit blutroter Telefonnabelschnur verbunden, von ihr wie ein

Hund gewürgt, wie an Marionettenfäden gegängelt, gefesselt oder liebevoll umschlungen oder als Springseil verwendet, führen die Männer diverse Telefonate mit Ehepartnern und Ärzten. „Ich habe das Grauen gesehen“, wiederholt Dick als ob paralysiert, obwohl man’s per hartnäckigem Dauerklingeln eher hört – dieses gleichsam ein Synonym für jene Forderung nach ständiger Erreichbarkeit, die heute tatsächlich krank macht. Dass dann einer auch noch „Du bist nicht allein“ sagt, ist in Anbetracht von Mutters Befinden die Art Irrsinnigkeit, mit der Wahl und Weigel die Darsteller den Wahnwitz der Situationen wegtanzen, wegspielen lassen.

Mit Wahl und Timbrell ist es Gerald Walsberger im blauweiß gemusterten Kittelschürzenkleid, der an die Grenze der totalen Verausgabung geht. Die Tanzpassagen werden mehr und mehr zur Zerreißprobe, die Seelenspasmen zu Körperkrämpfen, jeder Wahl’sche Move ist nun eine Kampfansage ans Erlittene. Und aus dem Orkus der Telephone Booth drängen die Verlorenen vergebens ans Licht, eine Optik, gemahnend an die Verdammten in Rodins Höllentor. „This is what happened in the Telephone Booth“ verzaubert mit einer wundersamen, bizarren Poesie, die sich sanft über eine brutale Geschichte stülpt. Sehenswert … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=36197

Video: vimeo.com/434756174           www.youtube.com/watch?v=sZw6fV05om4&t=27s                     www.leoniewahl.com           bernhard-ensemble.at           off-theater.at

7. 4. 2021

netzzeit 2019 Out of Control: This is what happened in the Telephone Booth

November 17, 2019 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Den Wahn mit Witz wegtanzen

Die Telefonzell-Membran der verlorenen Seelen: Gerald Walsberger, Michael Welz und Kajetan Dick, im Telefonhäuschen Leonie Wahl und Hannah Timbrell. Bild: Günter Macho

Die sphärischen Soundscapes von Asfast und die sich zur Crecendo-Klage steigernde Stimme von Tamara Stern schaffen eine stimmige Atmosphäre. Auftritt Leonie Wahl mit butterblumengelbem Haar. „Eines Tages verschwand meine Mutter in einer Telefonzelle um ihren Geliebten anzurufen. Als sie heraustrat, war sie ein komplett anderer Mensch geworden. Sie war völlig außer sich, nicht mehr zu beruhigen. Von da an blieb sie psychisch krank. Ich war zehn Jahre alt und konnte mir nicht erklären, was passiert

sein mag. Deshalb begann ich zu tanzen“, sagt sie – und beginnt nun wirklich. Als Tanz.Schau.Spiel bezeichnet die in Wien lebende Schweizer Choreografin und Tänzerin ihre aktuelle Arbeit „This is what happened in the Telephone Booth“, die Koproduktion vom netzzeit-Festival 2019 Out of Control mit Leonie Wahls orgAnic reVolt und das.bernhard.ensemble an dessen Spielstätte, dem Off Theater, von Regisseur Ernst Kurt Weigel zur Uraufführung gebracht. Das gemeinsame Projekt ist für Wahl ein autobiografisches, die damit einen berührend privaten Einblick in den bisher tiefsten Einschnitt ihres Daseins gibt:

Choreografin und Tänzerin Leonie Wahl … Bild: Günter Macho

… will die Erkrankung ihrer Mutter … Bild: Barbara Pálffy

… für sich performativ verarbeiten. Bild: Barbara Pálffy

Es ist 1987 in der Toskana, und die Familie, Mutter, Schwester, Leonie, Teil einer Aussteigergemeinschaft. Dann die Zellenszene, Halluzinationen, Stimmenhören, Mutter sagt, sie könne „den Tod riechen“. Schock, Carabinieri, Krankenhaus, Diagnose Schizophrenie – und die kindliche Erkenntnis, dass ab nun nichts mehr sein wird, wie es war. Aus Trauma wurde Tanztheater, weil, so Wahl, das Wichtigste ohnedies nicht mit Worten zu erzählen sei. Weshalb sie sich nach der kurzen Einführung in ihre Geschichte gleich aufs Körperliche verlegt, ihr Eingang in die verworrenen Gedankengänge des Wahns von Weigel dabei keineswegs als Krankheitstragödie, sondern als komödiantische Groteske mit spooky Psychothriller-Elementen inszeniert.

Wahl zeigt das Implodieren einer Seele mit explodierender Körpersprache, aber auch umgekehrt, den psychischen Auf- als physischen Stillstand, wobei es ihr mit außerordentlicher Ausdruckskraft gelingt, sowohl Stakkato-Schritte als auch Stasis gleich einer Druckwelle über die Köpfe des Publikums brausen zu lassen. Einziges Requisit, das ihr Ausstatterin Devi Saha an die Hand gibt, ist eben jenes Telefonhäuschen, eine entsetzliche Geisteszelle, die Wände mit einer semitransparenten, pergamentfarbenen Membran ausgekleidet, eine unappetitlich vergilbte Haut, durch die sich Gesichter und Gliedmaßen des Ensembles drücken, eine zwar elastische Zellmembran, die dennoch weder Flucht erlaubt noch Freiheit duldet.

Verwickelt im Kabelsalat: Hannah Timbrell, Kajetan Dick, Gerald Walsberger, Leonie Wahl und Michael Welz. Bild: Günter Macho

Keiner kann rein, keiner kommt raus: Gerald Walsberger, Leonie Wahl, Michael Welz, Hannah Timbrell und Kajetan Dick. Bild: Günter Macho

Im psychedelischen Sinne als One in five bestreiten Tänzerin Hannah Timbrell und die Performer Kajetan Dick, Gerald Walsberger und Michael Welz mit Leonie Wahl den Abend, gespenstische Gestalten, die sich nach und nach aus den Membranwänden winden, Hirngespinste, die sich mal als Wahl’sche Alter Egos, mal als Mutters multiple Persönlichkeiten, vielleicht auch als Wiedergänger des abwesenden Vaters interpretieren lassen. Mit blutroter Telefonnabelschnur verbunden, von ihr wie ein

Hund gewürgt, wie an Marionettenfäden gegängelt, gefesselt oder liebevoll umschlungen oder als Springseil verwendet, führen die Männer diverse Telefonate mit Ehepartnern und Ärzten. „Ich habe das Grauen gesehen“, wiederholt Dick als ob paralysiert, obwohl man’s per hartnäckigem Dauerklingeln eher hört – dieses gleichsam ein Synonym für jene Forderung nach ständiger Erreichbarkeit, die heute tatsächlich krank macht. Dass dann einer auch noch „Du bist nicht allein“ sagt, ist in Anbetracht von Mutters Befinden die Art Irrsinnigkeit, mit der Wahl und Weigel die Darsteller den Wahnwitz der Situationen wegtanzen, wegspielen lassen.

Mit Wahl und Timbrell ist es Gerald Walsberger im blauweiß gemusterten Kittelschürzenkleid, der an die Grenze der totalen Verausgabung geht. Die Tanzpassagen werden mehr und mehr zur Zerreißprobe, die Seelenspasmen zu Körperkrämpfen, jeder Wahl’sche Move ist nun eine Kampfansage ans Erlittene. Und aus dem Orkus der Telephone Booth drängen die Verlorenen vergebens ans Licht, eine Optik, gemahnend an die Verdammten in Rodins Höllentor. „This is what happened in the Telephone Booth“ verzaubert mit einer wundersamen, bizarren Poesie, die sich sanft über eine brutale Geschichte stülpt. Sehenswert – und zwar noch genau sechs Mal.

Video: www.youtube.com/watch?v=sZw6fV05om4&t=27s                     www.leoniewahl.com           www.netzzeit.at           bernhard-ensemble.at           off-theater.at

17. 11. 2019

Ben Is Back

Januar 6, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Und plötzlich steht der drogensüchtige Sohn vor der Tür

Die verzweifelte Holly zeigt ihrem Sohn Ben, wo er landen wird, wenn er sein Leben nicht ändert: Julia Roberts und Lucas Hedges. Bild: © Tobis Film GmbH.

Der junge Mann, die Hoodie-Kapuze tief in die Stirn gezogen, nähert sich dem Vorstadthaus. Stapft mit aggressiven Schritten durch den Schneematsch, untersucht ungeduldig, ob sich Tür oder Fenster öffnen lassen. Wird wütend, als sich kein Schlüssel in den üblichen Verstecken, unterm Blumentopf, unter der Fußmatte, finden lässt. „Ben Is Back“ – der drogensüchtige Sohn von Holly Burns ist ausgerechnet am Heiligen Abend heimgekehrt.

Seiner Mutter wird er sagen, seine Betreuer in der Entzugsklinik hätten ihm für die Weihnachtsfeiertage freigegeben. Doch die Gesichter der Familie sprechen Bände, die Festtagsstimmung kippt in schiere Panik. Zu viel Hölle hat man wegen Ben schon durchleben müssen.

Regisseur und Drehbuchautor Peter Hedges, als zweiteres unter anderem verantwortlich für „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“ und „About A Boy“, ist mit „Ben Is Back“, der am 11. Jänner in den Kinos anläuft, ein eindrückliches Familienkammerspiel gelungen, das sich immer mehr zum beklemmenden Thriller entwickelt. Die aufwühlende Story lebt vor allem vom Zusammenspiel, vom Infight der grandios furiosen Julia Roberts, die als Holly Burns eine der besten Performances ihrer Karriere zeigt, mit Peter Hedges‘ Sohn Lucas Hedges als Ben, in den USA nicht umsonst als der Nachwuchsstar des Independent-Kinos gehandelt.

Wie dieser Ben gleichzeitig Mitgefühl erregend, undurchschaubar und unberechenbar ist, wie er immer wieder ein Lügner zu sein scheint, all das stellt Lucas Hedges mit beeindruckender Mehrdeutigkeit dar. Als Zuschauer ist man in jeder Sekunde versucht, seine Absichten zu hinterfragen, aber weiß meist nicht, ob man ihn in den Arm nehmen und trösten möchte oder ihn wegstoßen und fürchten soll. So ergeht es auch Julia Roberts‘ Holly, aus deren Perspektive und mit deren Wissensstand man das Drogendrama betrachtet. Denn Peter Hedges geht, was die Spannung bis ins Unerträgliche steigert, mit Informationen sehr sparsam um. Er verknappt das Geschehen auf 24 Stunden, was immer sich davor ereignet hat, Eskalationen, Versprechungen, Enttäuschungen, fließt nur in Halbsätzen in die Handlung ein.

Stiefvater Neal misstraut Ben: Courtney B. Vance und Julia Roberts. Bild: © Tobis Film GmbH.

Ben mit seiner Schwester Ivy: Lucas Hedges mit Kathryn Newton. Bild: © Tobis Film GmbH.

Holly schließt mit der Familie, Courtney B. Vance als ihr zweiter Ehemann Neal, Kathryn Newton als Tochter Ivy, einen Pakt. Ben darf, nachdem er einen Drogenschnelltest bestanden hat, für einen Tag bleiben. Unter der Bedingung, dass ihm die Mutter nicht von der Seite weichen wird. Es ist eine der stärksten Szenen, wie Holly in Windeseile ihren Schmuck und die Medikamente aus dem Badezimmerschrank vor Ben versteckt. Und schon folgt man den beiden. Vom Shoppingcenter für letzte Geschenkeinkäufe auf den Friedhof, wo Holly Ben sein Ende vor Augen führt, so er sein Leben nicht ändert, schließlich in die Sitzung einer Selbsthilfegruppe, bei der Ben sich zu melden hat. Die Atmosphäre die ganze Zeit über – Kleinstadtklaustrophobie.

Und überall sieht sich Ben mit seiner Vergangenheit konfrontiert, begegnet er Junkies, die seine Drogenfreunde waren, Eltern, deren Kinder er mit ins Unheil gerissen hat und die ihm nun mit blankem Hass begegnen. Die Situation gerät außer Kontrolle, also muss Ben, begleitet von Holly, wieder in jenes kriminelle Milieu abtauchen, von dessen Existenz seine Mutter keine Ahnung hatte. Die beiden begeben sich auf einen gefährlichen Trip, auch hier eine gewaltige Sequenz, als Ben das – noch dazu abgelegene – Haus seines ehemaligen Lieferanten betritt, und die unruhig im Wagen wartende Holly sich nicht entscheiden kann, ob sie hinterherlaufen oder die Tür verriegeln soll. Holly muss sich fragen, war ihr Sohn ein Dealer, ein Stricher, ein Einbrecher?

Verhält sich Ben verdächtig oder sind das Vorurteile? Lucas Hedges glänzt in seiner Rolle als Drogensüchtiger. Bild: © Tobis Film GmbH.

Mit „Ben Is Back“ hat Peter Hedges mit viel Feingefühl einen Film über Familienzusammenhalt, über Abhängigkeit und die Falle der Co-Abhängigkeit inszeniert. Er lässt seinen Protagonisten Julia Roberts und Lucas Hedges den Raum, das zwischen den Zeilen Ungesagte, die Ängste, Zweifel, Widersprüche, stehen zu lassen. Beide setzen bei ihrer Darstellung auf diese Momente der Stille, ihr Spiel dabei zurückhaltend und unprätentiös.

Roberts als Löwenmutter und Lucas Hedges als Ben, der selbst am besten um seine Abgründe weiß, agieren bestechend. Schon im Frühjahr kommt dessen nächster Film „Der verlorene Sohn“ ins Kino. Darin spielt Lucas Hedges einen schwulen Collegestudenten, dessen bibelfester Vater ihn mit einem Zwölf-Punkte-Programm „heilen“ will. Man darf gespannt sein …

www.BenIsBack.de

  1. 1. 2019

Kosmos Theater: What You See Is What You Get

Februar 6, 2014 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Die [A]ura des Internets

Bild: Goran Andric

Bild: Goran Andric

Ab 13. Februar läuft im Kosmos Theater „[A]ura: WYSIWYG – What You See Is What You Get“, eine Performance-Galerie in Stationen mit Open-Source-Choreografie von Cie. FeinSinn. Eines Tages wird das Internet so heilig sein wie eine riesige alte Kathedrale. Und alle geben ihre Daten ab, um den digitalen Gottheiten zu huldigen. In [A]ura werden die Zuschauenden selbst zu Schöpferinnen und Schöpfern. Sie finden in den Wochen vor der Premiere auf feinsinn.org ein einzigartiges Feature, mit dem sie die Choreografien und Inhalte von [A]ura im Browser mitgestalten und remixen können. Als UserInnen können Sie sich so ein virtuelles Denkmal setzen, das dann doch eigene, unvorhersehbare Wege geht. In der Moderne verkümmert die Aura des Kunstwerkes – laut Walter Benjamin – aufgrund technischer Reproduzierbarkeit und einem Verlust der Unnahbarkeit. Gleichzeitig entsteht aber durch neue Technologien eine völlig anders geartete Aura des Staunens. Was aber, wenn sich das digitale Medium den Benutzern und Benutzerinnen verweigert?

Choreografie/Tanz: Elke Pichler | Musik/Video: Alexander Nantschev
Bühne/Kostüm: Monika Biegler
Licht- und Screendesign/technische Umsetzung: Georg Stadlmann
Programmierung: Stefan Lechner | Interactive Technical Support: Graham Thorne

www.kosmostheater.at

Wien, 6. 2. 2014