Kurt Palm: Der Hai im System

November 5, 2022 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Im Bassin psychopathischer Existenzen

Würden wir mehr voneinander wissen, hätten wir weniger Angst voreinander. Wenn wir weniger Angst vor unserer Angst hätten, wüssten wir vermutlich genauer, was uns wirklich ängstigt.

Ein Filmteam hat sich in der Schule angesagt, was die 14-Jährigen einigermaßen in Aufregung versetzt. Regisseurin Edina Damjanović, selbst Bosnien-Flüchtling, will ihre Dokumentation „Klasse der Chancenlosen“ nennen und deren Nachsitzern diverser Nationen Gesichter und Stimmen geben. Der Direktor, wenig begeistert mutmaßlich als Leiter einer Problemschule dargestellt zu werden, hat die Aufsicht über das Projekt der darob seufzenden Klassenlehrerin Franziska Steinbrenner übertragen.

Nicht nur hat die in den Pausen an ihrem Flachmann nuckelnde Frau die ewigen Auseinandersetzungen zwischen Serben und Kosovaren, Tschetschenen und Türken, Irakern und Afghanen sowas von satt – „Die gegenseitigen Vorurteile scheinen derart tief im kollektiven Gedächtnis verankert zu sein, dass sie als Streitschlichterin auf verlorenem Posten steht.“, sie ficht auch ihren eigenen Kampf aus: den Sorgerechtsstreit mit ihrem Ex-Ehemann

Jürgen um die fünfjährige Tochter Sophia, denn dem schwer depressiven Psychowrack, denkt sie, sei kein Kind mehr anzuvertrauen. Nach seinem verrätselten, sich nie ganz enttarnenden Roman „Monster“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34263) legt Autor Kurt Palm mit „Der Hai im System“ eins nach. Nur, dass der Horror diesmal so direkt ausgespielt wird wie eine Ansage zum Drei-Stich-Schnapser. Drei Hauptfiguren sind es auch, die sich hier durchs wilde Palmistan schlagen. Neben Franziska Steinbrenner der Polizist Philip Hoffmann, der seine hochschwangere Frau Margot mit der manipulativen Sexsadistin Lena betrügt, und nun in deren Venusfalle gefangen Erpressung oder Enthüllung befürchtet, wo er doch den fürsorglichen Göttergatten bisher so gekonnt gegeben hat.

Und als Ich-Erzähler der Superpsychopath unter all den Durchschnittsneurotikern, ein Mann mit Sturmgewehr und Fenster mit Blick auf den Schulhof, ein durch alle Maschen des sozialen Netzes gefallener Wutbürger, ein Realitätsverweigerer und Verschwörungstheoretiker, der eine Racheliste führt, von der in Holzpantoffeln herumlaufenden Nachbarin über ihm bis zu den lärmenden Kids im Schulhof. Einmal war er drüben, um sich zu beschweren, da haben sie ihm „Fettsack“ und „fette Sau“ nachgerufen. Jetzt wähnt er seine Stunde gekommen.

„Ist doch egal, ob ich mit vierzig oder sechzig abkratze. Wen kümmert’s? Aber wenigstens bekomme ich noch ein paar schöne Schlagzeilen. Über das Motiv können sie sich ihre Köpfe zerbrechen, bis sie schwarz werden. Es gibt nämlich keines, außer dass ich ein StG 77 besitze und freie Sicht auf den Pausenhof einer Schule habe.“ Kurt Palm macht kein Geheimnis daraus, dass der Amokschütze abdrücken wird. Das Leben, scheint er zu sagen, hat weder Reset- noch Escape-Taste, sehr wohl aber eine für Delete.

So taucht man ein in diesen Höllenpool, durchschwimmt verstörende Gedanken- und nervenzehrende Gefühlswelten, und was es mit dem Bild auf dem Buchcover „Kleines Mädchen vor Haifischbecken“ auf sich hat, wird auch noch nachzulesen sein. Palms schwarzhumorige Sprache wechselt zwischen Oida!-Echt porno!-Slang der Migrantenkinder – „Warum sollen wir Deutsch reden. Mutter ist Putzfrau und redet mit anderen Putzfrauen nur Serbisch. Vater arbeitet am Bau und redet mit anderen Arbeitern nur Serbisch. Deutsch ist voll unnötig. Brauch ma nur für die Schule.“ – und einem Wienerischem Hochdeutsch.

Trotz all der Derbheit und Brutalität im Ausdruck gelingen ihm sensible Charakterstudien, Palm nähert sich seinen literarischen Geschöpfen ehrlich und mit Bedacht, selbst dem späteren Attentäter. Es ist logisch, dass sich die Schicksale der ProtagonistInnen kreuzen werden, sobald sich die Ereignisse zuspitzen. Und wie Palm bis dahin das Thema fehlgeschlagene Integration von Außenseitern aller Art variiert ist meisterlich. Er zeichnet das Bild einer dysfunktionalen Gesellschaft, die am eigenen Versagen laborierend unfähig ist, Schutzbedürftige an- und aufzunehmen, ebenso wie sie es nicht schafft, das Gewaltbereite zu erkennen und einzugreifen.

Sind die Menschen Spielball der Umstände und ihrer Umgebung, geprägt von Ressentiments und Panik voreinander, in Defensivhaltung vor der Erfahrung seelischer Ohnmacht? Die Pädagogin, unfähig der lernwilligen, allerdings den stigmatisierenden Hijab tragenden Schülerin Haniya zu helfen – das muslimische Mädchen, das seine erste Periode vor dem Vater verheimlichen will, damit er sie nicht als „unrein“ verflucht.

Der Irre am Fenster, diesem legitimen Sohn von Travis Bickle, der von der kettenrauchenden Mutter und deren etlichen Liebhabern, die auch in sein Bett stiegen, Watschn kassierte, von denen ihm heute noch die Ohren dröhnen, und der zwecks Machtrausch ins Drogengeschäft einstieg. Der Polizist Hoffmann, der mittlerweile kalkuliert, seine destruktive Affäre mittels Femizid zu beenden. Lena mit dem Auto überfahren oder ihr eine Kugel in den Hinterkopf jagen? Der kaltherzige Vamp Lena, als Mädchen aus wohlhabender, aber desolater Familie umringt von „schulterklopfenden Männern“, allen voran ihr Vater.

Bild: pixabay.com

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Sind die Menschen Opfer ihrer Vergangenheit und Herkunft, ihrer Taten oder einfach Gottes vergessene Kinder? Spricht Kurt Palm Stereotype an oder Wahrheiten aus? Es geht ihm an dieser Stelle offensichtlich nicht um Suspense und Surprise, es geht dem Autor um Psychogramme, Tiefenbohrungen in einer Gemengelage, die er mit all ihren Spielarten von Gewalt, Abhängigkeit, verlorenen Illusionen, triebhaften Entscheidungen und Vergeltungssucht so versumpft und verschlammt vorfindet, dass niemand mehr vorm Abrutschen gefeit ist.

Die einen versinken in Verzweiflung und Hilflosigkeit, die anderen in hasserfülter, toxischer Männlichkeit. „Der Hai im System“ ist, was die Erwachsenen unter den AkteurInnen betrifft, die akkurate Betrachtung einer krisengeschüttelten Welt aus selbstproduziertem Stress und fremdgesteuerter Überforderung. Palm balanciert gekonnt wie stets auf dem schmalen Grat zwischen Grauen und Groteske.

Gerade die Philip-Hoffmann-Story entwickelt sich erst allmählich, aber abscheulich. Samt Kollegen Stefan Mahrer wird er an einen Einsatzort gerufen – Achtung: Spoiler! -, wo sich ein gewisser Christoph Allinger am Lusterhaken erhängt hat, und einen Abschiedsbrief an die Geliebte Lena hinterließ: „Und dann brüstest du dich auch noch damit, dass du mich mit einem Polizisten betrügst.“ Womit Hoffmanns rasante Achterbahnfahrt in den Abgrund erst beginnt, denn längst hat Lena Margot Dickpics und schmuddelige Chatnachrichten zukommen lassen.

Schließlich Jürgen Steinbrenner, der, da er den Sorgerechtsprozess verloren hat, die Tochter vom Kindergarten abholt, um mit ihr in den unschwer als Haus des Meeres zu erkennenden „Terra-Aqua-Zoo“ zu fahren. Wo der am Umbau der Anlage beteiligte Architekt, der seinen Schlüssel nie abgegeben hat, im Technikraum gut durchdacht, also knapp vor Fütterungszeit ins Haifischbecken hechtet.

„Die Haifische kommen langsam näher und umkreisen ihn. Plötzlich steuert der größte Hai auf ihn zu und verbeißt sich in den Oberarm des Eindringlings. Bevor es um ihn herum dunkel wird, sieht Jürgen S. noch, wie seine Tochter mit ihren winzigen Fäusten verzweifelt gegen das Fenster des Aquariums trommelt. Dann färbt sich das Wasser langsam blutrot.“

Und so rücken mit der Schreckensbotschaft für Franziska sowohl die alsbald vom Chaos überforderten Uniformierten Hoffmann und Mahrer an, als auch der Mann am Fenster abdrückt. Die Kinder fallen um, vom Mündungsblitz getroffen, da und dort offenbart sich spontan die Solidarität, einen Mitschüler, eine Mitschülerin in Sicherheit zu ziehen. Murat, Zlatko, Nermina, Dejan, Ömar, Ceyda, Fatima, Novak. Doch meist gelingt das nicht. Die Schlacht heißt White Trash vs. MigrantInnen-Mix. Dies Finale entsetzlich, und der Autor irrt wie mit einer Handkamera durch das Massaker. Alles kulminiert in dieser Nachmittagsstunde, und Edina Damjanovićs Filmteam ist für und mit Kurt Palm live dabei.

Das trifft einen, Nachbarin einer Mittelschule mit Ganztagsangebot, Schulsozialarbeit, Integrationsklassen und natürlich dem üblichen Pausengetöse im Freien (Kinderlärm ist Zukunftsmusik, sagt Freund kijuku.at) umso mehr, als man das Setting kennt. Kurt Palm bietet keine Conclusio, keine Erklärung, schon gar keine Entschuldigung, kein Wissen ums Überleben seiner Figuren. Es ist einfach so. Die geballte Ausweglosigkeit hat ein … Ende. „Der Hai im System“: Einfach garstig gute Unterhaltung.

Über den Autor: Kurt Palm, geboren 1955 in Vöcklabruck, Studium der Germanistik und Publizistik, wurde mit der gefeierten TV-Produktion „Phettbergs nette Leit Show“ (1994-96) bekannt. Sein Bestseller „Bad Fucking“ wurde 2011 mit dem Friedrich-Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi des Jahres ausgezeichnet und war auch als Film erfolgreich. 2014 folgten der Film „Kafka, Killer und Chaoten“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=9435) und der Roman „Bringt mir die Nudel von Gioachino Rossini“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=6798). Bei Deuticke erschienen 2017 sein Roman „Strandrevolution“ und 2019 „Monster“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34263).

Leykam Verlag: Belletristik, Kurt Palm: „Der Hai im System“, Roman, 304 Seiten.

www.leykamverlag.at           www.palmfiction.net

  1. 11. 2022

Waschsalon: Schöner Wohnen im Roten Wien

September 6, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

„Der Fußboden soll der Stolz jeder Hausfrau sein“

Interieur in einem Wohnhausbau der Gemeinde Wien, 1928, koloriert. © WStLA/Foto Gerlach

Ab 8. September zeigt der Waschsalon Karl-Marx-Hof die Ausstellung „Schöner Wohnen im Roten Wien“, dies zum Jubiläum „100 Jahre Wohnbauprogramm“. Einen Wiener Gemeindebau der Ersten Republik erkennt man auf den ersten Blick. Die Fassaden mit ihren Sprossenfenstern, Balkonen, Loggien und Erkern prägen das Stadtbild bis heute. Doch wie wohnen die ersten Arbeiterfamilien in diesen neuen, „gesunden Volkswohnungen“? Der Waschsalon geht auf

Wohnungsinspektion, und interessiert sich für die Grundrisse der Wohnungen, die Aufteilung der Zimmer und deren Einrichtung, wirft einen Blick in den Kochtopf und achtet auf die Einhaltung der „Hausordnung für die Wohnhausbauten der Gemeinde Wien“: „Parkett und harte Brettelböden dürfen nur mit Wachs eingelassen werden“ und auch das Wäschewaschen ist – mit Ausnahme kleiner Wäschestücke wie Taschentücher oder Strümpfe – nicht gestattet. „Durch Waschen in der Wohnung kann die Wohnung leicht feucht werden“, warnt Stadtphysikus Dr. Viktor Gegenbauer 1929. Am Gang fällt der Blick auf die versperrbaren Nischen, in denen Gasmesser und Stromzähler untergebracht sind. Die Wohnungstüren sind genormt, mit zweimaligem Ölfarben- und einmaligem Emaillackanstrich versehen und haben in der Regel Messingbeschläge, eine Drehglocke, ein „Guckerl“ und einen Briefeinwurf.

Um 1900 lebt die Mehrheit der Wiener Bevölkerung noch auf Zimmer und Küche. Berüchtigt sind die „Gangküchenwohnungen“ ohne fließend Wasser und ohne Elektrizität. „In diesem meist nur 1.10 Meter breiten Gang münden überdies die Aborte, welche für je zwei Parteien gemeinsam sind und der Wasserspülung entbehren. Diese Abortgruppen sind den Küchen- und Kabinettfenstern häufig vorgelagert, ein ebenso widerlicher Anblick als gesundheitsschädlicher Zustand“, schreibt die Gemeinde Wien 1927 rückblickend.

In diesen Kleinstwohnungen leben in der Regel sechs und mehr Bewohner, in über einem Viertel der Haushalte auch Untermieter und sogenannte Bettgeher. Nachdem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei bei den Gemeinderatswahlen vom 4. Mai 1919 die absolute Mehrheit erreicht, beginnt sie ihr Reformwerk – unter den schwierigsten Bedingungen, wie die Arbeiter-Zeitung kurz nach den Wahlen bestätigt: „Die christlichsoziale Hinterlassenschaft ist entsetzlich: die Kassen der Gemeinde sind leer.“ Zur Finanzierung ihrer ambitionierten Wohnbaupläne führt Finanzstadtrat Hugo Breitner 1922 eine Mietzinsabgabe ein, die 1923 in eine zweckgebundene Wohnbausteuer umgewandelt wird.

1922 wird ein transparentes „Punktsystem“ eingeführt, das die Wohnungswerber in Dringlichkeitsstufen einteilt. 1923 beschließt der Gemeinderat ein erstes Wohnbauprogramm, 1927 folgt ein zweites. „Bis zum Jahre 1932 wird die Gemeinde rund 65.000 neue Wohnungen besitzen“, kündigt der zuständige Stadtrat Anton Weber 1928 an. Am Ende der Ersten Republik wohnt jeder zehnte Wiener, jede zehnte Wienerin in einer Gemeindebauwohnung.

© Wohnservice Wien | Stefan Zamisch

Mutter mit Tochter vor dem Lavoir, 1932. © ÖNB/Zvacek

Wannenbad, Wehlistraße, 1928. © WStLA/Foto Gerlach

Erziehung zum richtigen Wohnen in Zimmer-Küche-Kabinett

Wer das Glück hat, eine der begehrten Wohnungen in einem Neubau der Gemeinde Wien zu ergattern, wird rundum umsorgt, aber auch belehrt und ermahnt. Unzählige Publikationen widmen sich der „Erziehung zum Wohnen“, auch in einschlägigen Blättern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei finden sich regelmäßig Reportagen und Fotostorys. Stadtrat Julius Tandler formuliert 1927 den Anspruch der Sozialdemokratie: „Die Menschen, die in unseren neuen Häusern wohnen, sind neue Menschen, leben und atmen nicht nur in neuen Räumen, sondern fühlen und denken auch anders.“ Um Nachsicht wirbt hingegen Otto Bauer 1928: „Die Menschen, die in diese Wohnungen hineinkommen, erfahren erst, was Wohnen ist. Sie haben zum erstenmal [sic] nicht bloß eine Schlafstelle, sondern eine Wohnung.“

Zwar tragen die Wohnungen das Label „Gemeinde-Wien-Typus“ und weisen ähnliche Grundrisse auf, fest steht aber: Die Gemeindebauwohnung gibt es nicht. Alle Wohnungen verfügen über Aborte mit Wasserspülung, in den Küchen sind Gasherde und Wasserausläufe montiert, in alle Räume ist elektrischer Strom eingeleitet. Bäder innerhalb der Wohnungen, Aufzüge und Zentralheizung bleiben hingegen ein Wunschgedanke.  Im Wesentlichen werden in den ersten Jahren zunächst zwei Wohnungstypen errichtet. Drei Viertel der Wohnungen „hat bei wenigstens 38 Quadratmeter nutzbarer Bodenfläche einen kleinen Vorraum, Abort, Wohnküche und ein Zimmer“. Der größere Wohnungstyp hat 48 Quadratmeter Bodenfläche und „außer dem Zimmer noch eine Schlafkammer“, heißt es in „Wohnungspolitik der Gemeinde Wien“ 1929.

Im Rahmen des Internationalen Städtebaukongresses, der 1926 in Wien stattfindet, hagelt es jedoch unerwartete Kritik an den neuen Wohnbauten. „Die in Wien ausgeführten Wohnungsgrößen wurden von Besuchern aus den reicheren, westlichen Staaten häufig als auffallend klein empfunden“, gesteht der damalige Sekretär des Deutschösterreichischen Städtebundes, Karl Honay. Die Stadt nimmt sich die Kritik zu Herzen und plant ab 1927 auch größere Wohneinheiten. Die Wohnungen verfügen nun über 40 bis 57 Quadratmeter Wohnfläche, die Lebensbereiche „Wohnen“ und „Kochen“ werden zunehmend getrennt – aus der früheren „Wohnküche“ wird nun die „Kochküche“.

Während in den Wohnküchen der frühen Bauten der Herd die primäre Wärmequelle darstellt, wird im separaten Wohnzimmer nun mit Verbrennungsöfen geheizt. „Das Zerkleinern von Holz und Kohle in den Wohnungen ist strengstens untersagt und darf nur im Keller oder im Hofe geschehen“, heißt es 1929 in der Hausordnung. „Zu jeder Wohnung gehört ein Klopfbalkon, der vom Vorzimmer aus direkt zugänglich ist“, informiert die Arbeiter-Zeitung über die neuen Bauten. Laut Hausordnung dürfen Kleider jedoch nur zwischen 7 und 10 Uhr vormittags ausgeklopft werden, das Teppichklopfen ist nur im Hof gestattet.

Wohnkultur fürs Poletariat

Schulzahnklinik im Heinehof, 1926. © WStLA/Foto Gerlach

Mit den größer dimensionierten Grundrissen hält auch das bürgerliche Wohnzimmer Einzug in die Arbeiterwohnung. Dessen Einrichtung beschäftigt nicht nur die Architektinnen und Architekten der Zeit. „Viele Möbel der Proletarier entsprechen durchaus dem kleinbürgerlichen Ideal der Vortäuschung höfischen Glanzes: große Doppelbetten mit Muschelaufsatz, unpraktische Gegenstände“, beklagt der Nationalökonom Otto Neurath. Und das Architekten-Duo Franz Schuster und Franz Schacherl

fordert: „Die proletarische Wohnung wird eine eigene Form bekommen, einen eigenen Stil und eine eigene Kultur. Die Kultur der Sachlichkeit, der Reinlichkeit und der Klarheit.“ Wobei sich viele Arbeiterfamilien „den Luxus der Einfachheit“ gar nicht leisten können und, wie die Journalistin Marianne Pollak 1930 schreibt, deshalb „auf die Dutzendware, das Serienstück, die Zimmergarnitur“ angewiesen sind.

Die 1922 vom Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen gegründete „Warentreuhand“ hat die Aufgabe, „jedem, der Hausrat, Möbel, Heiz- und Beleuchtungskörper kaufen will, mit Rat an die Hand zu gehen“. Wohnungseinrichtungen produziert auch die „Wiener Hausratgesellschaft“. Diese „kommunale Möbelaktion“ soll „Klein- und Typenmöbel“ für Gemeindewohnungen entwickeln. 1930 eröffnet eine erste Dauerausstellung im Karl-Marx-Hof, die Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene, kurz „Best“. Die Auswahl der dort ausgestellten Möbelstücke sowie der „vollständig eingerichteten Musterwohnung“ erfolgt durch eine eigene Prüfungskommission, die sich aus Architekten, aber auch VertreterInnen der Mieter- und Hausfrauen­organisationen zusammensetzt. „Alles, was dort gezeigt oder empfohlen wird, soll praktisch, echt, schön und billig sein“, schreibt der Publizist Max Ermers 1930 in Der Tag.

„Die Frau von heut“

„Die Befreiung der Frau ist nur dann möglich, wenn die häusliche Arbeit auf ein Mindestmaß eingeschränkt wird“, fordert die Arbeiter-Zeitung 1924. In den frühen-1920er Jahren wird die Diskussion um die Zentralisierung und Rationalisierung der Haushaltsarbeit international geführt – von New York über Frankfurt und Berlin bis nach Wien. „Zur Entlastung der Hausfrauen“ fordert Otto Bauer bereits 1919 „Zentralküchen, Zentralwaschküchen, Zentralheizanlagen, Spielräume und Lernzimmer für die Kinder“ sowie die Bestellung der „zur Führung dieser gemeinsamen Einrichtungen erforderlichen Köchinnen, Wäscherinnen, Kinderpflegerinnen usw.“ Soweit kommt es im Roten Wien nicht. Tatsächlich geben viele Frauen ihre Berufstätigkeit auf, sobald die Jungfamilie in eine der neuen Wohnungen zieht. Aufgrund der günstigen Mieten wird ihr Zuverdienst nicht mehr benötigt. Die „neue Frau“ ist nun Hüterin der Familie und Organisatorin der Wohnung. „Der Fußboden soll der Stolz jeder Hausfrau sein“, bekräftigt der Magistrat 1928.

Zu sehen bis 17. Dezember.

Führungen durch den Karl-Marx-Hof

Jeden Sonntag führt das Waschsalon-Team durch den Karl-Marx-Hof. Alle Führungen finden bis auf Weiteres nur im Freien statt, die Dauerausstellung zur Geschichte des Roten Wien und die Sonderausstellung können im Anschluss daran individuell besichtigt werden. Treffpunkt: 13 Uhr vor dem Bahnhof Heiligenstadt, Endstelle U4, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Eintritt und Führung: 10 Euro pro Person.

www.dasrotewien-waschsalon.at

6. 9. 2022

Wienbibliothek im Rathaus: Die Hochzeit von Auschwitz

Juni 28, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Nachlass des Widerstandskämpfers Rudolf Friemel

Hochzeitsfoto Margarita Ferrer Rey und Rudolf Friemel, 18. März 1944 © Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Rudolf Friemel

Obwohl der Wiener Rudolf Friemel (1907–1944) zu den österreichischen Auschwitz-Häftlingen zählte und seine Biografie ein wichtiges Zeugnis des politischen Engagements gegen den Faschismus ist, war seine Geschichte lange nur wenigen bekannt. Erst 2002 wurde seiner Person durch Erich Hackls Buch „Die Hochzeit von Auschwitz. Eine Begebenheit“ eine größere öffentliche Wahrnehmung zuteil. Vor Kurzem wurde der Nachlass Friemels an die Wienbibliothek im Rathaus übergeben.

Eine Ausstellung erinnert nun ab 1. Juli mit den wichtigsten Briefen, Fotografien und Lebensdokumenten an den kommunistischen Widerstandskämpfer.

Im Zuge der Neugestaltung der österreichischen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau stieß das Ausstellungsteam über die Vermittlung Erich Hackls auf Rudolf Friemels in Frankreich lebenden Enkel Rodolphe Friemel, der den Nachlass seines Großvaters verwahrte. Er überantwortete ihn der Wienbibliothek im Rathaus, die nun in einer von Albert Lichtblau, Hannes Sulzenbacher und Barbara Staudinger kuratierten Ausstellung die wichtigsten Briefe, Fotografien, Zeitungsartikel, Kassiber und Lebensdokumente zeigt. In der Broschüre zur Ausstellung zieht Hackl, der für sein Buch zehn Jahre mit der Lebensgeschichte Rudolf Friemels befasst war, Bilanz: „,Die Hochzeit von Auschwitz‘ hat mich in meiner Auffassung bestärkt, dass die größte, jedenfalls nachprüfbare Wirkung von Literatur (einer auf Fakten gestützten, also politisch eingreifenden) auf diejenigen abzielt, von denen sie handelt.“

Antifaschistischer Widerstand in Österreich und Spanien

Friemel wurde 1926 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sowie des Republikanischen Schutzbunds. Wegen seiner Teilnahme an den Kämpfen gegen das austrofaschistische Regime wurde er Ende 1934 verhaftet. Nach der Inhaftierung trat er 1936 der in Österreich verbotenen Kommunistischen Partei bei und nahm als Brigadist 1937 am Spanischen Bürgerkrieg teil. In dieser Zeit verliebte er sich in Margarita Ferrer Rey († 1987). Friemel war damals noch mit einer Wienerin verheiratet und hatte einen Sohn, Norbert. In Spanien ließ er sich mit Margarita Ferrer Rey kirchlich trauen.

Nach der Niederlage des antifaschistischen Kampfes in Spanien flohen Friemel und Ferrer Rey 1939 aus Spanien nach Frankreich, wo Friemel interniert wurde. Er leistete als Bergarbeiter Arbeitsdienst in einer Mine in Carmaux. 1941 wurde ihr gemeinsamer Sohn Edouard geboren. Auf Empfehlung der Kommunistischen Partei an ihre Mitglieder stellte Friemel im Sommer 1941 einen Antrag zur Rückstellung ins „Deutsche Reich“. Dies stellte sich als schwerer Fehler heraus, da die französischen Behörden bereits an der Grenze Rudolf Friemel, Margarita Ferrer Rey und Edouard der Gestapo übergaben. Friemel wurde in Wien erkennungsdienstlich erfasst und im Jänner 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz überstellt. Margarita und ihr Sohn wurden in ein Heim für ledige Mütter nach Kirchheim unter Teck verbracht.

Hochzeit und Hinrichtung in Auschwitz

Im KZ Auschwitz-Stammlager arbeitete Rudolf Friemel als sogenannter „Funktionshäftling“, als Mechaniker in der Fahrbereitschaft der SS. Als politischer Häftling war es ihm erlaubt, regelmäßig – zensurierte – Briefe nach Hause zu schicken, die ein Teil der Ausstellung sind. Friemel schloss sich der österreichischen Widerstandsgruppe an, die eine wichtige Rolle in der international zusammengesetzten „Kampfgruppe Auschwitz“ einnahm, und der auch andere Österreicher wie Heinrich Dürmayer, Alfred Klahr, Hermann Langbein, Ludwig Soswinski, Ernst Burger und Ludwig „Vickerl“ Vesely angehörten. Wegen seiner französischen Sprachkenntnisse war Friemel wichtig für die Kontakte zur französischen Widerstandsgruppe. Friemels erste Ehe wurde 1941 rechtskräftig geschieden.

Glückwunschbillett von Mithäftlingen, 18. März 1944 © Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Rudolf Friemel

Glückwunschbillett von Mithäftlingen, 18. März 1944 © Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Rudolf Friemel

Glückwunschbillett von Mithäftlingen, 18. März 1944 © Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Rudolf Friemel

Bereits kurz nach seiner Inhaftierung verfolgte er den Plan, seine Ehe mit Margarita Ferrer Rey legalisieren zu lassen, um ihr und seinem Sohn einen rechtmäßigen Aufenthalt im „Deutschen Reich“ zu verschaffen. Seine Bemühungen hatten Erfolg: Aus nicht nachvollziehbaren Gründen durften Friemel und Ferrer Rey am 18. März 1944 im sonst ausschließlich für das Ausstellen von Totenscheinen zuständigen Standesamt des KZ Auschwitz-Birkenau heiraten. Es war die einzige im KZ Auschwitz geschlossene Ehe, einem Ort, an dem mehr als eine Million Menschen ermordet wurden.

Neben der Braut und dem gemeinsamen Sohn Edouard durften auch der Vater und der Bruder des Bräutigams zur Zeremonie nach Auschwitz kommen. Für die Hochzeit durfte sich Rudolf Friemel die Haare wachsen lassen und Zivilkleidung tragen. Davon zeugen die Hochzeitsfotos, die der Lagerfotograf Wilhelm Brasse anfertigte und die ebenso in der Ausstellung zu sehen sind wie Glückwunschbilletts und ein Hochzeitsgedicht von Mitgefangenen. Für die Hochzeitsnacht wurde dem Brautpaar ein Zimmer im ersten Stock des Blocks 24a, dem Lagerbordell, zur Verfügung gestellt.

Im Oktober 1944, wenige Monate vor der Befreiung von Auschwitz half Friemel bei den Vorbereitungen für einen vom Lagerwiderstand organisierten Fluchtversuch einiger Häftlinge. Der Fluchtversuch scheiterte und Friemel wurden wegen „Fluchtbegünstigung“ gemeinsam mit den österreichischen Widerstandskämpfern Ernst Burger und Ludwig Vesely sowie den polnischen Widerstandskämpfern Piotr Piąty und Bernard Świerczyna am 30. Dezember 1944, nur knapp ein Monat vor der Befreiung, in Anwesenheit der zu diesem Zeitpunkt noch

verbliebenen Häftlinge gehängt. Im Gegensatz zu den anderen Delinquenten, die Häftlingskleidung trugen, schritt Friemel in seinem mit Rosen bestickten Hochzeitshemd zum Galgen. Mithäftlinge erinnerten sich später an unterschiedliche Parolen, die die Verurteilten unmittelbar vor der Hinrichtung gerufen haben. In einem Interview mit Franz Danimann, der wegen seiner kommunistischen Widerstandstätigkeit von 1942 bis zur Befreiung im Stammlager inhaftiert war, heißt es: „Und noch unter dem Galgen haben sie ihre gefesselten Hände gehoben. Ernst Burger: ‚Es lebe ein freies Österreich!‘ Rudi Friemel: ‚Nieder mit der braunen Mordpest!‘ Und Vickerl Vesely: ‚Heute wir, morgen ihr!‘ Und die Polen in ihrer Sprache: ‚Niech żyje wolność, niech żyje Polska.‘ Es lebe die Freiheit, es lebe Polen!“

Telegramm des Standesamts Auschwitz, 6. März 1944 © Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Rudolf Friemel

Brief von Rudolf Friemel an Margarita Ferrer Rey, 17. Oktober 1943 © Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Rudolf Friemel

Ein Abschiedsgedicht von Rudolf Friemel an seinen Sohn Edouard ist in einer Abschrift von Margarita Ferrer Rey erhalten. In diesem appelliert er an den Sohn: „Folge dem Weg / deines Vaters / Mit jeder Faser deines Willens. / Fest und kompromisslos. / Kämpfe, wie dein Vater gekämpft hat. / Für unsere Idee / und den Fortschritt der Menschheit. / Dieser Weg ist hart: / Aber das Ziel lohnt den Einsatz / Des Menschen, der du sein musst.“ (Übersetzung aus dem Spanischen von Schriftsteller Erich Hackl)

Im Nachlass findet sich eine Abschrift von Rudolf Friemels letztem Brief, der abrupt endet: „Ich habe meine Aufgabe vollständig beendet, ich sterbe standhaft für meine heilige Sache. Die wird siegen, weil sie die Idee der Menschheit ist und deren Fortschritt. Nur ist es schwer sehen schon die Menschheit gerettet von Leiden so nah und doch nicht können uns erreichen und teilnehmen an den Neuaufbau der Welt und gemeinsam mit Euch genießen das Ergebnis vieler Menschenopfer.“

Zu sehen bis 30. September. Montag bis Freitag, 9 bis 19 Uhr. Der Eintritt ist frei. Sommerschließzeiten: Vom 1. bis 19. August ist die Ausstellung nach Voranmeldung zu besichtigen. Führungstermine zur Ausstellung hier.

www.wienbibliothek.at

28. 6. 2022

Belvedere – Joseph Rebell: Im Licht des Südens

Juni 14, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Franz‘ I. Museumsdirektor brachte Italien mit nach Wien

Joseph Rebell, Italienische Volksszene, 1820-24. Bild: Birgit und Peter Kainz, Wien Museum

Im Unteren Belvedere ist ab 15. Juni die Ausstellung „Joseph Rebell: Im Licht des Südens“ zu sehen. Rebell brachte die Sonne Italiens auf die Leinwand: Der 1787 in Wien geborene Landschaftsmaler verbrachte viele Jahre in Mailand, Rom und vor allem am Golf von Neapel. Bekannt wurde er nicht nur als einflussreicher Künstler und Impulsgeber, sondern auch als zukunftsweisender Museumsdirektor – er begann mit der Umgestaltung des

Belvedere in ein modernes Museum. Mit dieser ersten Einzelausstellung schließt das Belvedere eine Forschungslücke zu Joseph Rebell und widmet sich zugleich seiner eigenen Geschichte als Institution. „Joseph Rebell war in mehrfacher Hinsicht ein Vorreiter: Nicht nur seine Malerei beeindruckt bis heute, er entwarf auch seine Karriere auf dem Kunstmarkt so, wie sie unser Bild vom unabhängigen Künstlerdasein bis heute prägt. Als Direktor verwandelte er das ehemalige Sommerschloss Belvedere in ein fortschrittliches Museum. Der Blick auf Rebell ist ein Blick auf unsere eigene Institutionsgeschichte, aber auch auf einen der einflussreichsten Künstler seiner Zeit“, erklärt Generaldirektorin Stella Rollig im Gespräch.

Joseph Rebell lernte an der Wiener Akademie der bildenden Künste bei Laurenz Janscha und nahm Privat- unterricht bei Landschaftsmaler Michael Wutky. 1810 verließ er Wien, um zwei Jahre in Mailand zu verbringen. Von dort bereiste er Oberitalien, das er in zahlreichen Aquarellen der Gegend um Comer See, Lago di Lugano und Lago Maggiore festhielt. Nach einem Aufenthalt in Rom ließ er sich 1813 in Neapel nieder und erlangte mit seinen Ansichten vom Golf von Neapel, von Ischia, Capri, Amalfi und Sorrent internationale Berühmtheit.

Rebells Bilder erzählen von Sonnenuntergängen, von Schiffbrüchen oder Seestürmen und immer wieder vom Vesuv. Neben pittoresken Motiven widmete er sich aber auch versteckten Winkeln an der Küste von Neapel und malte Menschen bei der Arbeit im Hafen. Bis heute fasziniert an seinem Werk der neuartige Umgang mit Licht: Rebells Bilder gleichen einem Blick aus dem Fenster. Mit bislang in der Malerei ungekannter Intensität erfasste er den klaren Himmel und die Wärme der Sonne. Dieses Talent machte ihn bald zu einem bedeutenden Vorbild, das über die Jahre hinweg Landschaftsmalerinnen und -maler wie etwa jene der Scuola di Posillipo prägte. Damit zog er eine viele Kaufinteressierte aus ganz Europa an.

J. Rebell, Küste von Capri bei Sonnenuntergang, 1817. © Bayer. Staatsgemäldesammlungen München – Sammlung Schack

J. Rebell, Ansicht der Stadt Vietri mit Blick auf den Meerbusen von Salerno, 1819. Bild: Johannes Stoll/Belvedere, Wien

Joseph Rebell, Der Hafen Granatello bei Portici mit dem Vesuv im Hintergrund, 1819. Bild: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Joseph Rebell, Vesuvausbruch bei Nacht mit Blick auf die Scuola di Virgilio, 1822. © Belvedere, Wien, Bild: Johannes Stoll

„Es ist faszinierend, wie Rebell den Zugang zu den großen Persönlichkeiten seiner Zeit fand. In Mailand arbeitete er für Eugène de Beauharnais, den damaligen Vizekönig von Italien. In Neapel malte er für Königin Caroline Murat und war bei Hof ein gern gesehener Gast. In Rom, wo er ab 1817 lebte, genoss er bei den Reisenden aus vielen Nationen hohes Ansehen, was ihm Aufträge für zahlreiche Gemälde einbrachte“, so Kuratorin Sabine Grabner.

In dieser ersten Einzelausstellung zu Leben und Wirken von Joseph Rebell widmet sich das Belvedere vor allem den Ansichten Süditaliens, beleuchtet aber auch frühe Zeichnungen – etwa von oberitalienischen Seen – und die großformatigen arkadischen Landschaften der künstlerischen Anfänge. In Etappen wird Rebells Weg nachgezeichnet, vom Aufbruch nach Italien über die Erfolge in Neapel bis zu seiner Zeit am Belvedere, als er neben seiner Tätigkeit als Galeriedirektor auch weiterhin malte. In jener letzten Phase entstand etwa die Bildserie für Kaiser Franz I., die sich bis heute in den Schlössern Persenbeug und Artstetten befindet und in der Ausstellung gezeigt wird.

J. Rebell, Meeressturm beim Arco di Miseno bei Miliscola mit Blick gegen Nisida, 1819. Bild: Johannes Stoll/Belvedere, Wien

Joseph Rebell, Seesturm am Fuße des Kapuzinerklosters bei Amalfi, 1813. © Museo dell´Ottocento. Fondazione Di Persio-Pallotta, Pescara

Joseph Rebell als Direktor der kaiserlichen Gemäldegalerie im Belvedere

Schließlich wurde der österreichische Kaiser Franz I. auf Joseph Rebell aufmerksam. Er besuchte den Künstler in seinem Atelier in Rom und beauftragte ihn mit vier großformatigen Ansichten der Gegend um Neapel – sie befinden sich bis heute im Belvedere. Nach 14 Jahren in Italien kehrte ebell nach Wien zurück: Franz I. übertrug ihm im Jahr 1824 die Leitung der kaiserlichen Gemäldegalerie im Oberen Belvedere. In der kurzen Zeit bis zu seinem frühen Tod im Dezember 1828 ließ der neue Direktor das repräsentative Sommerschloss zu einem modernen Museum umbauen.

Rebell sorgte dafür, dass die klimatischen Bedingungen im Gebäudeinneren verbessert wurden. Dazu ließ er die Außenfassade baulich abdichten und eine Warmluftheizung einleiten. Die Ausstellungsräume wurden farblich gestaltet, die Bilderrahmen mit Namen und Lebensdaten der Künstlerinnen und Künstler versehen, die Gemälde nach und nach unter Mitarbeit von akademischen Malerinnen und Malern restauriert. Auch in der Kunstsammlung hinterließ Rebell seine Spuren: Unter anderem geht die Gründung der „Modernen Schule“ auf ihn zurück – einer Abteilung, die sich dem Ankauf und der Präsentation von zeitgenössischer Kunst widmete.

An der Landschaftsmalereischule der kaiserlichen Akademie, die er neben seiner Tätigkeit als Direktor der Gemäldegalerie leitete, propagierte er das Arbeiten vor der Natur. Auf dieser Basis und angeregt durch Rebells Bilder des Südens studierte die nächste Generation von Kunstschaffenden die Veränderlichkeit der Landschaft unter dem Einfluss des Sonnenlichts. Damit trug Rebell viel zur Qualität österreichischer Landschaftsmalerei der 1830er-Jahre bei.

www.belvedere.at

14. 6. 2022

Foto Wien 2022: Fotografinnen im Fokus …

März 6, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

… Rethinking Nature und die besten Fotobücher

Pixy Liao: Red Nails, Serie: For Your Eyes Only, seit 2012 © Pixy Liao

Von 9. bis 27. März rückt das Festival Foto Wien gemeinsam mit mehr als 140 Ausstellungen und mehr als 300 Veranstaltungen das Medium Fotografie ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Organisiert wird das Festival vom Kunst Haus Wien mit zahlreichen Programmpartnern. Museen, Ausstellungshäuser, Galerien, Kunstuniversitäten, Ausstellungsräume zeigen aktuelle fotografische Positionen aus den Bereichen der künstlerischen, aber auch der Dokumentar-, der Reportage- und Modefotografie.

Zwei inhaltliche Schwerpunkte prägen das diesjährige Festival: „Fotografinnen im Fokus“ hebt die herausragenden, nicht immer ausreichend gewürdigten fotografischen Leistungen von Frauen hervor. „Rethinking Nature/Rethinking Landscape“ stellt die Schlüsselrolle der Fotografie in der Wahrnehmung von Natur und Landschaft in den Mittelpunkt und beleuchtet kritisch den Umgang der Menschen mit ihnen.

Lokale und internationale Positionen sind im Rahmen von Einzelpräsentationen und thematischen Gruppenausstellungen in ganz Wien zu sehen. Ergänzend lädt das umfangreiche Rahmenprogramm mit Führungen, Workshops, Symposien, Talks, Buchpräsentationen, den täglichen Bildbesprechungen und Studio Visits zur vertiefenden Auseinandersetzung ein.

Die Festivalzentrale im Atelier Augarten fungiert als Herzstück der Foto Wien. Neben Ausstellungen zu den Schwerpunktthemen ist die Festivalzentrale Treffpunkt und Ort für Austausch und Diskurse. Das Symposium „Wie hältst du’s mit dem Material“ am 18. und 19. März lässt verschiedene Akteurinnen und Akteure der Fotoszene zu Wort kommen. Sie analysieren die sich verändernden Anforderungen im praktischen und theoretischen Umgang mit Fotografie sowie deren Vermittlung. Dabei werden insbesondere die Anliegen von Künstlerinnen und Künstler in die Debatte aufgenommen, um neue Handlungsfelder für die Politik und die Institutionen aufzuzeigen.

Mit der Fotobuch-Ausstellung, dem Photobook Market, dem Photobook Award sowie zahlreichen Buchpräsentationen und Signierstunden steht das letzte Festivalwochenende ganz im Zeichen des Fotobuchs.

Fotografinnen im Fokus – Pixy Liao: Experimental Relationship, 2014 © Pixy Liao

Weronika Gęsicka: Untitled #12, aus der Serie: Holiday, 2019–2020 © Weronika Gęsicka, 2019-2020, Courtesy: Jednostka Gallery, Warsaw

Rethinking Nature/Rethinking Landscape – Danila Tkachenko: #9, aus der Serie: Motherland, 2016 © Danila Tkachenko

Jonathas De Andrade: Still aus „O Peixe“ (The Fish), 2016 © Jonathas De Andrade

Fotografinnen im Fokus

Einer der Schwerpunkte von Foto Wien liegt auf der Hervorhebung der herausragenden Arbeit von Fotografinnen, um der noch immer herrschenden musealen und kunsthistorischen Dominanz männlicher Positionen innerhalb des Mediums entgegenzuwirken. Zu sehen sind inhaltlich und ästhetisch unterschiedlichste Werke. Sie stehen für die Vielfalt des fotokünstlerischen Schaffens von Frauen, wobei die Ausstellung vor allem auch die Auseinandersetzung mit Werken von in Österreich noch wenig bekannten Fotografinnen ermöglicht. Gemeinsam ist allen Künstlerinnen die Reflexion politischer und gesellschaftlicher Themen. Mit Fotos von Laia Abril, Alia Ali, Poulomi Basu, Nakeya Brown, Pixy Liao, Paola Paredes, Sọ̀rọ̀ Sókè (Kollektiv), Annegret Soltau, The Journal (Kollektiv) und Carmen Winant.

Rethinking Nature/Rethinking Landscape

Seit der Erfindung des Mediums spielt das fotografische Abbild eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung von Natur und Landschaft. Viele zeitgenössische Fotografinnen, Fotografen, Künstlerinnen und Künstler reflektieren in ihren Arbeiten das aktuelle Verhältnis von Mensch und Natur, machen die gegenwärtigen ökologischen Veränderungen visuell erfahrbar und loten dabei die Möglichkeiten der fotografischen Repräsentation aus. Die Ausstellungen in der Festivalzentrale zeigen neben herausragenden Einzelpräsenationen auch jene fünf aufstrebenden, europäischen Positionen, die vom Festivalnetzwerk „European Month of Photography“ für den EMOP Arendt Award nominiert waren. Mit Fotos von Simon Brugner, Vanja Bucan, Tamás Dezsö, Judith Huemer, Maria-Magdalena Ianchis, Inka & Niclas Lindergård, Sissa Micheli, Stefan Oláh, Anastasia Mityukova, Georg Petermichl, Klaus Pichler und Danila Tkachenko.

Basierend auf einem internationalen Open Call in Kooperation mit Mois européen de la photographie Luxembourg und Imago Lisboa und den daraus hervorgegangenen Einreichungen wurden Arbeiten von 111 internationalen Kunstschaffenden ausgewählt und zu einem eindringlichen, audiovisuellen Erlebnis – einer Slideshow – arrangiert. Zeitgenössische Natur- und Landschaftsfotografie kommt in ihrer Vielfalt ebenso zum Ausdruck wie unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff Natur.

Luca Piscopo, Candy Oscuro: Apocalypse & Genesis, 2020 © Luca Piscopo

Michaela Bruckmüller: Lilie Lilium, 2018, aus der Serie: Danse macabre, 2018 © M. Bruckmüller, Bildrecht Wien 2022

Kristina Varaksina: Self-Portrait Hair, 2020 © Kristina Varaksina, Courtesy: Hello World Gallery, Wien

Unseen Wien

Die Fotografien der Studierenden der Höheren Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt zeigen individuell entdeckte Unorte und Hiding Places in Wien und Umgebung, erforschen die architektonischen Strukturen der Stadt sowie ihre urbanen und suburbanen Besonderheiten.

Fotobuch-Ausstellung

Das Fotobuch spielt eine zentrale Rolle in der Fotografie. Es ist eines der wichtigsten analogen Medien, um fotografische Arbeiten und Projekte auf eine hochqualitative Weise zu transportieren. In der Ausstellung werden die besten Fotobücher der vergangenen drei Jahre gezeigt, die aus allen Einsendungen ausgewählt wurden. Am 26. März wird der Foto Wien Photobook Award verliehen: Mit einem Preisgeld von insgesamt 3.000 Euro werden die drei besten Fotobücher seit 2019 prämiert. Der Jury gehören Andreas Bitesnich, Fotograf und Fotobuch-Sammler, Verena Kaspar-Eisert, Kuratorin Foto Wien, und Michael Kollmann, Fotobuch-Kurator des OstLicht, an.

Photobook Market

Am letzten Festivalwochenende findet der von Fotohof edition veranstaltete Photobook Market statt. Mit ausgewählten Verlagen und Fotobuchhandlungen, Neuerscheinungen, Talks und Booksignings dreht sich alles um Fotografie in Buchform.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=uhvaL7Tyt14           www.fotowien.at

6. 3. 2022