Burgtheater: Zdeněk Adamec

September 19, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Frank Castorfs grausiges Grand Guignol

Ein Mann in brennendem Mantel geht stoisch, schweigsam, schaurig über die Bühne: Marcel Heuperman, Mavie Hörbiger, Franz Pätzold und Hanna Hilsdorf. Bild: © Matthias Horn

Nach dem „Faust“ an der Staatsoper und Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=47456) schloss Frank Castorf gestern Abend am Burgtheater seinen Wien-Hattrick mit der Inszenierung von Peter Handkes „Zdeněk Adamec“ ab. Dass der Autor ein Meister der leisen Zwischentöne ist, der seinen Text demgemäß auch „eine Skizze“ nennt, kränkelte Polter-Geist Castorf nicht eine der 255 Minuten Spieldauer an.

Auf des einen feinnervige Reserviertheit antwortet der andere mit nervösem Rambazamba. Ein wilder Widerspruch der beiden das Schützenswerte im Menschen hochhaltenden Wut-Verwandten, der störrisch-spröde Literaturnobelpreisträger und der sture Bühnenexpressionist, was sich mit Blitz und Theaterdonner höchst erfrischend entlädt. Was sich auf der Bühne ereignet, ist extrem, exzentrisch, exaltiert. „Bitte macht mich nicht zum Narren“, schrieb Zdeněk Adamec als letzten Satz in seinem Abschiedsbrief. Dafür hält Castorf jetzt ein grausiges Grand Guignol ab, dies, weiß der frankophile Frank, nicht nur das gallisch-gallige Pendant zum Kasperl, sondern auch Gattungsbezeichnung für grotesk-triviales Gruseltheater.

Handkes titelgebende Figur ist ein real existiert habender Mensch. Am Abend des 5. März 2003 fuhr der 18-jährige Schüler Adamec mit einem Überlandbus von seiner Heimatgemeinde Humpolec nach Prag, um sich dort auf den Stufen des tschechischen Nationalmuseums auf dem Wenzelsplatz mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Zdeněk ist ein Selbstmörder, der um den historischen Bezug seiner Tat weiß: 1968 verbrannte sich ebendort der Student Jan Palach als „Fackel No.1“ aus Protest gegen die Okkupation durch sowjetische Truppen.

Adamec hingegen adressiert als „Fackel 2003“ die „lieben Bewohner der ganzen Welt“, plädiert für die „totale Demokratie“, ruft auf mit Kriegen, Kapitalismus und Korruption, heißt: sozialen Ungerechtigkeiten, der Umweltzerstörung, der Macht des Geldes Schluss zu machen … Bald ist der Fall vergessen. Bis ihn Peter Handke 2017 in seinem Roman „Die Obstdiebin“ erstmals aufgreift. Adamec ist ihm kein „verstörter Jugendlicher“, wie Vaclav Klaus versuchte, die Selbsttötung kleinzureden, kein von existentiellem Ekel befallener Unzurechnungsfähiger – doch wer dann?

Marcel Heuperman und Franz Pätzold. Bild: © Matthias Horn

Liebling, hältst du mal die Axt? Mavie Hörbiger. Bild: © Matthias Horn

Mehmet Ateşçi und Marcel Heuperman. Bild: © Matthias Horn

In seiner bei Suhrkamp erschienenen 71-Seiten-Albtraumballade sucht Handke dies nur bedingt zu ergründen, und Castorf gesteht ihm im Interview – befragt nach Handkes proserbischem Engagement, in Stück schreibt er: „Zeige niemandem deine Heimat!“ – zu, dass ein Dichter andere Tatsächlichkeiten, Ansichten und Ansätze haben dürfe als Otto Normalo. Sieben Spielerinnen und Spieler, Mehmet Ateşçi̇, Marcel Heuperman, Hanna Hilsdorf, Mavie Hörbiger, Franz Pätzold, Marie-Luise Stockinger und Florian Teichtmeister, schickt er los auf die Pirsch nach einer Geschichte, sie sind Beobachtende, Erzählende, Gestrandete im Mentalitätskaff Humpolec, Sich-ihren-Teil-von-der-Story-Nehmende – und letztlich per Rollennamen auch sie selbst.

„Eine Inszenierung von Frank ist nie kurz“, bescheidet Franz dem Florian. Gelächter. „Wo bleibt denn die Requisite?“, fragt Marcel besorgt, als der volltrunkenen Marie-Luise der Sprit – eine Plastikkalaschnikow voll Schnaps – ausgeht. „Jetzt müssen wir einmal den roten Faden wieder finden“, fordert Mavie die anderen auf. Denn Kernthema ist, besungen von Georg Danzer: „Die Freiheit“, auch die, sich das Leben zu nehmen, der Kernsatz zu Adamec‘ medialem Verschwinden: „Es scheint, als würde es nur um Aktualität gehen und hinter der Aktualität keine Welt.“ Ihrer auf Spekulationen und Mutmaßungen basierenden Aufführung des Ewig-Unbegreifbaren misstrauen sie selbst: „Woher weißt du das?“ fragen sie einander immer wieder skeptisch.

Auf die Drehbühne hat Castorfs Longtime Companion Aleksandar Denić, die mal königlichen, mal klobigen Kostüme sind von Adriana Braga Peretzki, Handkes „Feierabendleuten“ diverse Spielorte gestellt. Unorte an der städtischen Peripherie, eine Autobushaltestelle, eine grün gestrichene Baracke mit Hinterhof-Ausschank und Außendusche, eine Deponie voller Benzinfässer. Darüber große Werbetafeln für bosnische und serbische Zigaretten, wo viel Rauch, da auch viel Feuer, und Handke erinnert in seinem Text an die großen Leuchtreklamen internationaler Konzerne am Wenzelsplatz, die den jungen Mann im letzten Augenblick darin bestärkten, das ihm richtig erscheinende zu tun.

Florian Teichtmeister, Hanna Hilsdorf, Mavie Hörbiger und Marie-Luise Stockinger. Bild: © Matthias Horn

Mehmet mit den Scherenhänden: Florian Teichtmeister und Mehmet Ateşçi. Bild: © Matthias Horn

Im Chaos gleich einem klassischen Calderón-Helden: Marcel Heuperman und Franz Pätzold. Bild: © Matthias Horn

Bude zerlegt: Hilsdorf, Hörbiger, Stockinger, Heuperman, Teichtmeister, Ateşçi und Pätzold. Bild: © Matthias Horn

Castorf setzt darüber als ohnmächtige Verhöhnung des unantastbaren Systems ein riesiges Billboard: „Let’s Start Burning“, womit die in Flammen stehende Sportlerin allerdings die Fettverbrennung beim Workout meint. Trostlosigkeit also in Humpolec, auf der Leinwand das „berühmte“ Autocrossrennen des Ortes samt ohrenbetäubendem Heavy Metal, jede verständliche Bemerkung die eine oder einer macht, kommentieren, relativieren die anderen als „… oder auch nicht!“-Chor. Ein derartiges Textkaleidoskop über die Rampe zu bringen, gelingt nur mit einem großartigen Ensemble wie diesem.

Hanna Hilsdorf etwa, die Castorf von der Volksbühne mitgebracht hat, worüber sie auch ein reminiszentes Tränlein vergießen darf, Castorf, der Feminist anorektischer Frauenfiguren, der den Damen hier inhaltlich mehr zu spielen gibt, als den Herren. Nach der Pause gesellt sich zum lakonisch vorgetragenen Nonsens-Hintersinn eine häppchenweise Adamec-Abhandlung, Mavie gebiert unter Schmerzen das Baby Zdeněk, das als Spielzeugpuppe gespenstisch auf und davon krabbelt, Franz macht sich zum Alter Ego punkto der Angelegenheit „sich selbst abzuschaffen“, schön und gut, dass Castorf Handkes Hang zum Pathos plattgemacht hat, doch er tut’s an dieser Stelle auch mit dem Performer.

Ziehen doch die rätselhaften Bilder einer Postapokalypse aus Jan Schmidts tschechischem 1967er-Schwarzweiß-Spielfilm „Ende August im Hotel Ozon“ die Aufmerksamkeit auf sich. Ansonsten ist Castorf um Ideen nie verlegen. Ein Mann in brennendem Mantel geht stoisch, schweigsam, schaurig über die Bühne. Im Inneren des grünen Häuschens, Wohnküche und Stockbetten-Schlafzimmer, und für seine Begriffe setzt Castorf Andreas Deinerts Live-Kameras diesmal relativ spät ein, kocht Florian ein Karottensüppchen, das ihm Mehmet mit den Scheren- händen später, da ersterer auf der Toilette sitzt, über den Unterleib kippt. Auch dies wohl eine Art Metapher fürs Brennen, wie Castorf überhaupt einmal mehr klar macht, woraus der Mensch besteht: Blut und Scheiße.

Marie-Luise Stockinger und Ensemble. Bild: © Matthias Horn

Mehmet Ateşçi und Ensemble. Bild: © Matthias Horn

Hilsdorf und Hörbiger, auf der Leinwand: Pätzold und Heuperman. Bild: © M. Horn

Ebenfalls ungewöhnlich für den Godfather des deutschsprachigen Diskurstheaters ist der sparsame Einsatz von Fremdtexten. Castorf unterfüttert Handke mit Handke, ein wenig Céline kommt vor, Schillers ästhetische Briefe, das Darker Manifest, Adam Smiths „mitten im Schoße der Gefühligkeit hat der Egoismus sein Sein begründet“. Ivo Robic singt „Morgen“, Hans Albers „La Paloma“ und Karel Gott „… oder auch nicht“ die Modřanská Polka „Škoda lásky“ aka „Rosamunde“. Am Ende erklingt das ursprünglich russische Arbeiterlied, später NSDAP-Propagandalied, früher und später der Hit der sozialistischen Bewegung: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, verfasst 1895 von Leonid Petrowitsch Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis. Dies für alle, die sich nach der Beschaffenheit des Castorf’schen Humors fragen.

Und apropos, Ende: Es gibt jede Menge schöner Schlussbilder. Pätzold spielt das nunmehrige Chaos allüberall wie einen Klassiker. „Das Leben ein Traum“, hänselt ihn darob Heuperman (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41295). Auf ein Leintuch schreibt die Hörbiger wie einen Demoslogan auf Tschechisch „Bitte mach‘ mich nicht verrückt“ – und wird anschließend mit dem Rest des Ensembles im Regen stehen gelassen. Ein Video zeigt das reale Humpolec von heute als nettes Provinz-Städtchen, doch Mehmet Ateşçi̇ reagiert hysterisch schreiend: „Neiiiin!! Ich will nicht aufhören! Ich spiele weiter!“ Ein Lacher angesichts von Castorfs Endlos-Arbeiten, aber auch ein Appell ans Niemals-Vergessen. Dazu skandiert das Ensemble gemeinsam den Zungenbrecher „strc prst skrz krk“/Steck deinen Finger in den Hals.

Fazit: Grandseigneur Frank Castorf, früher standfest in Buh-Orkanen, nun im elegant-dunklen Anzug von Bravorufen begleiteten Applaus entgegennehmend, entfesselt ein Ensemble wie kein zweiter. Wie sie alle x-e Male die Masken wechseln, ihre Haltungen und Tics, das ist großes Kino. Am Burgtheater scheint sich dafür bereits eine Stammcrew herauszukristallisieren, samt Florian Teichtmeister, den man selten so brillant expressiv gesehen hat wie hier. Und weil eingangs vom Gruseltheater die Rede war: Für seine Darstellerinnen und Darsteller wandelte sich der Frank im Jubel gar zum Kuss-Monster. Und was das enthusiasmierte Publikum betrifft: Der Gemeinschaft der Unzufriedenen und nach Veränderung Strebenden gab die Aufführung ganz castorfesk in jedem Augenblick die Wahrnehmung dazuzugehören. Merci beaucoup et plus encore.

www.burgtheater.at           Teaser: www.youtube.com/watch?v=zAb-FXICTGw          Probeneinblicke: www.youtube.com/watch?v=7w76t1xcjM8

  1. 9. 2021

Burgtheater: Mein Kampf

Oktober 10, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Den Witz versteht nur, wer dabei gewesen ist

Und hereinbricht Hitler: Markus Hering als Schlomo Herzl, Marcel Heuperman als Braunauer Bildermaler und Oliver Nägele als Lobkowitz. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Zusammengefasst, das Ganze entwickelt sich vom jüdischen Witz zur Furz-Farce zu einer Brachialgewalt, die durch George Taboris Groteske schlägt, wie die Heiligen Nägel durch Schlomos Hände. Itay Tiran inszenierte am Burgtheater also „Mein Kampf“, er hat sich am Akademietheater als Regisseur schon in „Vögel“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34508), als Schauspieler in „Der Henker“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36623) von seiner besten Seite gezeigt.

Nun berichtet der im israelischen Petach Tikva geborene Künstler im Programmheft anrührend von seiner „Kämpferin“, Großmutter Deborah Fixler Yahalom, Shoah-Überlebende und Geschichtenerzählerin und Virtuosin eines Überlebenshumors, mit dem sie ihrem Enkel den Horror beschrieb. „Shoah“, sagt Tiran, „ist für sie, wie für viele andere, kein datierbarer Zeitpunkt in der Geschichte, sondern ein Zustand, der anhält und andauert“, und im Interview, dass er, als seine Regiearbeit angefragt wurde, zweifelte, ob er sich mit dem Familientrauma auseinandersetzen möchte, nicht wissend, was er dem in Wien oft und grandios gespieltem Stück an noch nicht Gesagtem hinzufügen könne.

Dies hier erwähnt als Eckpunkte einer Besprechung, die über ein „Ja, so kann man’s freilich auch machen“ hinauskommen möchte, ist es unsachlich zu sagen, man möge von Themen, die einem zu nah sind, die Finger lassen?, kurz: der gestrige Premierenabend hat seine Momente, skurrile und schwere und solche, die es einem nicht leicht machen.

Jessica Rockstroh hat die Vorderbühne mit einem Jossi-Wieler-Rechnitz-Gedächtnisguckkasten zugebaut, ein Vergleich, dem stattgegeben wird, als Frau Tod Herrn Hitler ihren eben rekrutierten Würgeengel nennt. Bis dahin ist es ein mehr als zweistündiger Weg durch diesen gefinkelten Wandverbau, der sich hoch- und wegklappen lässt, die Paneele mal Bett, mal Bügelbrett, und dessen Teile von Anfang bis Ende durchbrochen und zertrümmert werden, wenn die Schauspieler aus ihnen fallen, drängen, drücken. Kein heiles Heim, dafür ein Heil! im Männerwohnheim, der Hitler und der Himmlisch kommen!

Davor, man weiß es, ein heiterer G’tt aus wenig heiterem Himmel, einer, der sich an nichts erinnern kann, solch aktuelle Hinterlist gibt’s von Schnitzel und Flüchtlingsstrom bis zum Jammern der Tödin übers Aussterben der Pandemien (Publikum: Gelächter!). Der Herr und sein Auserwählter sind, man weiß auch das, Koscherkoch Lobkowitz und Buchhändler Schlomo Herzl, Oliver Nägele und Markus Hering, und im Wortsinn über die beiden hereinbricht Marcel Heuperman als Hitler. Der sich erst in einer hochgeschraubten Schwadronade, dann seinen Darm in einen Kübel entleert. Scheiße aus allen Körperöffnungen, wie gesagt, am Furz- und Kotztheater wird hier nicht gespart. Heupermans unappetitlicher Hitler ist ein Theatraliker ennet der Grenze des Geschmacklosen.

Hering, Heuperman und Hanna Hilsdorf als Gretchen, hi.: Huhn Birne als Mizzi. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Ein händewachelndes Ojojoj der Menschenopfer: Makus Hering und Oliver Nägele. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Rekrutiert ihren Würgeengel: Sylvie Rohrer als Frau Tod und Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Itay Tiran, und dies sein Pluspunkt, stellt die Schauspieler in den Mittelpunkt, er gibt ihnen all den Raum, der zwischen drei Wänden möglich ist. Es ist ein einfaches, ein Armes Theater, das er zeigt, mit einem Stück Kreide zeichnet Herings Schlomo Hitlers neues Zuhause wie den Teufel an die Wand; die Kostüme von Su Sigmund wie aus der Kleidersammlung, Trainingsbuxe, Bademantel, die Kippa eine Strickmütze. Heuperman ist ein feistes, berserkerndes Baby, ein hysterisch wütendes Kleinkind, kindisch-grausam, sobald es nicht nach seinem Kopf geht, die schmutzigen Strümpfe auf Halbmast, die versiffte Unter- eigentlich eine beständig rutschende Windelhose, die Heuperman ebenso beständig über dem nackten Hintern hochzieht.

Hering und Nägele geben sich als zwei Käuze, die mit einem händewachelndem Ojojoj ihre Opferbestimmtheit kundtun, Lobkowitz schon ein jenseitiger Mehlzerstäuber, Herzl noch ein herzergreifend Verzweifelter – am jüdischen Glauben und am jüdischen Witz, der mit mütterlichem Masochismus den Braunauer Bildermaler zum Massenmörder stylt und coacht. In diesem Szenario ist allerlei Bärtchen- und Youth-Cut-Slapstick möglich, so weit, so schön läuft der Abend am Schnürchen, mit komischen Typen und ihren Hals- wie Wortverdrehern. Jede Pointe sitzt, auch wenn man hier bereits den Sinn für Taboris nadelspitzen Sarkasmus und seine beißende Tieftraurigkeit vermisst.

Den schönsten und sie bestimmenden Moment schöpft Itay Tirans Aufführung aus der Verkehrung von Schlomo Herzls Satz zu seinem Buch, titelgebend: „Mein Kampf“, der bei Deborah-Enkel Tiran als Schlomos „letzte Chance endlich zu vergessen, woran ich mich seit meiner Jugend erinnern muss“ dasteht. Lässt er doch den Hering bei ins Gelbe gedimmten Standbildern die Mitakteure nach Schlomos Willen arrangieren, auf dass seine Inszenierung unter greller Glühbirne Szene für Szene ins Grauen entgleise.

Herings Schlomo Herzl mit der KZ-Tätowierung auf dem Unterarm fantasiert aus dem Orkus die Schlächter neu herbei. Und er weiß es und er kann es nicht verhindern, kann das Geschehene nicht umschreiben. Aus seinem Transistorradio hört man HC Strache im Wahlkampfmodus. Geschichte wiederholt sich nur als Farce, um Karl Marx abzukürzen.

Keine Akademie? Hitler ist am Boden zerstört: Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Der Schnauzer wird zum Bärtchen gestutzt: Markus Hering und Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Goldene Göttin statt deutsches Mädl: Markus Hering und Hanna Hilsdorf, hi.: Oliver Nägele. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Und wieder wird ein Jude gekreuzigt: Rainer Galke als Himmlisch und Markus Hering. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Von der allerdings ist Tiran mittlerweile weit entfernt. Er hat zur verlangt feinschnittigen Sichel, um noch mal Marx zu bemühen, den dumpfen Hammer hervorgeholt, die Geräuschkulisse von Ludwig Klossek klingt nach Maschinengewehr, Grölen, Stöhnen, Hohngelächter. Mit Bettfedern hereinschneit Gretchen als Goldene Göttin, Hanna Hilsdorf allerdings weder Varganin noch bodenständig deutsches Mädl, sondern in dieser Schlüsselepisode, wie man dem Volk die Stimmung umdreht, deutlich unterbeschäftigt. Am spannendsten und bei Weitem die beste Komödiantin ist die Henne Birne als legendäre Mizzi, die in ein Wandbord gesetzt wird – und man dem Tier am Schnabel ansieht, wie’s überlegt: Wie komm‘ ich da nur wieder runter?

Bleibt: Die großartige Sylvie Rohrer als sich zur Kunstfigur verrenkende Frau Tod, ein bizarrer, kalter Todesengel, als der die Rohrer hier eine Glanzleistung hinlegt: Bleibt: Rainer Galke mit Axt – als Himmlisch von einer Herrenmensch-Rage, der eine Sauerei anrichtet, die Taboris subversives Zotenspiel, seine Assoziationskette von Schmerz zu Scherz zu Ausch-/Witz endgültig zerreißt. Schlomo wird an die Wand gekreuzigt, Mizzi vergast, der Titel „Mein Kampf“, denn ein Buch gibt es nicht, wechselt den Besitzer und Hitler zieht mit seiner Bagage und seinem an den Deportationskoffer gemahnendes Gepäckstück ab, als hätte er Schlomo sogar den gestohlen.

Zusammengefasst, im Dickwanst ist punkto dramatischer Dichte noch Luft drin. Die drastische Oberfläche bräuchte Tiefgang. In Zeiten da Rechts von einer zustimmend nickenden Mitte übernommen wird, braucht es (kultur-)politisch Radikaleres als Horrorclowns wie einen sich ausscheißenden Hitler und einen randalierenden Himmlisch. Ja, George Taboris „Mein Kampf“ ist im Getriebe des Repertoirebetriebs angekommen, kann man ihn aus diesem nun bitte weiterziehen lassen?

Lobkowitz und Robkowitz sitzen im Garten Eden auf einer Bank. Sagt Lobkowitz: Erinnerst du dich noch, wie du auf der Seife ausgerutscht bist und dir den Schädel zerschlagen hast, bevor sie uns vergasen konnten? Robkowitz schüttelt sich vor Lachen und erwidert: Ja, aber weißt du noch, wie du dich beschwert hast, sieben Mann seien zu viel für ein Bett? Kommt G’tt vorbei, böse und aufgebracht darüber, was es denn da zu lachen gebe. Sagt Lobkowitz: Ach Herr, den Witz versteht nur, wer dabei gewesen ist …

www.burgtheater.at           Video: www.youtube.com/watch?v=7x8ihcvJKbQ

  1. 10. 2020

Volksoper Wien: „Il trovatore“

November 12, 2013 in Klassik

VON RUDOLF MOTTINGER

Eine tragische Dreiecksgeschichte

Eva Maria Riedl (Ines), Melba Ramos (Leonora), Chor Bild: Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Eva Maria Riedl (Ines), Melba Ramos (Leonora), Chor
Bild: Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Anlässlich von Giuseppe Verdis 200. Geburtstages setzt die Volksoper als erste Opernpremiere der aktuellen Saison “ Il trovatore“  aufs Programm. Verdis 17. Oper begründete gemeinsam mit „Rigoletto“ und „La Traviata“ (ab 29. März 2014 wieder im Repertoire)  zu Beginn der 1850er Jahre den Welterfolg des Komponisten. Die Premiere der Neuinszenierung von Dietrich W. Hilfsdorf ist am 16. November 2013. Verdis Klassiker wird somit bereits zum fünften Male nach 1905, 1935, 1941 und 1961 am Haus am Gürtel neuproduziert. Die Musik sei banal und brutal, die Handlung schlichtweg unverständlich – so tönte es dem „Troubadour“ noch im 19. Jahrhundert – zumeist von der Seite deutschsprachiger Kritiker – entgegen. Während Verdis Partitur von elementarer Kraft und Meisterschaft mittlerweile über jede Herabsetzung erhaben ist, steht die tragisch endende Dreiecksgeschichte seit jeher im Verdacht nur schwer nacherzählbar zu sein. Und doch kann sich niemand ihrer Sogwirkung entziehen: Verdis „Il trovatore“ kreist um das Thema der verfeindeten Brüder Graf Luna und Manrico, die in diesem Falle jedoch nichts von ihrer Verwandtschaft wissen. Der Troubadour Manrico hält sich für den Sohn der Zigeunerin Azucena, die von dem Gedanken an Rache für ihr ermordetes Kind besessen ist. Manrico und Graf Luna sind nicht nur politische Widersacher, sondern auch Rivalen um die Liebe derselben Frau, Leonora. Die Vorlage für Verdis Oper „Il trovatore“ lieferte Antonio García Gutiérrez erstes Bühnenstück „El trovador“, uraufgeführt 1836. „Der Troubadour“ ist ein „großes und gewaltiges Sujet“, dessen starke emotionale Motive – Rache, Liebe, Hass, Angst und Eifersucht – ihm die geeignete Inspiration für seine gleichnamige Oper lieferten. Oft taucht in Verdis Schaffen das Motiv der verfeindeten Brüder auf; doch nur einmal gibt es eine so dominante Mutterrolle wie jene der alten Zigeunerin Azucena, welche die Handlung des „Trovatore“ vorantreibt. Seinen Librettisten Cammarano hatte Verdi dazu ermuntert, die Erzählung „je ungewöhnlicher und bizarrer, desto besser“ auszugestalten und besonders den Charakter der alten Zigeunerin in seiner „Neuartigkeit und Fremdheit“ herauszustellen. Der Kritiker und Verdi-Zeitgenosse Eduard Hanslick verachtete die Geschichte „von ausgesuchter Grässlichkeit, in welche eine Zigeunerin samt einigen gestohlenen und verbrannten Kindern bedenklich verwickelt ist“, den nachhaltigen Triumph dieses unwiderstehlich mitreißenden Meisterwerkes konnte er jedoch nicht verhindern. Neben der tragisch endenden Liebesgeschichte ist Verdi mit „Il trovatore“ auch eine ‚Parabel über die Unterdrückung von Minderheiten‘ (Ulrich Schreiber) gelungen.

Das Team der Neuinszenierung
Nach dem „Wildschütz“ im April 2013 inszeniert zum zweiten Male Dietrich W. Hilsdorf in Bühnenbildern von Dieter Richter an der Volksoper. Der 1. Gastdirigent unseres Hauses Enrico Dovico steht am Pult der ersten „Trovatore“-Neuproduktion an der Volksoper seit 52 Jahren. Als Azucena kehrt die international gefeierte Mezzosopranistin Janina Baechle an die Volksoper zurück, wo sie zuletzt 2006 als Magdalena in „Der Evangelimann“ zu hören war. Der koreanische Bariton Tito You, zuletzt hier als Vater Germont in Verdis „Traviata“ zu erleben, singt den Graf Luna. Stuart Neill gibt in der Rolle des Manrico, die er schon mit großem Erfolg u. a. an der Deutschen Oper Berlin und in der Arena von Verona gesungen hat, sein Hausdebüt. Die Partien der Leonora und des Ferrando sind mit den Ensemblemitgliedern Melba Ramos und Yasushi Hirano besetzt.

www.volksoper.at

Wien, 12. 11. 2013

„Der Wildschütz“ an der Wiener Volksoper

April 19, 2013 in Klassik

Wenn „die Stimme der Natur“ ruft

Bild: Volksoper Wien

Bild: Volksoper Wien

Am 20. April hat an der Wiener Volksoper Albert Lortzings komische Oper „Der Wildschütz“ Premiere. Verkleidung, Verwechslung, Verstellung. Schon am Ende der Ouvertüre erschallt im Hintergrund ein Schuss, der auf das kommende Geschehen hinweist. Das sind die Zutaten aus denen Lortzing sein Werk geschaffen hat. Der musikalische Allrounder, der nicht nur komponierte und sein eigener Liberettist war, dirigierte, sang und schauspielerte auch. Zu Silvester 1842 stellte er einem begeisterten Publikum seinen „Wildschütz“ in Leipzig vor, 1846 als Lortzing als Kapellmeister am Theater an der Wien wirkte, nahm er seinen Erfolg mit hierher.

Die Freude war nicht einhellig. Felix Mendelssohn etwa nannte das ganze „infam, verwerflich und elend“ – „ein Wollustspiel“ (Ermanno Wolf-Ferrari verteidigte den Ruf des Komponisten später mit den Sätzen: „Die Naiven haben ihn umso mehr geliebt und lieben ihn noch. Und nur Liebe kann der Kunst Lohn sein, nicht kalte intellektuelle Registrierung seitens der ewigen Beckmesser.“ Na also!) Dabei hatte der Lortzing die schlüpfrigsten Passagen der Vorlage extra weggelassen. Diese stammt von Trivialdramatikermeister August von Kotzebue und heißt: „Der Rehbock oder die schuldlosen Schuldbewussten“. Die ziemlich wirre Handlung: Dorfschulmeister Baculus hat im Wortsinn einen Bock geschossen – und zwar im gräflichen Park – und soll deshalb entlassen werden. Daher schickt er einen „Studenten“ (in Wirklichkeit aber Baronin und Schwester des Grafen) aufs Schloss, wo sie als seine „Braut“ für ihn bitten soll. Der Baron wiederum, der unerkannt als Stallbursche des Grafen arbeitet, verliebt sich in die „Braut“ und will sie dem Lehrer für 5000 Taler abkaufen (wem das bekannt vorkommt: Smetanas „Verkaufte Braut“ wird in dieser Saison ebenfalls neu an der Volksoper  produziert).

„Die Stimme der Natur“ (so der Untertitel, den Albert Lortzing seiner Oper gegeben hat) wird bei Regisseur Dietrich W. Hilsdorf zu „Ein unmoralisches Angebot“. Er will den Fokus von den Ausschweifungen der Aristokratie weg-, hin auf den Schulmeister lenken, der sich schon als glücklicher „Kapitalist“ wähnt. Neben diesen sozialkritischen Tönen ist Alfred Eschwe am Pult für die musikalischen zuständig. In der wunderbaren Ensembleoper singen unter anderem Daniel Ochoa den Graf von Eberbach, Alexandra Kloose seine Gräfin, Mirko Roschkowski den Baron Kronthal, Anja-Nina Bahrmann seine Baronin, Gernot Kranner den Haushofmeister auf dem Schloss, und Lars Woldt den Dorfschulmeister Baculus.

www.volksoper.at

Trailer: www.volksoper.at/Content.Node2/home/medien/videobeispiele.at.php

Von Rudolf Mottinger

Wien, 19. 4. 2013