Werk X-Petersplatz: Lies mein Herz

Februar 8, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Von der verzweifelten Liebe zweier Lyriker

Eine Pierrette als Souffleuse: Soffi Schweighofer, Régis Mainka und Claudia Marold. Bild: © Apollonia Theresa Bitzan

Atemloser haben wohl kaum je zwei Lyriker um Worte gerungen, und das nicht etwa, weil’s ihre Dichtkunst betraf, sondern weil sie Liebende waren. Vor ziemlich genau zehn Jahren erschien bei Suhrkamp der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, das Private berührend, das Politische bedeutend, eine hochliterarische Reise durch Gefühle und Gedanken, ein zu Papier gebrachter Kampf um Zuneigung, Zuwendung, auch Zugeständnisse – „Herzzeit“.

Shirina Granmayeh und Matti Melchinger von Junges Theater Wien haben nun im Werk X-Petersplatz ihre Bühnenfassung dieser Texte zur Uraufführung gebracht. „Lies mein Herz“ heißt der Abend, der so entstanden ist, und durch den eine Pierrette, verkörpert von Soffi Schweighofer, zwei Paare führt.

Claudia Marold, Veronika Petrovic, Régis Mainka und Johannes Sautner sind die Ingeborgs und Pauls, eine Ménage à Quatre, die sich in den intellektuellen Infight begibt. Wer mit wem wird im Laufe der Aufführung wechseln, man wird sich begegnen und sich spiegeln und im Zitate-Reigen zum Zerrbild des anderen werden. Man wird einander mit Kreide Grenzen ziehen.

Und apropos, Kreide: An die Wände ist damit Davidstern und Herz gezeichnet, und ist ein Satz der „Todesfuge“ geschrieben. Sie wird Leitmotiv bleiben, ihr „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Und so treffen einander die 21-jährige Studentin und der um sechs Jahre ältere Poet an einem Maitag 1948 in Wien, ein schicksalhaftes Zusammenkommen, lang anhaltendes Drama einer Amour Fou, die beider Existenz empfindlich mitentscheiden wird. Wie schnell einer des anderen Prüfstein wird, wie eine unbedachte oder aber sehr durchdachte Bemerkung des einen dem anderen das Sprechen vereist, führen Marold, Petrovic, Mainka und Sautner auf bemerkenswerte Weise vor – das Kärntner Nazi-Kind und der durch den Krieg staatenlos gewordene Jude, dessen Eltern im KZ ermordet wurden und der selber ein Zwangsarbeiterlager nur mit knapper Not überlebte.

„One Of Us Is Crying“: Johannes Sautner als Gitarrero und Soffi Schweighofer. Bild: © Apollonia Theresa Bitzan

Eine Opernparodie entgleist mit Hitlergruß: Johannes Sautner und Régis Mainka. Bild: © Apollonia Theresa Bitzan

Bald wird er, dieser lebenslang Überlebensschuldige, ihr, der hier noch Lebenshungrigen, mit dem Satz seines „älteren Dunkels“ den ersten Pfeil in die Seele schießen. Wird einen nach-Auschwitz’schen Abgrund aufreißen, den Schweighofers Pierrette als Erzählerin und Souffleuse zwar zu überbrücken sucht, aber ach … Régis Mainka und Johannes Sautner, einander äußerlich ähnlich gemacht, gestalten Paul als einen, der mit Vehemenz, auch Wut, auftritt. Geraten ihre Celans aneinander, kann auch schon einmal gerauft und einander geohrfeigt werden.

Oder man liegt sich sozusagen selbst im Arm, im Versuch, die Depression hinwegzutrösten. Vor allem Mainka macht aus der Figur einen selbstgefällig Verzweifelten, ganz Dichter und Denker und Nägelbeißer, und wie Mainka ihn eines seiner Werke mit ausladender Geste vortragen lässt, da muss der Schauspieler mit dem lachenden Publikum schmunzeln. Überhaupt gelingt es Shirina Granmayeh und Matti Melchinger ihre Inszenierung, den Briefe-Pathos, der naturgemäß mehr vom Ausdruck als von der Aktion bestimmt ist, durch einige so skurrile wie surreale Einschübe zu konterkarieren.

Es erklingt Jerry Lewis‘ „The Typewriter“, wenn die genialischen Autoren auf imaginäre Tasten hämmern, oder Abbas „One Of Us Is Crying“ wird zum Musikcontest, die Herren an Schlagzeug und Gitarre, die Damen bemüht, in der ersten Reihe zu tanzen. Johannes Sautner mutiert zur Operndiva, der mitten in der Arie ein Hitlerbärtchen wächst, derweil ihr der rechte Arm zum entsprechenden Gruß auskommt. Soffi Schweighofer singt sehr ergreifend „Send In The Clowns“ und Sautner am Schluss „Heite Drah I Mi Ham“ von Wolfgang Ambros. Da ist Celan 1970 schon in die Seine gegangen.

In vielerlei Variationen spielen Granmayeh und Melchinger mit dem Motiv Opfersohn und Tätertochter. Das Fiasko mit der Gruppe 47 kommt vor, die von Celan als antisemitisch empfundene Rezension des Gedichtbandes „Sprachgitter“ durch Günter Blöcker, die alte Ängste aufreißt. Celans Ehefrau Gisèle und Bachmanns neuer Partner Max Frisch kommen zu Wort. Und mitten in der Wüste ihrer tief verstörten, tief verstörenden Worte, deren immer wiederkehrende „Schwere“ und „Schweigen“ und „Schuld“ sind, mitten im Stammeln und Selbstzerfleischen der beiden sonst so Sprachgewaltigen, ist es schön, dass auch Themen wie ein brennen gelassenes Bügeleisen oder der Kauf einer Stehlampe eine Rolle spielen.

Johannes Sautner, Claudia Marold, Veronika Petrovic und Régis Mainka. Bild: © Apollonia Theresa Bitzan

Auf neuerlichen Liebessturm folgen neuerlich Kränkungen, folgt Celans „Notschrei“, folgt eine Bachmann am Ende ihrer Kräfte. Es ist erstaunlich oder auch eine Angelegenheit der persönlichen Interpretation, aus dieser Korrespondenz herauszulesen, dass Ingeborg Bachmann, diese Ikone feministischen Schreibens, Celan gegenüber stets die Gebende, die Beschwichtigende, die Psychotherapeutin gewesen zu sein scheint. Claudia Marold und Veronika Petrovic spielen das jedenfalls so, und das mit großer und sehenswerter Überzeugungskraft.

 

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  1. 2. 2019

Herz & Hirn II: Gunkl & Walter im Gespräch

November 11, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Mit dem Publikum wie im Wohnzimmer sitzen

Gunkl & Walter. Bild: Robert Peres

Gunkl & Walter sind mit ihrem neuen Programm unterwegs. Das heißt „Herz & Hirn II“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=30094) und handelt von Ziegengöttern, dem Langzeitgedächtnis von Fliegen – und ist ein einziges Verplaudern. Ein Gespräch über eigentlich eh alles:

MM: Mit Ihrem Programm „Herz & Hirn II“ wollen Sie vom Publikum neben aktivem Zuhören auch aktives Mitreden. Ist das schon einmal passiert?

Gunkl: Jaja. Immer wieder stellen Leute Fragen, die wir versuchen im Rahmen unserer Möglichkeiten zu beantworten. Das ist ja Teil zwei unseres Programms, und schon bei Teil eins war es so, Mitreden ist also sozusagen Programm. Ich habe den Eindruck, die Menschen sind froh, mitreden zu können, und das tun sie in einem sehr angenehmen Rahmen. Wir bemühen uns, bei aller Klarheit, die wir zu gewissen Dingen haben, nett zu sein, den Abend nett zu gestalten, und die Menschen genießen das auch, dass wir ein Gärtchen bereitstellen, an dem es möglich ist, sich zu beteiligen. Das ist ein Unterschied zum Rausblöken all dessen, was einem am Oarsch geht, Hass und Galle unters Volk zu bringen, dieses sich Einbringen.

Gerhard Walter: Was ich immer wieder höre, ist, dass die Leute das Gefühl haben, sie würden mit uns im Wohnzimmer sitzen. Das ist schön, wenn wir das vermitteln. Es ist ja für uns auch interessant, dass durch die Beteiligung des Publikums der Abend auch für uns immer wieder neu ist. Wir wissen nie, in welche Richtung sich das Ganze entwickelt. Natürlich gibt es im Hintergrund ein Ding, das man in der geistigen Lade hat, aber das ist nicht zwingend. Einmal ist vom vorbereiteten ersten Teil vor der Pause nichts übriggeblieben …

Gunkl: Da war der Abend freie Gestaltung.

MM: Sie geben auch gleich zu Beginn das Verplaudern als wesentlichen Bestandteil Ihrer Doppelconférence vor. Wie kommen Sie auf Themen, wo schränken Sie ein, und wie rot ist der Faden tatsächlich?

Gunkl: Wir treffen uns im Kaffeehaus und plaudern, und dann sind wir, was die Gespräche so angenehm macht, sehr schnell auf einer Ebene, von der aus wir die Grundlagen betrachten, nicht die Ereignisse selbst. So kann man weiter ausholen und tiefer gehen.

Walter: Obwohl uns einiges trennt, nämlich die Art der Wahrnehmung von Dingen in der Wirklichkeit, sind wir einander in dem, was wir wahrnehmen, ähnlich. Die Tankstellen-Plüschkängurus, über die wir scherzen, die fallen uns beiden auf. Oder das unfreiwillige Mitnehmen einer Fliege im Auto.

MM: Das habe ich mich – mit schlechtem Gewissen – auch schon gefragt: Was denkt sich eine Fliege, wenn sie unfreiwillig mitgenommen wird, und plötzlich in Melk landet? Wartet dann die Fliegenmama daheim umsonst mit den Knödeln?

Gunkl: Diese Anteilnahme des Publikums ist wirklich erfreulich. Uns sind aber auch schon einige Dinge, die wir im Programm hatten, abmontiert worden. Zum Beispiel der altsumerische Ziegengott, auf den man trifft, wenn er die Himmelstür öffnet. Sagt einer aus dem Publikum in Tulln: „Die Sumerer hatten keine Jenseitsvorstellung.“ Das ist gut! Jetzt ist er halt ein altphrygischer Ziegengott. Und mit der Fliege: Unlängst in der Kulisse kam eine junge Dame auf uns zu und meinte, es sei so, dass Fliegen ein Gedächtnis von einer Sekunde haben. Somit kann ich auch Ihr schlechtes Gewissen beruhigen, die Fliege denkt sich genau nichts. Erstaunlich finde ich, dass bei so vielen unserer Themen, die völlig daneben sind, die Leute sich trotzdem geistig einfädeln.

Walter: Das schafft ein Miteinander, „Herz & Hirn“ ist ein gemeinsames Ding, und wenn wir uns manchmal irren, na, dann lassen wir uns gern verbessern.

MM: Im Gegensatz dazu, dass Kabarett mitunter mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen kann, indem der Künstler „von oben herab den Deppen unten“ erklärt, was Sache ist. Dieser Falle entgehen Sie.

Gunkl: Natürlich muss man etwas zu sagen haben, wenn man auf eine Bühne geht, ohne dem geht’s nicht. Aber grundsätzlich ist die Idee des Austausches etwas sehr Schönes. Ich mag Kabarett nicht sehen, in dem eine ideendichte Wagenburg aufgebaut wird, ein Sitzkreis mit Schulterklopfen, in den von außen nichts eindringen kann, mit der Aussicht, dass der Abend völlig ergebnisfrei ist, außer, dass man sich noch mehr der Gruppe zuwendet, der man ohnedies schon angehört. Dies in der Annahme, außen ist es ungut, aber innen ist die Welt in Ordnung. Wenn man sich dazu aufschwingt, dass einem Leute zuhören sollen, muss man ihnen sagen, schaut’s euch das an, und nicht a priori vermitteln, es ist eh alles schlecht. Der andere ist eben anders, und er hat auch das Recht, anders zu sein.

Walter: Was genau das ist, was uns verbindet.

MM: Wo sind Sie anders? Beim Sport ist mir aufgefallen.

Walter: Wenn man’s auseinanderteilen möchte, ja, in der Betrachtung. Zum aktiven Sport haben wir beide keine Empirie. Ich bin jemand, der gern zwischen Situationen hin- und herwechselt.

Gunkl: Wo ich mir schon denke: Oida …

MM: Sie der Springer, Sie der Turm?

Walter: Das ist vielleicht ein bisschen zu kantig gedacht, es ist ja kein Kampf von Wattebausch gegen Rechenschieber. Aber prinzipiell stimmt’s.

Gunkl: Gerhard hat diese grundsätzliche Bereitschaft, in Situationen hineinzugehen. Für mich ist das möglich, aber nicht das Ziel. Das ist das Andere. Für mich ist die Situation manchmal halt auch, aber ich suche sie nicht, ich schaue eher, dass ich außen entlangkomme.

Walter: Wir beide ärgern uns wenig über Dinge in unserem persönlichen Umfeld; bei Politik und Gesellschaftlichem ist das im Gegenteil nicht so. Wir sind beide Menschen, die mit anderen ganz gut auskommen, und wenn ich aber den Fernseher aufdrehe und sehe, wie da der eine gegen den anderen ausgespielt wird, denke ich mir, wovon reden die und was genau ist das Problem?

Gunkl & Walter. Bild: Robert Peres

MM: Sie waren zuerst Freunde, bevor Sie gemeinsam auf die Bühne gegangen sind. Wie sind Sie aneinander geraten?

Walter: Ich habe damals begonnen, Kabarett zu spielen, und war Zivildiener bei der Caritas. Dort war auch Toni Matosic von Monti Beton, und den habe ich gefragt, ob er jemanden kennt, mit dem ich reden kann – und er hat mir die Nummer vom Gunkl gegeben.

 

Gunkl: Wir haben uns dann zu dritt getroffen, und seither sind wir befreundet. Ich kannte Toni noch, aus der Zeit, als ich Kellner im „Roten Engel“ war …

MM: Und wie ist es für Sie, mit einem zweiten auf der Bühne zu agieren?

Gunkl: Das kommt sehr auf den zweiten an. Mit Gerhard Walter ist es wunderbar, weil keiner von uns gegen den anderen gewinnen will. Wir wollen einen guten Abend gewinnen, das ist das Spielziel, und wer mehr Wuchtln bringt oder sie dem anderen wegschnappt, das gibt es nicht.

MM: Ihre 13 Prozent Asperger halten die Nähe aus.

Gunkl: Wenn es in einer Struktur ist, kann ich mit anderen durchaus. Ich muss nicht Leuchtturmwärter sein, ich bin ja beruflich immer mit Menschen zugange, nämlich mit denen, die jenseits der Bühnenkante sitzen, und da gibt es eine Struktur, und da kenne ich die Abläufe und die Zielsetzungen und die Methoden. Und wenn ich mit jemandem auf der Bühne sitze, der das auch so kennt und versteht und in der Lage ist zu praktizieren, dann ist es wunderbar. Wenn ich mit jemandem auf der Bühne wäre, von dem ich von einem Tag auf den anderen nicht weiß, wie er drauf ist, der plötzlich eine Devotierungsnummer oder eine Flagellantenpartie abhält, das wäre für mich sehr unangenehm. Da würde ich mir denken, ich mach’s lieber allein.

Walter: Gunkl ist sogar ein sehr umgänglicher Mensch innerhalb der Struktur, die er sich geschaffen hat. In 18 Jahren Freundschaft kann ich mich da nicht beklagen. Bei ihm hat das Menschliche eine Ordnung, es hat einen Rahmen innerhalb dessen man mit ihm umgehen kann. Bei ihm erkennt man sofort, woran man ist, das ist mir lieber als die Raunzer …

Gunkl: … die darauf hoffen, dass sie sich irgendwann einmal selber glauben.

Walter: Ich denke, man lebt besser miteinander, wenn man nicht so viel raunzt. Es ist aber auch schwieriger, weil „fäuln“ ist leicht.

Gunkl: Man darf sich nie auf den selbstbehaupteten Anspruch moralischer Überlegenheit begeben, quasi sagen, man ist besser als die Welt. Das bringt genau überhaupt nichts, außer einem Gefühl der Rechtschaffenheit, das nirgendswo validiert wird, außer in meinem Gefühl. Also renne ich ständig irgendwo an, wodurch ich mich nur bestärkt fühle in meinem Gefühl, und das führt zu Solipsismus, das granuliert zu kleinen Grüppchen, die alles andere, das nicht sie sind, schlecht finden, und sich dadurch gut behaupten.

MM: Von Ihnen stammt der Satz „Wer ohne Aber denkt, ist gefährlich“. Wo setzen Sie bei sich ein Aber an?

Gunkl: Permanent. Man muss wissen, dass das Aber immer wieder akut werden kann. Man muss nur wissen, was man vor und hinter das Aber stellt. Die Situationen, wo man ohne Aber auskommt, sind ganz selten, da muss man wissen, dass das ein Sonderfall von Erlebnis ist.

Walter: Genau. Das betrifft auch die Geschichte von den Toronto Maple Leafs, die ich erzähle, in der die Fans vor einem Spiel die US-Hymne fertiggesungen haben. Da denke ich mir, so wäre es schön, Beistrich: aber, so ist es nicht. Das ist die Peilung, wo wir hin sollten. Natürlich, wenn dir einer den letzten Parkplatz wegschnappt, ist die Peilung wieder weg.

Gunkl: Dazu ist mir als Tip des Tages eingefallen: Der Klügere muss nicht nachgeben, um sich als der Klügere zu erweisen, aber er darf in der Auseinandersetzung dem Dümmeren nicht die Wahl der Waffen überlassen.

MM: Apropos: Wahl der Waffen, warum gibt es in Österreich kein tagespolitisches Kabarett mehr? In Deutschland gibt es „Die Anstalt“, Urban Priol, Bruno Jonas … Warum interessiert das hierzulande niemanden?

Gunkl: Die Tragweite dessen, was österreichische Staatssekretäre gestern gesagt haben und morgen schon wieder wurscht ist, interessiert mich nicht. Ich finde, wie gesagt, Grundlagen viel interessanter als die Ereignisse.

Walter: Das geht mir auch so. Der Inhalt ist bei politischen Geschichten immer wieder auch austauschbar. Im Moment, das muss ich schon zugeben, hat man den Eindruck, die Weltpolitik rutscht wohin, wo mir meine Verständnisinseln abhandenkommen. Man kann unterschiedlicher Meinung sein, nur die Art und Weise, wie respektlos das mittlerweile einander mitgeteilt wird, ist mir unverständlich. Aber ich kann mich nicht eine Woche zurückziehen, darüber nachdenken, und dann auf der Bühne etwas erwidern.

MM: Warum?

Walter: Die Zeit gibt es nicht mehr. Es gibt eine Wahnsinnsmeldung nach der anderen, und eine schlechte Meldung wird durch die nächste ersetzt, da kann man nicht in die Tiefe gehen. Ich habe es ab und zu schon probiert, aber es gelingt mir nicht, das in einen feinen, angenehmen, kabarettistischen Kontext zu stellen, ohne, dass mir der Hut durch die Decke schießt. Die Politik ist so neben die Bock, dass es schwer fällt, das zu toppen. Was soll man da noch drüberlegen?

Gunkl: Die Ereignisse sind so wuchtig, dass die Grundlagen überlagert werden. Wenn man erklärt, wie Trump funktioniert, interessiert das keine Sau, weil das, was er gerade gesagt hat, weil er eben so funktioniert, eine Konfettikanone an Komplettscheißdreck ist. Und als solches viel spannender.

Walter: Und Dinge, die so klar auf dem Tisch liegen, die muss man als Künstler nicht kommentieren. Die weiß ohnedies jeder.

MM: Wenn ich Ihnen so zuhöre, habe ich dennoch den Eindruck, Sie sind immer am Materialsammeln.

Gunkl: Sammeln nicht, es hüpft uns an.

Walter: Genau. Was wir in „Herz & Hirn II“ erzählen, ist nur ein Bruchstück dessen, was wir über Monate erarbeitet haben. Eigentlich ist „Herz & Hirn III“ auch schon fertig. Die Schwierigkeit bei Teil zwei war nur zu entscheiden …

Gunkl: … was spielen wir leider nicht.

MM: Gunkl, Sie bekommen am 26. November den Österreichischen Kabarettpreis überreicht. Ist das was?

Gunkl: Ja, Preise sind nichts, was man anstrebt, wenn man auf eine Bühne geht, aber man freut sich, wenn man sie bekommt. Ich habe also keinen „Na endlich!“-Gedanken. Meine liebste Preis-Entgegennahme wäre ja – was aber natürlich nicht passiert ist – der Oscar für Dustin Hoffman als „Rain Man“, wie er die Statue nimmt und sagt: „I would like to thank – nobody“.

MM: Wenn also nicht Preise, was streben Sie an?

Gunkl: Jeden Abend eine gute Vorstellung. Wenn man wirklich das große Glück hat, dass man diesen Beruf hat, dass man das, was man denkt und empfindet, vor Menschen, die einem zwei Stunden lang zuhören und dafür auch noch bezahlen, erzählen kann, wenn man das nicht, mit allem, was man ist und hat, macht, dann hat man den Beruf nicht verdient.

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11. 11. 2018

Stadtsaal – Gunkl & Walter: Herz & Hirn II

Oktober 23, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Nahtoderfahrung beim Trivial Pursuit

Gunkl & Walter. Bild: Robert Peres

Verplaudern ist Programm, das sagen die beiden auch gleich zu Beginn, wenn sie wie schon bei Teil eins das Publikum einladen, durch Einwürfe, Einwände, Fragestellungen auffällig zu werden. Das tut dies am Premierenabend im Wiener Stadtsaal natürlich nicht, weil, uff, man ist ohnedies überfahren von all den Bedeutungen, Begrifflichkeiten und Zueinander-Beziehungen, die Gunkl und Gerhard Walter inside out wenden.

Und dabei, wenn’s geht, noch um die eigene Achse drehen. „Herz & Hirn II – Fortsetzung der fortlaufenden Neuauflage“ heißen die neuen Über-Gott-und-die-Welt-Kommentare des Kabarett-Yin-Yangs, so genannt, weil Gunkl wiederum seine rationale Sicht auf die Dinge pflegt, während Walter ein Auge aufs Emotionale wirft.

Philosophiert wird über eigentlich eh alles, vornehmlich über Vergangenheit und Vergänglichkeit, sind die beiden Künstler mit Rund-um-die- doch in einem Alter, in dem sich die Zeit bereits davonverjüngt hat. Wobei die gute, alte das nicht unbedingt immer war, wie Gunkl sagt, je früher desto nicht besser. Und so geht‘s punkto Angegraut-Werden um Relationen und Größenverhältnisse, Logik und Wahrnehmung. Warum einem die alte Volksschule plötzlich kleiner, der Tennisplatz aber größer vorkommt? Weil man nicht nur in die Höhe, sondern auch in die …. jahaha … gewachsen ist. Mitunter wird an diesem Abend die gar nicht so feine Klinge geführt, vor allem sich gegenseitig schonen die Freunde nicht. Allein die Vorstellung, im Kopf des anderen herumwirtschaften zu müssen, das würde hie aus wohlsortiertem Chaos Ordnung schaffen, dort hingegen – nicht auszudenken!

Gunkl, bekennender Aspergerianer, fühlt sich sichtlich wohl als Teil des Duos. Immer wieder huscht ihm ein Lächeln über die Lippen, wenn Walter seinem Temperament freien Lauf lässt. Dagegen setzt er die gelüpfte Augenbraue, für Gunkl-Kenner Symbol für seine sich gerade auf ihrem Höhepunkt befindliche schelmische Süffisanz. Und apropos, Orgasmus: Ums Thema Sex mäandert der Abend auch, etwa beim neuesten Trend Selbstheirat. Oder beim Du-Ned statt #MeToo. Um Sportarten wie Extrembügeln, den Ärger mit einer Fliege im Auto – und die Frage, was denkt sich die, wenn man sie in Melk endlich beim Fenster rauswachelt? Jö, heut‘ bin ich aber weit gekommen? Um künstliche Intelligenz und fokussierte Unintelligenz. Um den Tod und ein Leben nach diesem. Das ist der Moment, an dem Satire in Sarkasmus kippt, wenn sich Gunkl & Walter ausdenken, ein sumerischer Ziegengott könne die gründonnerstäglichen Spinatesser empfangen.

Und um eine Nahtod-Erfahrung beim Trivial Pursuit. Irgendeine erweiterte 2.0-Edition mit Gunkl-Schwester und -Nichte, die Gerhard Walter als ganz schön dazumal dastehen lässt. Von wegen Digital Primitive oder so. Man merkt, hier wird ohne Rücksicht auf Verluste bis ins Privateste vorgedrungen. Werden Gedanken- und Geistesblitze vom Hundertsten ins Tausendste jongliert. Während Walter bei Halt-nur-so-Sätzen explodiert, beschreibt Gunkl seinen „logischen Ekel“, heißt: das Grausen, vor offen zur Schau getragener Blödheit. Der eine hat die Welt gern schön, der andere lieber richtig, aber zusammen haben sie’s richtig schön. „Man kann das Leben von außen betrachten, aber man muss es von innen leben“, sinniert Walter. In „Herz & Hirn II“ können Gunkl & Walter beides, Außenbetrachtung und Innenschau, beide humorvoll, hinterlistig und hochgescheit.

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Gunkl & Walter im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=30430

23. 10. 2018

Kasino des Burgtheaters: Lass dich heimgeigen, Vater oder Den Tod ins Herz mir schreibe

November 11, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Heimathassliebe im Tanzgleichschritt

Tino Hillebrand, Tobias Wolfsegger und Marcus Kiepe. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Es ist ein kühner Text, der Josef Winkler da gelungen ist. Ein Monolog von betörender Schönheit und grausamster Brutalität. Kraftvoll. Prosa, die wie ein Gedicht klingt. Die theatral gemachte Realität von Paternion. Vater – das Wort schwingt im Namen der Ortsgemeinde schon mit, einer Gemeinschaft deren Bestandteil Winkler kaum je war. Einen Brief, wird es am Ende des Textes heißen, hat er geschrieben:

„Lass dich heimgeigen, Vater oder Den Tod ins Herz mir schreibe“, ersteres ein Dialektausdruck für jemanden schelten, mit Schimpf und Schande nach Haus schicken, zweites eine Zeile aus einem Gebet, uraufgeführt nun im Kasino des Burgtheaters. Winklers Schreiben entzündet sich von jeher an seinen Elternhauserfahrungen, es ist Heimathassliebe und fürbittende Vaterverachtung und die fehlende Mutterumarmung. Winklers Schreiben ist ein Lautgeben gegen das Verstummen, Verdummen und Schweigen, kollektiv wie individuell, und so fährt sein schonungsloser Stift auch diesmal entlang seines Lebensthemas. Versehrtheit durch Vergangenheit. Das betrifft sowohl die Vaterwatschn wie Mutters Nervenkrise, betrifft den Alltagsfaschismus im patriarchalen Kärntner Bauerndorf wie den dort herrschenden scheinheiligen Katholizismus.

Im Zentrum von „Lass dich heimgeigen, Vater …“ steht die Empörung des Ichs ob des Umstands, dass jahrzehntelang totgeschwiegen wurde, dass im Gemeinschaftsacker der sogenannten Sautratten der Massenmörder an den Juden Odilo Globocnik nach seinem Zyankali-Selbstmord von der britischen Besatzungsmacht einfach verscharrt worden war. Der „Globus“, der „Nazibluthund“ – „Zwei Millionen ham’ma erledigt!“, heißt es – als Lebensspender fürs Getreide, aus dem das tägliche Brot gemacht wurde, das verschlägt dem Autor später so das Essen, dass er fast bis zum Ableben abmagert.

Branko Samarovski, Marcus Kiepe und Leon Haller. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

„Liebe Vater! Böser Vater! Warum hast du geschwiegen, warum hast du es wohl verschwiegen, denn du mußt, wie all die anderen Dorfleute, wenn du uns deine Kriegserlebnisse und Kriegsabenteuer erzählt hast, vor allem zu Allerheiligen und Allerseelen, zu Ostern … auch auf der Feuchtwiese der Sautratten — du mußt es gewußt haben, gib’s zu, mein Vater …“ So beginnt die Anklageschrift.

In der sich Josef Winklers Kindheitserinnerungen und eben seines Vaters Kriegserfahrungen als Soldat und beider Entbehrungen mischen. Mit dem Onkel Franz, der bei der SS in Nürnberg „nur“ Schreibtischtäter war, und dem Onkel Hermann mit dem Hitlerbärtchen wird sich an diversen Feiertagstafeln ausgetauscht. Über gesunde Diktaturen und die Schweine-Russen und die noch viel schlimmeren Juden, ohne deren Selbstvernichtungstrieb man Stalingrad genommen hätte. Dazu die im Szegediner Gulasch rührende Mutter, in der guten Stube immer wieder verstorbene und aufgebahrte Großelternteile. Winklers Erinnerungsarbeit ist ein Schlachtengemälde, nie moralisierend, sondern maximal ausstellend, dabei privat mit politisch untrennbar verbunden. Strophen der Ungehorsamkeitsballade „Der Bauer schickt den Jockel aus“, die die einzelnen Textstellen einleiten, steigern die Non-Handlung ins Groteske.

Als wolle sie Winklers starke Sprachbilder nicht beschädigen, hält sich Regisseurin Alia Luque mit ihrer Inszenierung extrem zurück. Sie lässt im kahlen Saal spielen, erschafft ihn gleichsam neu als artifiziellen Raum, indem sie sich jeder realistischen Abbildung des Textes verweigert. Für fünf Schauspieler, Branko Samarovski, Marcus Kiepe, Leon Haller, Tino Hillebrand und Tobias Wolfsegger hat sie Bewegungsmuster erstellt. Eine Choreografie an Gängen und Gesten, einen Tanzgleichschritt als Winkler’sche Erinnerungsschleifen, kaum mehr ist ihr dazu aber eingefallen als Rennen durch den Regen und eine Anlehnung ans Ministry of Silly Walks. Währenddessen wird immerhin auf höchstem Niveau vorgetragen.

Branko Samarovski, Tino Hillebrand und Tobias Wolfsegger. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Die Darsteller sind zu interpretieren als hypothetische Winkler-Alter-Egos, seine Sprach-Figuren, Wolfsegger der Knabe, Hillebrand der Handelsschüler, Haller der Jungautor, Samarovski der Schriftsteller im Jetzt, changierend zwischen einem Versuch von Altersweisheit und dem immer noch Aufbegehren. Marcus Kiepe nimmt die Sonderposition ein, als eine Skizze der in Winklers Text abwesenden, sich abwesend machenden Frauen.

Aus Kiepes (Ver-)Kleidung ergeben sich auch mögliche Vater-Mutter-Kind-Konstellationen. Tatsächlich ist er optisch wie schauspielerisch die Erscheinung des Abends, sein Agieren von großer Wahrhaftigkeit. Wie er mal wie somnambul, mal mit humoriger Süffisanz, mal mit plötzlicher Aggressivität durch die Sätze turnt, sie mal zerkaut wie zähes Fleisch, das will gehört werden. Seine Geste: eine einladende, ausladende, eine Umarmung andeutende.

Ganz wie die piksüßen, schwarzweißen Schlagersängerinnen, die über das einzige Requisit, einen alten Fernsehapparat, laufen. Dalida, France Gall, Milva, Melina Mercouri, Juliette Greco, Mireille Mathieu … Inwieweit diese Idee Luques sinnhaft gebraucht wird, wo der Konnex italienischer, französischer Musikshows zum „Vergib uns unsere Schuld“ eines Nachkriegsösterreichs sein soll, sei dahingestellt. Mitunter stören die geträllerten Chansons das konzentrierte Bühnengeschehen. Immer ekstatischer wird das Spiel, nicht nur Kiepe beherrscht das frontale mit dem Publikum, auch Hillebrand und Haller kokettieren giftig damit, wenn sie von zerstückelten Plastiksexpuppen und grün phosphorisierenden Kruzifixen erzählen, Samarovski sowieso gespenstisch gut, allerdings wenig gefordert, Tobias Wolfsegger eine Entdeckung, die auch mit zwei Tanzeinlagen parallel zum beschwingten Beschwichtigungs-TV glänzen darf.

Bei einem späteren Besuch im Elternhaus „kam der Onkel Peter mit meinem ersten Buch, auf dem ein Selbstmörder aus dem Dorf abgebildet war, aus dem Zimmer …, schlug der Onkel Peter neben meiner Mutter mein Buch mehrmals an seine Oberschenkel und rief: ,Sex und Kruzifix und Kruzifix und Sex! Abstellen! Abstellen! Er soll zu schreiben aufhören!‘“, berichtet Winkler schließlich zum Schluss. Das Kind, das einmal war, wird er in sich umbringen, dazu weiterschreiben müssen. Mit diesem grausigen Hoffnungsschimmer endet eine interessante, auch anstrengende Aufführung.

www.burgtheater.at

  1. 11. 2017

Michail Bulgakow: Das hündische Herz

Juni 17, 2016 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Aus dem tierischen Lumpi wird ein menschlicher Lump

buchMoskau nach Lenins Tod 1924 unter den Bolschewiki. Stalin beginnt seine Herrschaft zu festigen. Die Schauprozesse und Ausschaltung aller ihm kritisch gesinnter Menschen inklusive alter Kampfgefährten, steht erst bevor. Der geniale Chirurg Filipp Filippowitsch Preobraschenski lockt den Straßenköter Lumpi mit einer „Krakauer spezial“ zu sich nach Hause. Er pflanzt ihm die Hirnanhangdrüse und die Hoden eines verstorbenen Kleinkriminellen ein. Doch das Experiment des Verjüngungsexperten geht schief.

Der Hund überlebt zwar den Eingriff, wird jedoch nicht verjüngt, sondern vermenschlicht – zum „neuen Menschen“. Ganz im Sinne der Bolschewiki. Der so zum kommunistischen Genossen mutierte Tiermensch, zeigt bald sein wahres Gesicht und erweist sich als echter Halunke. Er bleibt Tier, in Menschengestalt, jagt Katzen und auch dem weiblichen Geschlecht nach. „Lumpi Lumpikow“ alias „Polygraph Poligraphowitsch“, so steht sein Name im liebevoll beigelegten Passport, erkennt rasch, wie man vom System profitiert und andere zum eigenen Vorteil in Misskredit bringt.

Noch dazu erhält er ein Amt in der Moskauer Stadtverwaltung. Der Chirurg erkennt mit Schrecken, dass er „die Geister, die er rief“ nicht mehr los wird. Nur die gewaltsame Umkehrung der Operation kann die Gesellschaft noch retten. Am Schluss liegt der Köter Lumpi wieder zu Füßen seines Herrn ans Ledersofa gelehnt. „,Schwein gehabt, richtig Schwein gehabt’ dachte er vor dem Einschlummern … Bin längst Teil dieser Wohngemeinschaft.“

Michail Bulgakow schrieb die Erzählung bereits 1925, seine Veröffentlichung erlebte er nicht mehr. Zu brisant und zu viel politische Sprengkraft auf knapp 200 Seiten, wie auch KPdSU-Parteimitglied Lew Kamenew feststellte, der seinerseits Jahre später dem stalinistischen Terror zum Opfer fiel: „(Das hündische Herz) ist eine ätzende Attacke auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse und kommt auf keinen Fall für eine Veröffentlichung in Betracht.“ Den Vorwurf der Konterrevolution versuchte Bulgakow mit den Worten von Filippowitsch zu entkräften: „Meine Reden enthalten nicht die leiseste Spur dieser elenden Konterrevolution. Nur gesunden Menschenverstand und eine Menge Lebenserfahrung …“ Der Autor bekam die Macht des Staatsapparats bald zu spüren. 1926 wurden bei einer Wohnungsdurchsuchung die beiden existierenden Kopien des Romans beschlagnahmt, erst drei Jahre später, auf Maxim Gorkis Fürbitte, wurden sie Bulgakow zurückgegeben. Es folgte ein Publikationsverbot, von einer Veröffentlichung nahm der Autor Abstand. Es kursierten in der Folge mehrere Fassungen, immer mit Eingriffen und Streichungen im Text. Die erste textologisch fundierte Ausgabe ist die 1989 in Moskau erschienene fünfbändige Edition der Werke Bulgakows, auf der auch Alexander Nietzbergs Neuübersetzung basiert.

Bulgakow, sein berühmtester Roman ist wohl „ Meister und Margarita“, vereint in „Das hündische Herz“ faustische Motive mit Mary Shelleys „Frankenstein“ und Gustav Meyrinks „Der Golem“, parodiert gleichzeitig die Neumenschen-Idee und persifliert den Fortschrittsglauben. Er teilt die Menschen jedoch nicht in „die Guten“ und „die Bösen“ ein, alle wirken bizarr und sonderbar, das gilt für Lumpi ebenso wie für Filipp Filippowitsch Preobraschenski, seinen Assistenten Dr. Bormenthal und deren schräge Moskauer Kundschaft, bessere, zahlungskräftige Leute, die alles geben würden, um wieder jung zu sein. Dafür hat sich der Chirurg auch einige Privilegien herausgeschlagen. Eine große Wohnung, gutes Essen und Trinken, Personal sind für Preobraschenski Selbstverständlichkeit, während andere Sowjetbürger in Not und Armut ihr Leben fristen. Und so zeigt er auch keinerlei Verständnis dafür, diese Privilegien aufzugeben. Privilegien, die sich auch die sowjetische Nomenklatur, einmal an der Macht, rasch genommen hat.

Neben den skurrilen Szenen, die an Nikolai Gogol erinnern (beispielsweise „Die Nase“), und der Erzählung aus Sicht des Hundes im ersten Kapitel – „Da schaut, wie ich vor die Hunde gehe“ –, ist auch Bulgakows Sprache bemerkenswert. Als moderner Erzähler setzt er auf das Prinzip der Überraschung. Er lässt den Leser eine Zeit lang im Dunkeln und steigt oft unvermittelt in den Text ein, wie etwa bei der Frage, ob sich Lumpi bei Tisch endlich eine Serviette umbinden soll. Die vorliegende Ausgabe von „Das hündische Herz“ in der hervorragenden Übersetzung von Alexander Nitzberg, ist aber auch noch in einer anderen Hinsicht etwas Besonderes. Die detaillierten und durch starke Ornamentik geprägten Collagen von Christian Gralingen machen das Buch zu einem eindrucksvollen Sprach- und Bildkunstwerk. Die Illustrationen tragen starke Züge technischer Konstruktionszeichnungen und erinnern an die russische Avantgarde der frühen 1920er-Jahre.

Über den Autor:
Michail Bulgakow (1891–1940), russischer Romancier, sehnte sich nach Ruhe und führte ein atemloses Leben: Er studierte Medizin, schlug sich als Übersetzer und Theaterregisseur durch, war dreimal verheiratet und morphiumsüchtig. Seine Werke wurden zensiert und er widersetzte sich Stalin, der ihm die Ausreise verwehrte. Als er mit 49 Jahren starb, hatte er die letzten zwölf Jahre an seinem Lebenswerk „Meister und Margarita“ geschrieben. Die Veröffentlichung dieses Werkes und von „Das hündische Herz“ sollte er nicht mehr erleben.

Edition Büchergilde, Michail Bulgakow: „Das hündische Herz“, Roman, 200 Seiten mit 36 Illustrationen von Christian Gralingen. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg und mit einem Nachwort versehen.

www.edition-buechergilde.de

Wien, 17. 6. 2016