Akademietheater: Adern
März 15, 2022 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Der Berg ruft nicht länger, „die Berg“ klagt und klagt an

Theres‘ Schwangerschaft wird gefeiert: Elisa Plüss als beider Tochter, Sarah Victoria Frick als Aloisia und Markus Hering als Rudolf. Bild: © Matthias Horn
Ein Verhältnis zum verhängnisvollen Schicksalsberg haben die Österreicherinnen und Österreicher bekanntlich schon seit Wolfgang Ambros. Am Akademietheater heißt’s in der Uraufführung von Lisa Wentz‘ „Adern“ allerdings nicht „Aufi muas i!“ sondern „obi“. Weshalb der Berg nicht mehr ruft, sondern „die Berg“ klagt und anklagt … Inszeniert hat den Text der jungen Tiroler Dramatikerin, die damit den Retzerhofer Dramapreis 2021 gewann, Daniel Bösch.
Und es mag vielleicht an seiner Regiearbeit „Stallerhof“ 2010 im Kasino wie an seiner wieder Hauptdarstellerin Sarah Viktoria Frick liegen, dass man Wentz‘ Volksstück in die Nähe von Franz Xaver Kroetz oder den frühen Felix Mitterer und vor allem den Horváth’schen „Stille!“-Anmerkungen rückt. Bösch jedenfalls findet die perfekten Kunstgriffe zu Wentz‘ Kunstdialekt und an passenden Stellen die szenischen Auslassungen zu ihrer à la Horváth „Dramaturgie der Stille“ – so die Retzhofer Jury.
Entstanden ist ein atmosphärisch dichter, trotz der Tragik des Themas – „dort wo das Erz begraben, dort wo der Tag nie scheint, dort wo die Knochen liegen, dort wo kein Himmel weint“, rezitiert die Berg zu Beginn – durchaus nicht witzloser Abend, dessen abgründige Figuren und deren unausgesprochene Seelenqualen beim Ensemble in den besten Händen sind, allem voran die Frick und Markus Hering als Aloisia und Rudolf.
Deren gemeinsame Geschichte beginnt 1953 am Bahnsteig im Tiroler Brixlegg. Er hat eine Annonce aufgegeben, sucht der Witwer doch eine Mutter für seine fünf Kinder, sie kommt aus St. Pölten, um mit Töchterchen Frieda, Kind eines sich absentiert habenden französischen Besatzungssoldaten, einen Neuanfang zu wagen. Erste Dialoge entwickeln sich wie folgt: Aloisia: „Bin ich eigentlich die Erste?“ – Rudolf: „Was?“ – „Wegen der Annonce?“ – „Ach so. Die vierte.“ – „Hast du denn schon eine mögen?“ – „Na. Also …“ – „Versteh.“
Die karge Sprache, gleichsam ein Sinnbild für die Nachkriegszeit, setzt Patrick Bannwart optisch in seinem kargen Bühnenbild um, einem bescheidenen Häuschen, das die Bergleute Rudolf und Daniel Jesch als in doppeltem Wortsinn sein Knappe Danzel mit Muskelkraft drehen – von der spärlich möblierten Stube mit glaubensbefreitem Kruzifix zum „in die Grube fahren“. Denn Wentz‘ gefühlvoller Blick auf eine aus Notwendig- keiten keimende Liebe – eine der bezauberndsten Theater-Love-Storys diese Tage; die nunmehr Eheleute Aloisia und Rudolf werden später auch ein siebentes Kind, Elisa Plüss als Theres, bekommen – ist nicht der einzige Handlungsstrang in diesem kompakten, punktgenauen und doch so verrätselt-verschlungenem Text.

Andrea Wenzl als Hertha mit Markus Hering. Bild: © Matthias Horn

Markus Hering und Daniel Jesch als Danzel. Bild: © Matthias Horn

Die Berg: Elisa Plüss als mystisches Feenwesen. Bild: © Matthias Horn
Da ist außerdem die Berg, Elisa Plüss als mystisches Feenwesen mit engelsweißem Kostüm und lyrischen Gesängen ausgestattet, die vom Raubbau an ihrem Körper und der Gier der Menschen erzählt, die Berg, aus der Silber, Kupfer und zum Schluss noch Schotter geschlagen und gesprengt wurde, „euer leben / drängt sich in mich / und pocht an meine / krater / schneiden / mir die gänge / rund / und brechen / in die becken / mit spitzen / aufhören / bitte / aufhören“, und in der bis 1945 hunderte Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, Kampfflugzeuge zusammenbauten, in den sogenannten Messerschmitt-Hallen hungerten und litten und etliche von ihnen ihr Leben ließen.
Wer erinnert an sie, wenn die bei der Heiligen Barbara um ihre Existenz flehende und zugleich Rache schwörende Berg in sich zusammenfällt? Denn, dies die dritte Story, Rudolf hat ein Drittes-Reich-Geheimnis, von der Dramatikerin nicht bis ins Letzte durchdekliniert, doch deutlich erkennbar als Trauma rund um eine Sprengung/Explosion und wegen der Kopfgespenster, die um ihn spuken. Daniel Jesch als Mann: „Kennst du mich noch? Wie heißt du?“ – Rudolf: „Rudolf. Und du?“ – „Ich hab doch keinen Namen mehr. Der ist doch im Stollen vergraben.“ – „ Hast du ein Licht?“ – „Nein. Wir müssen so. Im Dunklen.“
Mitverschworener dieser Heimlichkeiten ist Kumpel Danzel, dieser sanftmütige Wüterich, den sein Wissen um die Geschehnisse unter Tag, die im Tageslicht absolutes Tabu sind, in die Alkoholsucht getrieben hat. „Du musst besser sein als ich, sonst kenn‘ ich mich nicht mehr aus“, sagt Danzel an einer Stelle zu Rudolf. Doch die offenen Wunden der Berg sind auch die der Menschen, ihre Leben durchs Ungesagte, Unsagbare so ausgehöhlt wie ihr Inneres. Kurze, durch Blackouts getrennte Szenen folgen aufeinander, und neben Aloisia, Rudolf und Danzel sind das Verschwinden, das Verschweigen, das Verdrängen die drei spielbestimmenden Protagonisten.
Frick und Hering haben etwas derart Rührendes, die anfängliche, durch kleine Gesten vermittelte Befangenheit vorm Schlafengehen, später der trockene Humor, mit dem sie sich Sorgen und Nöten stellen, ihr gegenseitiges Ellbogenrempeln als Ausdruck ihrer Emotionen, dass man Aloisia und Rudolf von Herzen ein Happy End wünscht. Sie eine pragmatische, zupackende, burschikose Frau, er ein ewiger, tollpatschig verliebter Bub in den besten Jahren, der so gar nicht ins 1950er-Männerbild passt, schiebt er doch ohne Scheu vor Spott alsbald seinen Enkel Heinzi, Theres‘ Sohn, im Kinderwagen durch Brixlegg.

Ankunft in Brixlegg: Markus Hering, Sarah Victoria Frick und Lieselotte Leineweber als Frieda. Bild: © Matthias Horn

Die Liebe keimt bei einem unbeholfenen Tänzchen: Markus Hering und Sarah Viktoria Frick. Bild: © Matthias Horn

Die Bergleute bewegen das Haus: Markus Hering und sein Kumpel Daniel Jesch. Bild: © Matthias Horn

Der erste Fernsehapparat: Daniel Jesch, Sarah Victoria Frick, Markus Hering und Elisa Plüss. Bild: © Matthias Horn
Und zwischen Rauchschwaden und den raunenden Kompositionen von Karsten Riedel immer wieder Aloisias aus der Stadt anreisende Schwester Hertha, Andrea Wenzl in ihren raschen Auftritten prägnant und ausdrucksstark, die ihre ganz eigene Tristesse in die Einschicht bringt, eine gutbürgerlich-betuliche Kinderlose, die sich der Pflege der Mutter überlassen sieht und neidisch auf Aloisias Familie schielt.
Als Bassline des Privaten lässt Lisa Wentz die Zeitgeschichte bis in die 1970er-Jahre mitschwingen. Die Kleidung von Kostümbildner Falko Herold wird modischer, aber nie zu viel, man hat schließlich kein Geld zu verschwenden, aufs erste Radio und dessen Rauschen folgt der erste Fernsehapparat samt seinem Flimmern, auf die „Anschluss“-Lüge von Österreich als erstem Opfer der Nationalsozialisten der erste Urlaub am Wörthersee. Der Anschluss an Wohlstand und Moderne ward hierzulande solcherart deutlich sichtbar gemacht mit verkniffenem Mundhalten zu allerlei Störgeräuschen erkauft.
In der sensiblen szenischen Umsetzung von David Bösch verwandelt sich Lisa Wentz‘ „Adern“ zur Goldader. Selten sieht man eine Aufführung wie diese, an der so gut wie alles stimmt. Wentz‘ dialogisches Vermögen und die biografischen Sprünge, deren Motive die Autorin ihrer eigenen Familie entnommen hat, sind ebenso stimmig, wie die seltsam grandiose, metaphysische Ebene der Berg, die sich hier in Gestalt von Elisa Plüss als eine gefährlich verführerische Allegorie manifestiert.
Zum Schluss zerbarst das Premierenpublikum geradezu in Bravorufen und Applaus. Der für seine Abwesenheit entschuldigte Regisseur ließ Lisa Wentz, diesem wunderbaren Alternativ-Versprechen zur allseits gehypten Postdramatik, von Burgtheater-Vizedirektorin Alexandra Althoff einen großen Blumenstrauß überreichen. Für die nächste Vorstellung am Samstag ein herzliches Glück auf!
14. 3. 2022