Landestheater NÖ online: Steilwand
Januar 30, 2021 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Der Herzschlag hämmert wie die Beatmaschinen

Tim Breyvogel: Bild: © Alexi Pelekanos
Mit der Produktion „Steilwand“ verließ das Landestheater Niederösterreich vergangenen Februar das Mutterschiff auf dem Rathausplatz und beamte sich mitten in die St. Pöltner Clubkultur. Allein, die Freude übers rundum gelungene Arriviert meets Alternative währte nicht lange, COVID-19 kam der österreichischen Erstaufführung des Simon-Stephens-Stück in die Quere – und so bewegte sich die mobile Produktion ins world wide web.
Heißt: bis Sonntagabend lässt sich ein furios entfesselter Tim Breyvogel im #wirkommenwieder-Stream auf www.landestheater.net erleben. Die Inszenierung von Annette Holzmann wurde dafür extra in der Theaterwerkstatt neu aufgenommen. Die an den Act anschließende DJ-Rotation mit Musikerinnen und Musikern der St. Pöltner Szene entfällt naturgemäß, doch Breyvogel macht den dichten, beklemmenden Monolog nicht nur zum schauspielerischen, sondern mit dem rhythmisch-klangvollen und vielstimmigen Sound aus seinem DJ-Pult auch zum multimedialen Erlebnis
Unterstützt von den Videos Moritz Wallmüllers, die mal Kinderkritzelei, mal Tor zu den Weiten und Abgründen der Seele sind. Es ist ein seltsam grobkörniges Bild, das man via Bildschirm sieht, die Kamera zoomt zur Großaufnahme, und bald wird diese Intimität einen wie eine Sturzflut mitreißen. Da steht Breyvogel, in sich gekehrt, den Blick im Nirgendwo verankert, die Hände an den Klangreglern – der eigene Herzschlag hämmert wie die Beatmaschinen, derweil der Schauspieler als Performer wie DJ zwischen Soliloquium, Schmerz und Synthesizer switscht.
Simon Stephens‘ wie stets sich erst allmählich enträtselnder Monolog ist tatsächlich nah der antiken Bekenntnisliteratur. Da ist dieser Vater, Alex, sein Text sorgsam eingeösterreichert, der mit Frau und Tochter so gern Urlaub in Südfrankreich macht. Jahrelang, bei einem groß-/väterlichen Freund, Schwimmen und Tauchen, Sonnenbaden am Strand, die Sommertage genießen, bis das Unglück passiert … die „Steilwand“, sie ist eine Trinität, eine Klippe unter Wasser, an Land, im Geiste.

Bild: © Alexi Pelekanos

Bild: © Alexi Pelekanos
Stephens’ Sprache ist analytisch und kühl, doch die filmische Unvermitteltheit erzeugt einen unfasslich heftigen, poetischen Sog, Breyvogel im Lichtgewitter, seine Erschütterung, Ungläubigkeit bei gleichzeitiger Erzählerdistanz sind atemberaubend. Im Hintergrund, nein, rundum um ihn, ihn umschlingend, ihn verschlingend, bauen sich Wallmüllers Zeichnungen auf, wie die Monster, die man von historischen Seekarten, Breyvogel so intensiv, wie man ihn live von der Bühne kennt.
Und apropos, Ungläubigkeit am Abgrund: Die verhandeln Stephens und Breyvogel mal explizit, mal implizit, die Gottesfrage nämlich, vom Errechnen von dessen Existenz à la Kurt Gödel bis zum Aussehen – alter Mann, weißer Bart?, von der Urknalltheorie bis zu der Bibel verdankten Wissenslücken, von der Schuld bis zur Erlösung. Die Bühnentür, die Breyvogel kurz öffnet, würde ihn in kosmische Nebelschwaden saugen – „Steilwand“ ist auch optisch ein starker, beinah schwarzweißer Film. Dazu die hypnotische Musik, wie im eigenen Kopf schwirrende Töne, da man das Schlimmste nicht mehr als mitansehen kann, die Bilder, die in Wellen kommen, als Brandung und Unterwasserströmung, Ebbe und Flut eines unerträglichen Gemütszustands.
Breyvogel, in dessen Augen auch Alex‘ Aufbegehren gegen das Geschehene – Schicksal, Ungerechtigkeit, wie weiterleben? – aufblitzt. Am Ende seine Sprach- und Hilf- und Gestenlosigkeit. Fazit: Es ist dieser Tage die bessere Strategie dem Publikum Produktionen online anzubieten, als in der Lockdown-Versenkung zu verschwinden. Das Landestheater Niederösterreich beweist via „Steilwand“, wie man ein Projekt mit Engagement und Ideen vom Bühnen- in den virtuellen Raum heben kann, ohne dass Atmosphäre verloren geht. Bis wir einander von Angesicht zu Angesicht wiedersehen: Schau‘n Sie sich das an!
Trailer: www.youtube.com/watch?v=ZaD7H7z3cSw www.landestheater.net
- 1. 2021