Burgtheater: Zelt

April 29, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Grandiose Gruppengymnastik mit Campinggestänge

Sebastian Wendelin, Sabine Haupt, Hubert Wild, Michael Masula, Markus Meyer, Petra Morzé, Stefanie Dvorak, Simon Jensen, Ruth Brauer-Kvam, Marius Michael Huth, Naemi Latzer, Daniela Mühlbauer und Dorothee Hartinger. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

„Erst einmal nur rumspinnen“ wolle er, sagt Herbert Fritsch über seine jüngste Arbeit, der Regieschelm, der nicht dran glaubt, dass Theater auf einem Dramatikerpapier entstehen kann, sondern dies ausschließlich auf der Bühne tut. „Pures Theater“ nennt er‘s, wenn er wieder einmal seine Wunderkiste öffnet und den Spielort zum magischen Raum macht und seinen Schauspielern die Gelegenheit gibt, ihren Spieltrieb auf die Spitze zu treiben. Vierundzwanzig sind es diesmal in „Zelt“.

Fritschs finalem Kunststück am Burgtheater der abtretenden Direktorin Karin Bergmann, die sich auf ihrem Stammplatz, Reihe zehn fußfrei, so köstlich amüsierte, wie das ganze Premierenpublikum. „Zelt“ ist, nach Fritschs aufgekratzten Klassikerinszenierungen am Haus, da selbst entwickelt, noch eigentümlicher und exaltierter, ein perfekt choreografierter Nonsens, knallbunt, voll absurder Gags und komischer Akrobatik, in dem kein Wort gesprochen wird, weil, sagt Fritsch, der Sinn ohnedies im Klang läge. Stattdessen sind die Darsteller zur Gruppengymnastik mit Campingstangen angehalten, denn, wenn’s um irgendetwas geht, dann darum, ein Einpersonenkabäuschen aufzubauen. Mit Plane, Gestänge und Heringen, und die Darsteller machen daraus mit famoser Fantasie einen kollektiv-künstlerischen Prozess des erst Miss-, später Gelingens. Wieder scheitern, besser scheitern. Dass dieser Schaukampf mit der Tücke des Objekts unterhält, mag daran liegen, dass man ein Kind der großen Camping-Ära ist, der 1970er-Jahre. Als alles Richtung Freilufturlaub aufbrach, der erste Familienstreit vorprogrammiert, weil Vater das Vorzelt natürlich nicht in die dafür vorgesehene Schiene am Wohnwagen eingefädelt bekam.

Bevor die Plagerei losgeht, wird aber erst der Platz geschrubbt, der neongrün glänzende Boden vom neongrün gekleideten Putztrupp, der zum Wischbesen-Ballett einen Sound aus Gummihandschuh-Schnalzern und Kübelknall-Rhythmus kreiert. Fritsch-Intimus Hubert Wild intoniert kurz eine aufreibfetzige Arie, und während dazu Bilder von „Präsentiert den Besen!“ über die Schatten eines Reinigungsgeräte-Golgatha bis zum Protestmopp einer Demonstration geschaffen werden, stellt sich Hermann Scheidleder als eine Art staunender Chef heraus. Der zwar nicht recht zu wissen scheint, wie ihm geschieht, aber gleich einem Hohepriester den ersten Zeltaufbau zelebriert, aus dem dann das Ensemble krabbelt. Nun werkt ein jeder, wird sich in Heringen verheddert und mit aufgebauschten Planen gebalgt, ein jeder ein an seinem Trick gescheiterter Zauberlehrling, eingezwickte Finger inklusive, etwaige Schmerzäußerungen von der Musik übertönt.

Der Putztrupp lässt die Gummihandschuhe knallen: Selina Graf, Sabine Haupt, Sebastian Wendelin und Ensemble. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Kampf dem Gestänge: Stefanie Dvorak, Daniela Mühlbauer, Eva Maria Schindele, Michael Masula, Hermann Scheidleder und Sebastian Wendelin. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Auweh mit eingezwicktem Finger: Hubert Wild, Markus Meyer, Marius Michael Huth und Michael Masula. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Zeremonienmeister Hermann Scheidleder hat sein Einpersonenzelt als erster fertig. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Mitten durch den Saal macht sich nämlich eine skurrile Gestalt zur Bühne auf, Matthias Jakisic als Clown mit E-Geige, der die körperlichen Abläufe mit seinen Kompositionen koordiniert. Ob das Campingdasein sich als Synonym fürs Theaterleben lesen lässt, im Sinne von: aus Klein-Einzelnen wird ein Großes, bleibt im Fritsch‘schen Gedankenkosmos der freien Assoziation dem Betrachter überlassen. So auch die Frage ob der politischen Bedeutung eines Burkamoments oder, wenn die Zeltverpackungsbeutel wie Gasmasken über die Köpfe gestülpt werden. Man darf sich ausmalen, was man will und so gut man‘s kann, und apropos: Farben, Friedrich Rom versetzt Fritschs leeren Raum in einen fröhlich irisierenden Lichtrausch, rot wie Blut, blau wie der Himmel, frühlingsgrün. Die Kostüme von Bettina Helmi gleichen einer Trachtenkasperliade.

Die Damen in glitzernden Glockenrockdirndln mit Blumenmuster und Puffärmeln und blonden Gretelperücken, die Herren in einer Steirerlodensatire, unterm Janker kreischorange Hemden und grüne Krawatten, weiße Kniestrümpfe für Mann wie Frau ein Modemuss. Derart angetan erschaffen die Schauspieler eine Vielzahl komödiantischer Miniaturen, in denen es meist ums Begehren, Anbandeln, sich Verlieben geht, gelingt es diesen grandiosen Darstellern doch auch in der uniformen Masse absonderliche Typen zu gestalten. Bald wird’s zum Quiz, wen man unter der Maskerade erkennt, die Pirouetten drehende Petra Morzé, den ständig über seine Füße stolpernden, aber den Spagat meisternden Markus Meyer, Michael Masula, der sein Versagen am Gestänge grässlich weggrinst, die Beine hochschmeißende Ruth Brauer-Kvam, Marta Kizyma mit typischer Schnute und einem Augenrollen, den sich bis zum Schweißgebadet-Sein verausgabenden Sebastian Wendelin, Simon Jensen mit der Max-und-Moritz-Tolle, Stefanie Dvorak, Dorothee Hartinger, Sabine Haupt …

Akkordeon auf Teufel komm‘ raus: Markus Meyer, Petra Morzé, Peter Rahmani und Stefanie Dvorak. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Kaum ist die Zeltstadt fertig, legen die Zappelphilippas und Hampelmänner mit einem Lagerfeuerkonzert los. Die einen mit Gitarren, die anderen mit Akkordeons, eine furiose Kakophonie dieser mimischen Koalition, ein quietschend geschrammeltes Forte- fortissimo, der Veitstanz grotesker Volksdümmelei, mit Jakisic als satanischem Kapellmeister. Mitreißend verführerisch klingt das, dieser Irrsinn mit theatralem Seltenheitswert, und das Ensemble mit Spaß an der Freud‘ dabei.

Am Schluss zum Teufelsgeiger Scheidleder als Herrgott, der die Zelte als beleuchtete Lampions einer neuen Kušej’gen Zeit entgegenschweben lässt. Aber wie’s mit dem Übergang vom Hier zum Jetzt schon so ist, steht vor dem Anfang ein Ende, an dem die zwei Dutzend wie zerzauste Rübenköpfe aus dem Untergrund ragen, als seien sie in Dantes Purgatorio oder enthauptete Opfer einer nicht näher definierten Revolution. Das ist Überwältigungtheater, der Augenschmaus und Ohrensaus Beweis dafür, dass man kein Wort verstehen muss, um etwas auf sich wirken zu lassen. Zum tosenden Applaus der Fritsch-Fans fliegt er höchstpersönlich als Dirndl-Gretchen vom Schnürboden herab, die Träne im Knopfloch, weil’s für etliche im Ensemble tatsächlich die letzte Burg-Premiere gewesen sein wird.

www.burgtheater.at

  1. 4. 2019

Volkstheater: Der Kaufmann von Venedig

September 9, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zum Antisemitismus auch noch Sexismus

Vermögen weg, Tochter weg: Anja Herden überzeugt als hasserfüllte Jüdin Shylock. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

In der Pause schwören Insider Stein und Bein, dass hier nichts gefakt sei, dass alles mit rechten Dingen zugehe, und Anja Herden augenscheinlich nicht damit gerechnet hätte, tatsächlich gewählt zu werden. Es sei. Für die Eröffnungsproduktion am Volkstheater hat sich Direktorin Anna Badora einen besonderen Kniff einfallen lassen: Das Publikum kann sich einen von drei Shylocks aussuchen; die Abstimmung wird per Applausometer überwacht. Jan Thümer, später der Lorenzo, der als Conférencier diese Abstimmung leitet, stellt eingangs die Kandidaten vor.

Ein Spiel mit Klischees hebt also an, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat, die Frage, die sich stellt, lautet, was einen Juden ausmache – und so stehen zur Wahl: Shylock, der seriöse Banker, Rainer Galke, der traditionelle Wiener Jude, kenntlich gemacht durch seine Schläfenlocken, Sebastian Pass, und eben Anja Herden, die als Geschäftsfrau, noch dazu mit Migrationshintergrund, ausgewiesen wird. Thilo Reuther hat für Badoras Interpretation des Shakespeare’schen Stücks ein Casino auf die Bühne gestellt, man versteht: der Casino-Kapitalismus wird damit aufs Korn genommen, dieses Synonym für hoch risikoreiches Geschäftemachen, wie’s Antonio betreibt.

Beinah unablässig, wie die Roulettemaschine, dreht sich die Bühne, Schicksal ist gleich dem eingespielten Geräusch vom Fallen der Kugel in den Kessel. Und während die venezianische Schickeria mit Jetons um sich schmeißt, taucht die Shylock samt ihrem Geldverleiher-Kabäuschen aus dem Untergrund auf. Mit Anja Herdens Darstellung bekommt die geschichtlich angepatzte Figur eine unerwartet neue Dimension. Eine verdächtig freundliche Fassade hat sich die „Madam“ im Feindesland zurechtgelegt, hinter der brodeln Hass und Wut ob erlittener Demütigungen, und wenn sie mit sanfter Stimme von Antonio sein Pfund Fleisch verlangt, dann ist klar, dass sie sich dafür rächt, von ihm am Rialto angespuckt und als Hündin beschimpft worden zu sein.

Antonio will für Bassanio sein Pfund Fleisch geben: Evi Kehrstephan, Rainer Galke, Peter Fasching, Nils Hohenhövel und Lukas Watzl. Bild : © www.lupispuma.com / Volkstheater

Bassanio öffnet Portias richtiges Kästchen: Peter Fasching und Isabella Knöll. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Für diese Shylock gibt es gleich drei Ausschließungsgründe aus der Gesellschaft: den Glauben, das Geschlecht, die Hautfarbe. Mehrmals wird darauf hingewiesen. Und so kommt diesmal zum Antisemitismus auch noch Sexismus. Die Männer sind allesamt Unsympathen und Machos. Rainer Galkes Antonio trieft vor ekelhaft verächtlichem Hochmut, Jan Thümers Lorenzo behandelt Evi Kehrstephans Jessica als würde er sie am Nasenring führen, Sebastian Kleins Gratiano ist so antisemitisch wie frauenfeindlich, Peter Faschings Bassanio würde seine frisch angetraute Portia jederzeit für Antonios Wohl opfern. So steht’s bei Shakespeare, und Badora lässt in der dekadenten Spaßpartie leicht homoerotische Tendenzen durchschimmern.

In dieser von den Premierenzuschauern gewünschten Fassung spielt Isabella Knöll die Portia. Auch ihr vom verstorbenen Vater verordnetes Kästchenrätsel ist ein Glücksspiel. Im Glitzerkleid lädt die ganz auf Girlie gepolte Knöll die Werber zum Drehen eines Glücksrads ein, sie moderiert deren Fortune als wär’s eine Fernsehgameshow. In Anlehnung an das berühmte Zitat sagt sie: „All the world’s a game and I am the prize.“

Jan Thümer stellt die drei Shylocks zur Wahl: Rainer Galke, Sebastian Pass und Anja Herden. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Elisabeth Plessens Textfassung lässt einiges weg. So ist etwa Sebastian Pass‘ Rolle als Lanzelot Gobbo reduziert, Günter Franzmeier, der ein möglicher Antonio wäre, fallen diesmal nur die kleinen Parts von Tubal und dem Dogen zu. Marius Huth treibt als Dienerin Nerissa Badoras Spiel um Geschlechterrollen auf die Spitze. Am Ende wird Shylock in einer Fast-Vergewaltigungsszene buchstäblich zu Boden gerungen, während Antonio sich diesmal natürlich standhaft weigert, seine Hälfte von deren Vermögen zurückzugeben. Die schlimme Schmach Shylocks währt aber nur kurz, weil Jan Thümer das Publikum schnell in die Nacht hinaus verabschiedet.

www.volkstheater.at

  1. 9. 2018

Wiener Festwochen: Geschichten aus dem Wiener Wald

Mai 11, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Michael Thalheimer haut total daneben

Katrin Wichmann (Marianne) Bild: Arno Declair

Katrin Wichmann (Marianne)
Bild: Arno Declair

Es kann die beste aller Ideen sein, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ vom Deutschen Theater Berlin nach Wien zu bringen. Es kann die schlechteste aller Ideen sein. Bei Michael Thalheimer ist die Idee einfach ideenlos. Nein, es macht keinen Spaß, diese Rezension zu schreiben. Thalheimer, der Geliebte, dem man Sternstunden wie „Medea“ mit Constanze Becker, „Elektra“ mit Christiane von Poelnitz und zuletzt “Maria Magdalena” mit Sarah Viktoria Frick zu danken hat. Und jetzt das. Mit zwei Stunden ist Thalheimers „Geschichten aus dem Wiener Wald“-Inszenierung die längste, die man je gesehen hat.

In den Reihen raunt’s, die Deutschen sollen gefälligst die Finger von „unserem“ Horváth lassen. So ein Blödsinn („Geschichten aus dem Wiener Wald“ wurde 1931 in Berlin uraufgeführt). Im Gegenteil. Thalheimer wäre genau der Regisseur gewesen, dem Wiener Wald endlich den Wiener runterzureißen. Ein gefallenes Mädchen. Ein uneinsichtiger Vater. Ein Säugling, den man erfrieren lässt, weil ihn keiner will. Eine Spielernatur, kein schlechter Mensch, aber einer, der halt nicht aus seiner Haut kann. Und ein sitzengelassener Bräutigam, der sein Opferlamm am Schluss zum Altar wie zur Schlachtbank führt. Was könnte universeller sein? Ein Stoff, geschaffen für Abchasien bis Zypern. Und wer, wenn nicht Thalheimer, der Frauenstückeversteher, könnte diese Existenzen aufs Existenzielle reduzieren? Kurz, bündig, schmuslos. Wer anderer als der Meister antiker Angelegenheiten könnte die „kleinen“ menschlichen Dramen zur griechisch-großen Tragödie gestalten? Schicht für Schicht die Bestie Mensch freilegen?

Er hat’s nicht gepackt. Er hat’s nicht angepackt. Er war in seinem Zugriff nicht radikal genug.

Das Ganze beginnt auf leerer Bühne mit großer Tafel, an der die Darsteller Platz nehmen (dafür ist gleich gar kein Bühnenbildner angegeben); dem Donauwalzer – Dreivierteltakt um Dreivierteltakt um Dreivierteltakt; einem Havlitschek (Henning Vogt) mit blutiger Schürze und blutigen Händen. Die Sau – man weiß es. What a life, what a cliché. Wer was zu sagen hat, kommt nach vorne und macht’s als Rampenstehtheater. In einem Horváth-Dialekt, den sich der Autor schon zu Lebzeiten verbeten hat. So werden Waserl und Madal (Maderl) und Muatal (Muaterl) germanisiert. An der Bodhur‘ (Badehure) muss man naturgemäß scheitern. Ja, der achte Hieb und der Donaustrand und die Wachau können ein Hund sein.

Einige gab’s ja, die hielten das Scheitern an der unaufgefordert dargebotenen Mund-Art für eine Persiflage aufs goldene Wienerherz. Eine Möglichkeit. Die aber nicht darüber hinweg tröstet, dass es keinerlei Personenführung gab. Nie, wagt man hier zu behaupten, blieben der Zauberkönig (Michael Gerber), die Großmutter (Simone von Zglinicki) oder die Mutter (Katrin Klein) so konturlos. Fast wie der Karton-Mummenschanz, den sich die Darsteller immer wieder unvermittelt vors Gesicht schnallten. Ja, ja, die breite Masse. Marianne kriegt noch eine dieser Masken verpasst. Der Kothurn dazu fällt aus, auch wenn Vieles stelzenhaft daherkam. So saftige Rollen so blutleer runterspielen zu lassen, ist andererseits schon wieder eine Kunst. Dazu Andreas Döhler als Alfred, der „Geschichten aus dem Spreewald“ gab, wo er, glaub‘ ike, unbedingt irgendwem eine auf die oder in die Fresse geben wollte. Schon von Gang und Gehabe her ist dieser Alfred eine Karikatur.

Wären nicht Almut Zilcher als Valerie und Peter Moltzen als Oskar auf der Bühne gestanden, man hätte das Volkstheater gar nicht erst aufsperren müssen. Zilcher bringt alles mit, was Horváth braucht. Ist genau die leicht überwuzelte Trafikantin, immer noch sexy, die’s immer noch braucht, aber nicht mehr so kriegt, die Bissgurn mit dem Herz am richtigen Fleck. Peter Moltzen legt den Oskar in Mimik und Gestik von Anfang an als Perversen fest. Man ist überzeugt, dass ihm in der Ehe „die Hand ausrutschen“ wird. Die Sau- man weiß es. Beide Rolleninterpretationen sind nicht neu, aber immer noch gut und gültig. Moltzen hat eine wunderbar clowneske Einlage, einen Kampf mit der Konfektschachtel, die er der Marianne verehren will. Katrin Wichmann als diese bemüht sich um Wahrhaftigkeit zwischen den Pappgesichtkameraden. Um so etwas wie echte Verzweiflung über ein verpfuschtes Leben. Ihr Schrei „Ich will nicht mehr geschlagen werden!“ – von der Gesellschaft, von Gott und der Welt eben – ist der einzige Augenblick des Abends, der zu Herzen geht.

Alfred Polgar bezeichnete die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ als „ein Volksstück und die Parodie dazu“. Erich Kästner schrieb vom zerstörten Wiener Figuren-Panoptikum. Irgendwo dazwischen hätte Thalheimers Weg sein können. Aber er hat offenbar die Wanderkarte verloren. Zu den Burgruinen geht’s in der Regel eben sehr steil bergauf.

Die Bravos und Buhs aus dem Publikum hielten sich die Waage.

www.festwochen.at

www.mottingers-meinung.at/wiener-festwochen-2014

www.mottingers-meinung.at/interview-michael-thalheimer-inszeniert-elektra

Wien, 11. 5. 2014

Salzburger Festspiele: „Die Jungfrau von Orleans“

August 6, 2013 in Bühne

Finster war’s, nur die Jungfrau helle

Keine Honorarpflicht bei aktueller Berichterstattung über die Salzburger Festspiele und Nennung des Fotocredits.

Alexander Khuon (Lionel/Montgomery), Kathleen Morgeneyer (Johanna)
Bild: © Arno Declair

Am Anfang war das Wort. Und Finsternis auf der Bühne. Am Ende … war das immer noch so. Nur eine war in gleißendes Licht getaucht. Sie. Die Gotteskriegerin. Die Dschihadistin, die den großen und den kleinen Kampf führt – gegen die Engländer und für ihre persönliche Annäherung an Gott. Weshalb sie bei Schiller auch entrückt wird, in der Realität als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen endete. Jeanne d’Arc. Bei den Salzburger Festspielen (in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater Berlin) hat sich Regisseur Michael Thalheimer des Mythos angenommen; die schwarze Halbkugel, das dustere Erdenrund stammt von Bühnenbildner Olaf Altmann. Thalheimer ist Meister im Verdichten, konzentriert auf die Essenz. Mit sparsamsten Mitteln „kocht“ er das Drama und sein Publikum ein. Bei dieser Johanna ist ihm der Fond allerdings verdampft. Thalheimer zeigt Deklamationstheater. Pathos pur. Ein Standbild statt eines Schauspiels. Die grausame Logik seiner Heldin, die selbst noch zum Schwert greift, als es die Männer schon müde sind, hat  ihn offenbar nicht inspiriert. Es scheint – pardon! – als wüsste er mit der Figur nichts anzufangen. So steht Kathleen Morgeneyer zweieinviertel Stunden, das Schwert in der Rechten, Tarnfarbe im Gesicht, regungslos herum. Nur Grimasssen darf diese sonst so großartige, vielseitige Schauspielerin schneiden. Ach ja: Und als einfaches Schäfermädchen gar artig sprechen, während sie gehorsam schreit, sobald die Heiligen in sie fahren. Da wird sie Nemesis persönlich. Knallhart. Vor allem, wenn ihr die Heilige Maria das blutrünstige Morden anschafft, brüllt Morgeneyer wie am Spieß. Huch, eine gespaltene Persönlichkeit, wie psychologisch aufregend! Und das so lange vor Sigmund Freud …

Der Rest der Mannschaft umrundet das Denkmal wie Schattengestalten. Idee: Statt Schlachtenszenen, die ja pfui Action auf die Bühne gebracht hätten, spucken die Sterbenden Johanna einfach das Blut aufs weiße Kleidchen. Unter den Herren stellt einzig Christoph Franken als Karl der Siebente (von Johanna ja zum König von Frankreich gemacht) so etwas wie eine Figur dar. Er darf in langen Unterhosen und Pelzmantel und Krönchen über die Bühne tippeln. Ein Schwächling, der den in seiner Familie herrschenden Wahnsinn in kleinen Details gelungen andeutet. Meike Droste gibt seine Geliebte, Agnes, mit mehr Mumm unterm bunten Kleidchen als er – und darf sogar menschliche Züge zeigen. DIE beiden Auftritte des Abends gehören aber Almut Zilcher als Königin Isabeau, die ihren eigenen Sohn um den Thron gebracht und den Feind ins Land geholt hat. Wenn die Grande Dame auf die Bühne stöckelt, gehört der Raum ihr. Ein böses, hinterfotziges Weib. Eine Hexe wie aus dem Märchen. Eine faszinierende Erscheinung.

Das Moral in Dichtung und Wahrheit: Vor nichts haben Männer mehr Angst und Ehrfurcht als vor einer starken Frau. Und weil sie die Machtmittel (immer noch) in der Hand haben, folgt deren Ausrottung mit Stumpf und Stiel. Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens, lehrt uns Thalheimer. Nur ein bissl mehr gesehen hätten wir gern. Mehr Licht! Um schnell noch Schillers Kumpel Goethe zu zitieren.

Premiere am Deutschen Theater Berlin: 27. September.

www.salzburgerfestspiele.at

www.deutschestheater.de

www.mottingers-meinung.at/salzburger-festspiele-2013/ :Domplatz: Die Sommerresidenz der Familie Hörbiger

www.mottingers-meinung.at/die-neue-buhlschaft/

www.mottingers-meinung.at/salzburger-festspiele-young-directors-projekt/

Von Michaela Mottinger

Salzburg, 29. 7. 2013