Lydia Mischkulnig: Die Richterin
Dezember 29, 2020 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Der Mensch im Aktenstapel der Asylfälle
„Hast du nie Angst?, fragte Joe. – Wovor? – Dass jemand dich persönlich verantwortlich macht für sein Elend … Verachtest du sie? – Verachten ist nicht das richtige Wort, aber manchmal ist es ein Spiel und ich habe das Gefühl, die Würfel entscheiden lassen zu können, und trotzdem muss jeder Fall erwogen werden, sagte sie. – Und was willst du essen?, fragte Joe.“ Sie, das ist Gabrielle, Richterin am Verwaltungsgerichtshof in Wien und die Protagonistin in Lydia Mischkulnigs aktuellem Roman. Was Gabrielle verhandelt, sind sogenannte Fälle der zweiten Instanz.
Beschwerden gegen Negativbescheide des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl, heißt also: tatsächlich das Leben von Menschen, die akut von der Abschiebung bedroht sind. Bei Gabrielle teilen sie sich in zwei sich türmende Aktenstapel, rechts die einfach zu erledigenden Fälle, links die, die schwerer abzuurteilen sind. „Korrektheit machte Gabrielle nicht unmenschlich, nur emotional unberührbar für das Amt“, charakterisiert die Autorin diese weder kaltblütige noch warmherzige Frau, deren nüchterner Pragmatismus Mischkulnigs Schreibstil bestimmt.
So kühl und distanziert, dass man ihn eine drastische Neue Sachlichkeit nennen möchte, und der dennoch ganz nah an Gabrielle ist. Der Tonfall, die Gedanken, ganz klar befindet sich die Leserin, der Leser im Kopf der Richterin. Mit wenigen Sätzen umreißt Mischkulnig die Tragweite der Situation. „Die einen berichteten das Grauen und die anderen färbten Afghanistan schön und bekämpfen kritische Einschätzungen als Hirngespinsterei einer Asyl-Lügen-Fabrik. Es gebe ihrer Meinung nach Straßenzüge in Kabul, in denen Schreiber sitzen und gegen Bezahlung Morddrohungen für die Fluchtwilligen verfertigten …“
„Manche Sachverständige waren überzeugt, dass drei Viertel der Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge seien, wobei der Wunsch, dem Elend zu entkommen, eben keinen Asylgrund darstelle …“ „Selbst der afghanische Minister für Flüchtlingsfragen bat die Republik Österreich, Asylwerber nicht zurückzuschicken, da man zu Hause nicht wisse, wohin mit ihnen …“ „Die Rückkehrer waren durch die Fluchtjahre schon von zu Hause entwöhnt und mussten in den Familien ihr Stigma als Versager tragen …“ „Lehrlinge waren aus den Ausbildungsprogrammen herausgerissen und abgeschoben worden. Die Politik manipulierte das richterliche Denken …“
Von NGO-Broschüren über „die Formeln juristischer Textkörper, die sie mit Copy & Paste in die Schriftstücke einpasste“ bis zu den Länderberichten – über Terrortote und Polizeigewalt bis zu fehlenden Arbeits- und Ausbildungsplätzen. „In den Asylfällen zählten die nachgereichten Unterlagen nicht viel …“

Screenshot. Quelle: fairness-asyl.at

Screenshot. Quelle: fairness-asyl.at
Zwischen diesen Polen pendelt Gabrielle. Recht, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Sie verhandelt den Fall eines 18-jährigen Vergewaltigers aus Afghanistan, den einer Somalierin, die ihre Tochter beschneiden lassen wollte, psychiatrische Gutachten, verquere Logiken, Scheinehen, ein schwuler Modedesigner, Intim-Femizid, eine Hazara-Frau, deren Ehemann das Bleiberecht erhalten hat, sie stumm und stur, während er von der hinteren Sitzreihe nach vorne plärrt. „In den Essays von Jean Améry stand geschrieben, dass der Verlust des Weltvertrauens immer in einer physischen Kränkung resultierte“, ist ein Satz, der Gabrielle bis in ihre Träume verfolgt. Einem Anschlag fast zum Opfer gefallen zu sein, sei kein Asylgrund, entscheidet sie.
Sie überprüft Integrationswilligkeit, indem sie die Sonderangebote hiesiger Supermärkte abfragt. Sie weiß um ihre Entscheidungsmacht, und muss sie aushalten. Was „Die Richterin“ erzählt, ist die Geschichte einer allumfassenden Desillusionierung. Das Thema, sagt Mischkulnig im Online-Gespräch, begleite sie seit der rumänischen Revolution, „als nach dem Regimewechsel rumänische Kinder zu Gast in der Schule waren, die meine Mutter damals führte. Als dann 2015 die Flüchtlinge aus Syrien nach Europa kamen, war mir klar: Ich möchte auch wissen, was es heißt, im Asylwesen mitgestalten zu können. Wer sind all die AkteurInnen? Und schließlich interessierte mich der Gerichtssaal mit seiner interessierten Öffentlichkeit.“
Und diese Öffentlichkeit? „War ich selbst, in diese Rolle konnte ich mich begeben. Ich saß viele Monate dort und konnte Gespräche führen, sowohl mit HelferInnen und RechtsberaterInnen als auch mit den RichterInnen, ReferentInnen und Betroffenen. Ich wechselte meine Perspektiven und irgendwann war mir klar, wie kompliziert die Lage ist und wie menschlich. Jeder Mensch hat das Recht auf ein Bleiben in Sicherheit. Aber was geschieht mit denen, die Sicherheit nicht einmal begreifen, sondern bedrohen?“

Bild: pixabay.com

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„Jeder Fall ist speziell“, so Mischkulnig. „Das erfuhr ich auf nationaler und internationaler Ebene. Es geht immer um das Individuum. Ich habe gelernt, dass Recht gelebt werden muss. Und die Frage ist: Wie? Es ist ungeheuerlich, einen negativen Bescheid zu lesen. Es ist auch ungeheuerlich, einen positiven zu lesen. Das Bewusstsein darüber, dass es sich immer um ein menschliches Schicksal handelt, macht einen gewaltigen Druck auf Geist und Psyche.“
„Die Richterin“ ist zweifelsfrei ein politischer, doch auch ein extrem feingesponnen doppelbödiger Roman. Gabrielle nämlich muss nicht nur beruflich Recht sprechen, sondern auch im Privaten nach dem Rechten sehen. Dort herumgeistern: Ein drogensüchtiger Bruder, der indirekt die Schuld am Tod von Gabrielles ungeborenem Kind trägt, und der sein eigenes nach dem Überdosistod der Freundin zur Adoption freigibt. Ein Vater, von dessen Pistole in der rechten Hand unklar bleibt, ob Selbstmord oder Mord. Ein Ehemann, Joe, dessen Leidenschaft inzwischen mehr Gabrielles Garderobe als ihr selbst gilt. Er schlüpfe in die Kleider, um seiner Frau nah zu sein, erklärt er. Einmal entwendet er ihren Talar als Kostüm für ein Gschnas.
Unterm analytisch-präzisen Blick, den die Kärtner Schriftstellerin mit ihrer Figur teilt, werden die dunklen Flecken dieser Seelen und ihrer Schattenkämpfe ausgeleuchtet. Überforderung, Übermüdung, Überarbeitet-Sein. „Sie erledigte stets alles sofort, nur nicht, was ihr selbst zu Leibe rückte“, so Mischkulnig über Gabrielle. Als dann ein Mail des Bruders, ausgerechnet aus Kabul, ein weißer Lieferwagen und ein vermeintlich Unbekannter auf der Bildschirmfläche erscheinen, geraten die Waagschalen, die Gabrielle sorgsam austariert in Händen hält, endgültig aus dem Gleichgewicht …

Screenshot: Der Standard vom 25. Mai 2018. Quelle: fairness-asyl.at
In Mischkulnigs Buch, das sich um jene Realität bekümmert, die für viele Menschen schicksalsbestimmende Entscheidungen bereithält, kann man Diveres ablesen über das Klima in diesem Land. Die Autorin entwirft ein unerbittliches Zeit-, ein Sittenbild soeben laufender Ereignisse. Sie verhandelt Grundsätzliches und hält sich mit schnellen Urteilen zurück. Ihr Schreiben ist die komplexe Summe ihres genauen Überprüfens und Reflektierens. Das Geschriebene hallt nach in einem, wenn sie „das österreichische Asylwesen“, als wär’s ein Lebewesen, als letztlich unüberwindbaren Hindernisparcours darstellt, und glücklich diejenigen, für die die Welt, in die sie beim Lesen eintauchen, eine Terra incognita ist.
Ist einem Gabrielle sympathisch? Jjjjnein! Doch so furios wie fulminant ist, wie Lydia Mischkulnig deren Assoziationsstrom von Kunst über „Kulturkreis“ bis Gericht, von Familie bis Verlust des Augenlichts bändigt. Man besucht das Akademietheater und wünscht sich in die Josefstadt, man diniert gediegen, doch jeder Bissen wird gleichsam zur Innenschau. Man diskutiert „Mentalität“ beim Sekt und zum Rotwein moralisches Dilemma: „Die wahre Perversion ist die politische Haltung der christlich-sozialen Partei gegenüber Menschen in Not.“ Jaja.
„Thomas Mann war als Exilant in Amerika willkommen, und als er sagte: Wo ich bin, ist deutsche Kultur, da hat die Welt applaudiert, sagte Gabrielle … Wenn ein afghanischer Schriftsteller heute sagte: Wo ich bin, ist afghanische Kultur, wäre das ein islamistischer Übergriff, den die Identitären begrüßen würden, um die Afghanen zum Teufel zu jagen, sagte Joe.“
Über die Autorin: Lydia Mischkulnig ist eine der spannendsten und unkonventionellsten literarischen Stimmen Österreichs. Geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet sie meist in Wien. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1996, dem Veza-Canetti-Preis und dem Johann-Beer-Literaturpreis – beide 2017. Bei Haymon erschienen bisher die Romane „Hollywood im Winter“, „Schwestern der Angst“, „Vom Gebrauch der Wünsche“ und der Erzählband „Die Paradiesmaschine“.
Haymon Verlag, Lydia Mischkulnig: „Die Richterin“, Roman, 269 Seiten.
www.haymonverlag.at www.lydiamischkulnig.net Die Autorin im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=0qZWP0VqGHc&t=1445s
LESETIPP: Textperlen in Asylverfahren: www.fairness-asyl.at/textperlen-im-asylverfahren
- 12. 2020