Netflix: Neil Patrick Harris in „Uncoupled“

Juli 29, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …

Morgens ist die Welt noch in Ordnung: Neil Patrick Harris als Michael. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

In der Mitte der ersten Staffel, als sich ein vielversprechendes erstes Date wieder mal Richtung Katastrophe dreht, rastet Michael aus: „Ich sollte nicht hier sein“, schreit er seinen verdutzten One-Night-Stand an. „Ich will nichts über mit Botox behandelte Arschlöcher und PrEP* wissen, ich will auf meiner Couch sitzen und fernsehen, während mein Mann neben mir viel zu laut kaut. Das ist die Welt, die ich will.“

*Eine Safer-Sex-Methode, bei der HIV-Negative ein HIV-Medikament einnehmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen.

Tja, diese Welt ist in der neuen Netflix-Serie „Uncoupled“, deren erste acht Folgen ab heute zu streamen sind, vorläufig mal untergegangen. „How I Met Your Mother“-„Barney“ Neil Patrick Harris, privat seit 2004 mit Ehemann und Starkoch David Burtka liiert und gemeinsam mit ihm Vater von Zwillingen, spielt Immobilienmakler für Betuchte Michael Lawson, der nach 17 Jahren trauter Zweisamkeit von Lebensmensch Colin, Tuc Watkins (auch zu sehen in „The Boys in the Band“, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43932), verlassen wird.

Worauf sich der beinah Fünfzigjährige nicht nur mit einer ihm fremden Einsamkeit, sondern auch mit einer sich gewandelt habenden Gay Community konfrontiert sieht, deren Zeichen er nicht mehr zu deuten vermag. Stichwort: Grindr App. „Uncoupled“-Schöpfer Jeffrey Richman und Darren Star, letzterer auch Erfinder von „Beverly Hills, 90210“, „Sex and the City“ und 2020 der Netflix-Serie „Emily in Paris“, haben für Hauptdarsteller Harris die probaten Mittel zur Hand – selbstironischen Humor, gewitzte Dialoge, verschmitzte Jungenhaftigkeit -, um ihren Midlife-Crisis-Michael in allen Regenbogenfarben schillern zu lassen.

Klar, dass Neil Patrick Harris diese Übung supersympathisch gelingt. Michaels neuer Beziehungsstatus „Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …“ ist also die Bassline der Serie, ausgerechnet bei der für ihn arrangierten Überraschungsparty gibt Geburtstagskind Colin bekannt, dass er aus der gemeinsamen Wohnung im mondänen Manhattan-Viertel Gramercy schon ausgezogen ist. Harris überspielt Michaels Schock mit ergreifender Zurückhaltung. Es ist die Art von glamourösem, fotogenem Hochglanzleid, Tiffany-gerahmte Bilder, ecrufarbenes Wildledersofa mit keinem Kapritzpölsterchen fehl am Platz, romantische Privatterrasse, die schon Carrie Bradshaws Mr.-Big-Tränen umflorte.

Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Busenfreund Stanley: Brooks Ashmanskas. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Dickpic! Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

One-Night-Stand: Gilles Marini. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Bei Michael singt dazu Sam Smith, Harris und Burtka sind über ihre Freundschaft mit Elton John und David Furnish gut mit der Musikszene vernetzt, doch trotz dieses Wissens haut’s einen aus den Schuhen, wenn gleich in Episode eins die Masterminds des Musical „Hairspray“ Marc Shaiman und Scott Wittman, die beiden seit mehr als 40 Jahren berufliche wie private Partner, ihren Hit „Welcome to the ’60s“ für Michael in ein „Welcome to your 50s“ neuinterpretieren. Da fragt man sich, was an Cameo noch kommen mag, und ob auch Neil Patrick Harris sein Gesangs- und Tanztalent wird austoben dürfen.

Abseits des häuslichen Elends hoppt Michael hochprofessionell von Event zu Party zu Soiree. Dabei begleiten ihn drei BFF: Emerson Brooks als arrogant von seinem Umfeld amüsierter TV-Wettermann Billy, Brooks Ashmanskas als Galerist Stanley, dem Billy bescheinigt „ein großartiger Kunstkenner, aber ein lausiger Schwuler“ zu sein, worauf der – Retourkutsche – Billys jüngsten Lover als dessen „Kindsbraut“ begrüßt, und last, but noch least: die großartige Tisha Campbell als Michaels Geschäftspartnerin Suzanne.

Mit Stanley und Emerson Brooks als Billy. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Tisha Campbell als Geschäftspartnerin Suzanne. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Die nervige Kundin: Marcia Gay Harden als Claire. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

So retro: Billy, Michael und Stanley in der Roller Skates Disco. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Diese, ebenfalls auf Bräutigamschau, bringt die weibliche Variante ins Mitt-irgendwas-Liebesspiel ein und damit das Thema Bodyshaming: „Letzte Nacht“, lässt sie Michael lapidar wissen, „hatte ich einen, der mir sagte, mit fünf Kilo weniger wäre ich attraktiv. Ich durfte trotzdem auf seinem Gesicht sitzen.“ Bleibt als überkandidelt kandierte Kirsche auf diesem komödiantischen Cupcake Marcia Gay Harden – als nervige Kundin Claire ein Running Gag, die den Immobilienporno im 5000-m2 Penthouse und ergo den Tenor der Serie auf den Punkt bringt: „Ich fühle mich wie in einem dieser 1930er-Filme, in denen draußen die Weltwirtschaftskrise stattfindet, aber hier oben gibt es nur Fred Astaire und Cocktails und Tanzmusik.“

„Uncoupled“ kann man als Eskapismus in ein keimfreies New York voll schöner Menschen ohne Existenzsorgen kritisieren oder liebgewinnen (hier: zweiteres). Die Serie ist in erster Linie Comfort Binge für ein Publikum, das sich in ähnlichen Verhältnissen wie deren Figuren aufhält, zu alt, um hip zu sein, aber zu jung, als dass sie das nicht mit allen Mitteln bekämpfen wollten. Michael sehnt sich nach Dr. Ruths Aufklärungsunterricht wie hierzulande vielleicht nach Erika Berger. Er vermisst Radiowecker. Und – eine der gelungensten Satire-Szenen – der Generation-X-Mann knurrt einen Millennial an, der noch nie etwas vom AIDS Memorial Quilt gehört hat:

„Wir haben für euch Opfer gebracht. Das heißt: Ich nicht. Aber ich habe ,Angels in America‘ gesehen!“ (Rezension einer Produktion der NOW: www.mottingers-meinung.at/?p=34820). Worauf der Jüngere Michael mit der Bemerkung, „eine verbitterte alte Queen“ zu sein einfach stehenlässt. „Uncoupled“ funktioniert in vielerlei Hinsicht hervorragend. Die Frage, welche Zahl an Fröschen man küssen muss, um zu einem Prinzen, einer Prinzessin zu kommen, bewegt wohl jede und jeden, der sich ein bisschen Glück, Liebe und Verständnis wünscht. Hier wird davon gutgelaunt und in einer Tour de Luxe erzählt. Möge einem nichts Schlimmeres passieren, während man auf Staffel zwei wartet …

Trailer: www.youtube.com/watch?v=KMT4pVK-uFo           www.youtube.com/watch?v=NZEwlyPbTt4           www.netflix.com

  1. 7. 2022

Spencer: Kristen Stewart brilliert als Lady Diana

Januar 13, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Befreiungsschlag am Weihnachtstag

Kristen Stewart als Lady Diana. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Die Kamera von Claire Mathon starrt auf grau-vereiste Wiesen. Aus der Stille schwillt der Sound an. Militärjeeps brettern auf ein Herrenhaus zu, in den Militärkisten statt Waffen Lebensmittel. Cut. Nun kurvt ein Porsche deutlich verwirrt durch ebendiese Landschaft. Bei einem Imbiss wird angehalten. Bewehrt mit ihrem Chanel-Täschchen tritt sie ein. Die scheuen Blicke zur Seite, das verlegene Lächeln, die schüchterne, nichtsdestotrotz

standesbewusste Art sich zu präsentieren – doch, das ist sie, Lady Diana – oder besser gesagt Kristen Stewart, die für den Film „Spencer“, der am 13. Jänner in die Kinos kommt, in diese Rolle schlüpfte. Rolle, man wird es sehen, in vielerlei Hinsicht, und Stewart, gewesener Twilight-Star und zuletzt grandios als Jean Seberg, brilliert auch als Königin der Herzen. Man kann die Wandlungsfähigkeit der US-Schauspielerin nur bewundern. Das Jahr ist 1991, also weiter weg von der Traumhochzeit als zum Schockmoment, an dem Di in einem Tunnel unter Paris aus einem gecrashten Mercedes geborgen wurde. Und die Anmerkung mit den Militärjeeps ergibt sich, weil der chilenische Regisseur Pablo Larraín seinen Film wie einen D-Day inszeniert hat.

Ein letztes Gefecht auf der Queen Gut Sandringham, wohin Ma’am die gesamte königliche Familie zum Weihnachtsfest befohlen hat, auch die eigentlich von Charles bereits getrenntlebende Diana. Und vorsorglich den Kriegsveteranen Major Alistair Gregory, Timothy Spall mit dem Flair gestrenger Fürsorge, der ein Argusauge sowohl auf Paparazzi als auch auf die für gewöhnlich entgleisende Prinzessin haben soll. Er wird sie dennoch nicht verhindern können, die Panik- und bulimischen Kotzattacken, die Tagalbträume, die Fluchtversuche, die Geistererscheinungen der Seelenverwandten Anne Boleyn.

„Ich weiß absolut nicht, wo ich bin“, haucht Stewart im Imbiss einen Satz mit Symbolcharakter. Ihre Verlorenheit ist Teil einer Selbstinszenierung, pathetisch und subversiv – eine aufgeschobene, verdrängte Rückkehr in die Gefilde ihres Vaters. Nach elf Gängen und sieben Outfit-Wechseln weiß sie immerhin, wohin sie will. Weg. Larraín hat intensiv recherchiert, das muss man sich angesichts der skurrilen Traditionen rund um Elizabeth II. immer wieder klar machen. Im bitterkalten Schloss, denn die Royals setzen auf Decken statt Heizung, steht eine Sitzwaage, auf der sich alle wiegen lassen müssen, da nur, wer über die Feiertage drei Pfund zugenommen hat, beweist, dass ihm das Fest gefallen hat.

Prinz Albert führte dies einst als Scherz ein, die Queen machte daraus blutigen Ernst – und eine unlösbare Aufgabe für Diana. Larraín zeigt eine vor Nervosität und Unwohlsein vibrierende Prinzessin, Stewart spielt die Diana verzweifelt zynisch und mit Mühe ihren Zorn unterdrückend, jeder Augenaufschlag, jeder Seufzer ist eine Anklage gegen die liebe Familie. „Verärgerst du sie gern?“, fragt Jack Nielen als Prinz William an einer Stelle. „Ja, schrecklich gern“, antwortet sie. Es ist dies einer der Momente des Films, die darauf hindeuten, wie Diana den damals 9-jährigen William mit ihren psychischen Problemen überfrachtet, daneben Harry, der mehr mitkriegt, als die beiden denken.

Drei Tage gilt es in royaler Geiselhaft zu überstehen. In einer großartigen Szene, dem Wenn-Blicke-töten-könnten-Weihnachtsdinner, wird die festliche Tafel zum Gefechtsstand. Kein Wort fällt. Diana wird von der Vision mitgerissen, sie reiße sich die Perlenkette vom Hals, hat doch Charles Camilla exakt die gleiche geschenkt, und fresse die Perlen mit der Suppe in sich hinein. Derlei Surreales durchbricht die Handlung immer wieder. Diana tanzt durch Paläste, Diana in der Ruine ihres Elternhauses als glückliches Kind. Die alte Jacke ihres Vaters hat die Queen einer Vogelscheuche zugedacht. Diana nimmt sie ab und mit.

Diana im Kinderzimmer von „William“ Jack Nielen und „Harry“ Freddie Spry. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Letzter Versuch einer Aussprache mit „Charles“ Jack Farthing. Bild: © Frederic Batier, Polyfilm

Sean Harris will Diana als Küchenchef Darren mit Leckerbissen zum Essen verführen. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Timothy Spall ist grandios als väterlich-strenger Major Alistar Gregory. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Mit ihrer Kammerzofe und Vertrauten „Maggie“ Sally Hawkins. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Die liebe Familie: vorne Elizabeth Berrington als Prinzessin Anne, Stella Gonet als Queen und die österreichische Schauspielerin Lore Stefanek als Queen Mum. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Lieblosigkeiten im goldenen Käfig. Royales Mobbing. Und totale Überwachung. Die sieben Garderoben sind fein säuberlich nach ihrem Verwendungszweck beschriftet, als Diana für den Kirchgang eine nicht dafür vorgesehene wählt, steht der ganze Haushalt Kopf. Die Nachricht vom textilen Ungehorsam wird sogar an Charles herangetragen. Jeder Fauxpas wird protokolliert. Dann, vor der Kirche, jene Lady Di die die Medien manipuliert, für ihre Zwecke nutzt (das diesbezüglich legendäre BBC-Interview soll ja durch Lug und Trug zustande gekommen sein) und gleichzeitig das ihr verpasste Image verabscheut. Für die Royals ist der Presse Bevorzugung Dianas ein frivoles Vergehen.

Die Kamera jedenfalls kann sich an Kristen Stewarts Gesicht nicht sattsehen, und diese verkörpert Dianas physische wie psychische Fragilität perfekt, mit gehetztem Blick, immerzu rennend, durch Korridore und Nebelwände mit verkrampft hochgezogenen Schultern, in der Speisekammer gierig Süßspeisen in sich hineinstopfend, dann das Hochwürgen. Bemerkenswert ist, dass Larraín die Royals, angetreten von Prinz Philip bis Sarah Ferguson, zu Statisten, zu stummen Dienern seiner Sache macht. Schweigen ist bekanntermaßen die erste Tugend der königlichen Familie.

Lediglich Stella Gonet als Queen sind ein paar Worte gegönnt und selbstverständlich hat Jack Farthing als Charles seine Szenen. Farthing spielt den Thronfolger mit indignierter Distanz. Verständnis findet Diana bei ihren besorgten Vertrauten. Larraín nimmt sich ausführlich Zeit für Dianas Gespräche mit dem Personal: Sean Harris als Küchenchef Darren, der besondere Leckerbissen für seine Prinzessin zubereitet, die er zum Essen verführen will. Sally Hawkins ganz wunderbar als Kammerzofe Maggie, die außer fürs Ankleiden für seelischen Rückhalt und ermutigenden Zuspruch zuständig ist. Einer der schönsten Momente des Films ist, wenn die beiden wie Freundinnen über den Strand spazieren. Schließlich Timothy Spall anrührend, väterlich und liebevoll-streng als Major Alistair Gregory, der Aufpasser, dem sein Observationsobjekt mehr und mehr ans Herz wächst. „I watch so that others do not see“, sagt er.

„Spencer“ ist eine Studie königlicher Klaustrophobie, das Psychogramm einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Kristen Stewart hat sich Dianas kokett-ikonische Posen zu eigen gemacht. Ihre geheimnisvolle Aura und ihre magnetische Ausstrahlung führen die Schauspielerin in darstellerisch neue, lichte Höhen. Kurz gefasst: Die Oscarnominierung winkt! Der große britische Film-Szenenbildner Guy Hendrix Dyas, die renommierte Kostümbildner Jacqueline Durran und die fabelhafte Arbeit der Maskenbilderin Wakana Yoshihara tun ein Übriges, damit die Atmosphäre stimmt. „Spencer“ erreicht die emotionale Extravaganz eines erstklassigen Melodramas und ist zugleich eine historische Fantasie, eine politische Fabel und eine schwarze Sittenkomödie.

Am Ende – Achtung: Spoiler! – vergattert Charles sehr zum Unmut Dianas Sohn William zur Fasanenjagd. Sie wird wie aus dem Nichts auftauchen, die Vögel verscheuchen, damit vor dem Abschuss retten und ihre beiden Söhne in den Porsche verfrachten. Nächster Stopp: ein Fast-Food-Lokal. Sie bestellt beim Drive-In und als sie nach dem Namen gefragt wird, verwendet sie ihren Mädchennamen: „Spencer!“

www.spencer-themovie.com

13. 1.  2022

National Theatre online: Frankenstein

Mai 3, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Benedict Cumberbatch brilliert als Monster wie Victor

Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller spielen alternierend das Monster und dessen Schöpfer Victor Frankenstein. Bild: Clare Nicholson

Etwas wahrhaft Einmaliges bietet das Londoner National Theatre nun im kostenlosen Stream an: Mary Shelleys „Frankenstein“, für die Bühne adaptiert von Nick Dean, inszeniert vom als Filmemacher bekannten Danny Boyle – mit Superstar Benedict Cumberbatch und Boyles „Trainspotting“- Longtime-Companion Jonny Lee Miller in den Hauptrollen. Und dies alternierend! Zu sehen bis 8. Mai auf ntlive.nationaltheatre.org.uk.

Die Inszenierung ist mit einem Wort brillant. Boyle und Dean konzentrieren sich auf das Opfer der Wissenschaft, heißt: das „Monster“, erst nach mehr als der Hälfte der zweistündigen Spielzeit hat Victor Frankenstein seinen Auftritt, und entstanden ist so ein intensiver, intelligenter, von humanistischem Denken durchtränkter Abend. Eigentlich zwei, denn es lohnt, beide Versionen anzuschauen, da beide Darsteller doch differente Auffassungen der Schöpfung und ihres obsessiven Schöpfers verkörpern. Ihre Performances zu vergleichen, ist ein unvergleichliches Theatervergnügen.

Durch die schauspielerische Dopplung wird die Charakterspiegelung umso deutlicher, wird einer umso deutlicher des anderen Alter Ego, sehr heutig mutet diese Furcht vor dem Fremden und dem Unverständlichen an, auf das ergo Jagd gemacht werden muss, aber auch Mary Shelleys Aufbegehren gegen ungerechte sozial-gesellschaftliche Strukturen findet seinen modernen Widerhall. Wer jedoch, to cut a long story short, nur für eine Aufführung Zeit findet, sollte Miller als Kreatur und Cumberbatch als Victor wählen.

Das Setting, das Ausstatter Mark Tildesley und Lichtdesigner Bruno Poet, nomen est omen, entworfen haben, ist atemberaubend. Unterm rotglimmenden und elektrische Blitze aussendenden Sternenzelt wird unter Schmerzen die Kreatur geboren, als künstliche Gebärmutter steht eine riesige Hautmembran auf der blutig beleuchteten Bühne, darin pulst und bewegt es sich, bis es herausfällt – das Neugeborene, ecce homo, nackt und erbarmungswürdig, zappelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Und der Schöpfer? Kein liebevoller Vater, sondern einer, der’s mit der Angst kriegt und seinen Schutzbefohlenen verstößt, direkt vor die Eisenbahn, auf deren dampfender Lokomotive Danny Boyles liebste Brit-Band Underworld, Karl Hyde und Rick Smith, nun angebraust kommt, als wär‘ das Industriezeitalter aller Laster Anfang. Mit „Dawn of Eden“ (www.youtube.com/watch?v=LLbbWlTgS4w) untermalt diese musikalisch, wie die Kreatur aufsteht, herumstolpert, sich an der Natur erfreut und ihr ausgeliefert ist, der eigenen wie Spatzenschwarm und Regenguss, verprügelt und halb verhungert, bis sie ein Buch findet, 〈Mary Shelleys?〉, und kichernd die Seiten rascheln lässt.

Miller wie Cumberbatch leisten körperliche Schwerstarbeit, die Performance aus sabberndem Grunzen und spastischen Gesten im Bildschirm-Closeup in ihren feinsten Nuancen zu würdigen, sehr symbolisch ist, was passiert – und in cineastischem Sinne sinnlich. Cumberbatchs Kreatur besitzt Humor wie Pathos: Sein Eintritt in die Welt ist ein hilfloses Hineinwackeln ins Land kindlicher Neugier; unter De Laceys Fittichen wird er zum Schüler – Karl Johnsohn auch als verarmter, vom Großbürger zum Altbauern gewordener Blinder ein King Lear.

Und wunderbar tragikomisch ist, wie der Lehrmeister seines Pflegesohns „Piss off! Bugger off!- denn etwas anderes hatte der zuvor nie gehört -Wortschatz erweitert. „Someone will love you, whoever you are. Love can overcome prejudice“, sagt De Lacey, der des Monsters Zurichtung freilich nur ertasten kann, und dieses erwidert erstaunt: „What is love?“ Da hat das Live-Publikum gut lachen, bei den Dialogen zwischen dem zaghaften Erkunder seiner Existenz und dem Philosophen, der weniger an Gott, denn an Verstand und Vernunft glaubt.

Benedict Cumberbatch und Haydon Downing. Bild: Catherine Ashmore

Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Naomie Harris und Benedict Cumberbatch. Bild: Catherine Ashmore

Episch ist’s, wie Cumberbatch John Miltons „Paradise Lost“ rezitiert, und ergreifend, wie er die Friedhofserde als seinen Ursprungsort erkennt, entsetzlich, als er empört über seine neuerliche Vertreibung durch De Laceys Sohn Keusche samt Bewohnern niederbrennt. „I sweep to my revenge,“ diesen Satz schreit auch Jonny Lee Miller, doch seine Kreatur ist ungleich animalischer, auf eine gewisse Art männlicher, also gefährlicher, die Stimme rauer, tiefer, lauter, also aggressiver. Dass das Monster an Ella Smiths „Gretel‘s“ Schoß schnüffelt, hatte man bei Cumberbatch gar nicht bemerkt, auch nicht, dass es der Dirne den Schnaps aus der Hand nimmt, trinkt, spuckt.

Und auch die Tanzillusion von Andreea Paduraru als Female Creature wird durch Millers Reaktion zum eindeutig sexuell konnotierten Traum. Dazu passt nun neckisch De Laceys „Was it a good dream?“ – „It was pleasing!“, doch grauenhaft klar wird erst bei diesem zweiten Mal Sehen, dass Eva hier bereits ihr Ende andeutet. Wirkt Cumberbatch wie ein naiv Wissbegieriger, so Miller als ein verzweifelt Suchender, wo der eine schüchtern nachhakt, muss der andere vehement widersprechen. Mit Miller mutet die Inszenierung insgesamt gewalttätiger an, gegen Miller ist das Cumberbatch-Monster ein Elegiebürscherl, welch ein Paradebeispiel dafür, wie ein Protagonist das große Ganze prägt.

Wenn Millers Monster Frankensteins kleinen Bruder William auf seine Schultern hebt, bangt man in der Minute um dessen Leben. Bei Cumberbatch gehört die Schuld dafür, da ja zum Mord getrieben, letztlich Victor. Und als die Kreatur Victors Braut vergewaltigt, bevor sie sie tötet, ist es, als würde sie lediglich die dunklen, unterdrückten Wünsche ihres Schöpfers erfüllen. Jonny Lee Miller ist ein obsessiv-eisiger Wissenschaftler, der sein Werk vor die Liebe stellt, denn auch er kennt deren wahre Bedeutung nicht, sein Frankenstein ganz Herrenmensch, selbstgerecht und frauenverachtend, nur George Harris als sein Vater ist noch herrischer als er.

Nach der Panik in der Anfangssequenz platzt er nun vor Stolz auf sein großes Experiment, dies Ausdruck seines großen Geistes, und wird von Cumberbatchs Kreatur darob als „genius“ verspottet. Auf Millers überraschtes „It speaks!“ schleudert diese ihm ihre tiefe Verachtung entgegen – warum sie gemacht wurde? „To prove that I could!“ – „So you make sport with my life?“ – „In the cause of science!“ Und wieder Paradise Lost, und Cumberbatch sagt: „God was proud of Adam, but it’s Satan I sympathize with.“ Wie aus der natürlichen Veranlagung zum Guten durch gesellschaftliche Deformation Böses entsteht, wow! Nick Dean!

Der in der Figur von Frankensteins Dauerverlobter Elizabeth auch Mary Shelleys feministischer Kritik an der männlichen Usurpation des Gottesbegriffs zu ihrem Recht verhilft. Millers Frankenstein, der Egomane mit dem Gottkomplex, wird also in dieser Auseinandersetzung dank des Monsters Logik an die Wand argumentiert, die Szene das Herzstück der Aufführung, da begegnen sich zwei Ebenbürtige auf Augenhöhe, sowohl was die Charaktere als auch deren Darsteller betrifft. Und über allem steht Danny Boyles Frage zu Deans von Glaubensfragen durchzogenem Text – nämlich, wer das Monster ist, wer abstoßend, wer ekelerregend.

Beider Hybris ist herausragend, was Wunder, dass sie einen Pakt schließen, was Wunder, dass einer des anderen darling – und beide Male ist sie Frankensteins Braut – killen wird. Mary Shelleys zweiten Romantitel „The Modern Prometheus“ bedient Cumberbatch, indem er aus diesem eine Lord-Byron’sche Figur macht. Sein Frankenstein ist ein nobleman mit jungenhaftem Charme, gleichzeitig ein in sich und seine wissenschaftlichen Theorien versponnener Forscher, subtiler im Gift und Galle Spucken, enthusiasmiert und hibbelig, sobald das neue Projekt der Leichenteil-Braut ansteht.

Benedict Cumberbatch. Bild: Catherine Ashmore

Naomie Harris und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Karl Johnson und Cumberbatch. Bild: Catherine Ashmore

Underworld mit Ensemble. Bild: Catherine Ashmore

In beiden Rollen verhalten sich die Proportionen Millers zu Cumberbatchs wie eine archaische Religion zur reformierten Kirche, ist Millers Monster verstörender und einen emotional angreifender, so Cumberbatchs Frankenstein ein Künstler. Schock und Spaß sitzen nun an anderer Stelle, die Schlüsselszene ist jetzt die Präsentation der weiblichen Kreatur, ob der der grüblerische Schöpfergott und sein entfesselter Satan rasch zu Rivalen im Wettstreit ums ewige Weib werden.

Der Januskopf im Auge-um-Auge-Kampf, da hat auch Cumberbatchs „Mein Herz schlägt wie deines“-Griff an Elizabeths Busen nichts Harmloses mehr, weil sich Miller danach in den Schritt greift. The Erbsünde-apple is eaten, um’s Denglisch zu formulieren, he will harm her, und fabelhaft ist, wie sich die Mit- auf vier verschiedene Hauptakteure eingelassen haben. Allen voran Naomie Harris als Elizabeth, die dem Monster als gute Christin mit Mitgefühl begegnet und dafür dessen Rechnung mit Frankenstein bezahlt, ihre Schändung zweifellos der affektive Höhepunkt in deren Ringen, sein zu wollen, wer man ist und wer einen daran hindert.

Harris verleiht Elizabeth große Tiefe und harmoniert mit Miller wie Cumberbatch hervorragend, keineswegs unterwürfig konfrontiert sie ihren Endlich!-Ehemann mit der Klage, warum er ein künstliches Kind, statt eines so sehnlich gewünschten mit ihr erschaffen hat, eine Szene voll aufgestauten Leids und Leidenschaften. Den düsteren leeren Raum mit seiner ahnungsvollen Atmosphäre durchbricht Boyle mit kleinen skurrilen Momenten, wie’s nur die Briten können.

Mark Armstrong als Rab und John Stahl als dessen Onkel Ewan sind kauzige Grabräuber, die beim Buddeln unbeschwert in originellem Orcadian-Dialekt schwatzen, darin Hamlets Totengräbern nicht unähnlich, ebenso wie Ella Smith sowohl als des Monsters Prostituierte Gretel als auch als Frankensteins Bedienstete Clarice eine Falstaff-Frau ist. Hayden Downing ist als William Typ wohlerzogener Spitzbub.

Fazit: Cumberbatch und Miller brillieren in allen Facetten von Wahnsinn, ist des ersteren Kreatur ein sensibler Intellektueller, überzeugt Miller mit Gefühl und Furor. Kann Cumberbatch auch das lächerlich Selbstverliebte in Frankenstein zum Vorschein bringen, so Miller dessen irritierende Skrupellosigkeit. Der Rollentausch hebt die Ironie des Gezeigten hervor, wie schnell sich in der Welt doch der Platz von Herr und Sklave drehen, und am Ende … bleiben beide für immer Verbundene. Hier im ewigen Eis. Eine Warnung für zartbesaitete Gemüter: Bei der Brautkammerszene wäre ich vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Und das zweimal, nein!, eigentlich: viermal.

Cumberbatch und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Cumberbatch und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Cumberbatch als Monster, bis 7. Mai: www.youtube.com/watch?v=tl8jxNrtceQ&feature=youtu.be

Cumberbatch als Victor Frankenstein, bis 8. Mai: www.youtube.com/watch?v=dI88grIRAnY&feature=youtu.be

www.nationaltheatre.org.uk           ntlive.nationaltheatre.org.uk

Trailer: www.youtube.com/watch?v=DmkQHV8e4Rk          www.youtube.com/watch?v=XKNNZKAu12g            www.youtube.com/watch?v=9NPlf4CEExU           www.youtube.com/watch?v=psAtbHDdaOU&t=23s

Benedict Cumberbatch, Jonny Lee Miller, Danny Boyle und Nick Dear im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=wanlO8fb1co           www.youtube.com/watch?v=E67Ty4diDgE           www.youtube.com/watch?v=8yUMbxSTWqg

3.5. 2020

Roman Polański: J’accuse – Intrige

Februar 6, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Affäre Dreyfus als erstaunlich aktueller Politthriller

Noch ist sein militärischer Ausbilder Picquart von Dreyfus‘ Schuld überzeugt, doch bald schon wird er sein Fürsprecher: Jean Dujardin und Louis Garrel. Bild: Guy Ferrandis

Der 5. Jänner 1895 ist kein großer Tag für die Grande Nation, vielmehr zeigt sich deren Belle Époque an diesem und den vielen folgenden von ihrer abstoßenden Seite. Die Regenwolken hängen tief, der Platz schwimmt in Wasser- lacken, zur Mitte des weitläufigen Hofs der Pariser École militaire marschiert eine Gruppe Offiziere. Der 5. Jänner ist der Tag, an dem Alfred Dreyfus, Artilleriehauptmann im Generalstab, wegen Landesverrats degradiert wird. Er soll dem Deutschen Kaiser- reich als Spion gedient haben.

Man reißt ihm die Epauletten vom Uniformrock, bricht sein Schwert entzwei, wirft alles zu Boden, ein inszeniertes, diszipliniert durchgeführtes Ritual der Entehrung. Dreyfus‘ schütteres Haar zittert im Winterwind, er nicht, seine Habtachtstellung ist eine, die starr ist vor Entsetzen über die groteske Demütigung. „Nun sieht er aus wie ein jüdischer Schneider, der den Wert der Goldtressen schätzt“, kommentiert einer der aberhundert gaffenden Soldaten und zivilen Schaulustigen. Doch der Bestrafte, der mit sichtbarer Mühe um Contenance ringt, muss noch die Reihen seiner ehemaligen Kameraden abschreiten. In dieser ersten Szene von „J’accuse – Intrige“, Roman Polańskis jüngstem Meisterwerk, das am Freitag in die Kinos kommt, ist bereits alles, was den weiteren Film ausmachen wird.

Das kalte Rattern der Militärmaschinerie, die den Menschen derart zum Objekt ihrer Macht deformiert, dass Dreyfus bei seinem Schandgang kein „Ich bin …“ über die Lippen kommt. „Man degradiert einen Unschuldigen!“, ruft er stattdessen im Gleichschritt und im Kommandoton der Kasernen. Auch der Antisemitismus ist allgegenwärtig, wenn die ältlich-fahlgesichtigen, von Standesdünkel angekränkelten Generäle versuchen, sich mit ihren judenfeindlichen Bonmots zu übertrumpfen. Für sie ist der gebürtige Elsässer Dreyfus der perfekte Sündenbock, mit dessen Deportation auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana sie die Angelegenheit als erledigt betrachten. Major Marie-Georges Picquart hat zu diesem Zeitpunkt ebenfalls keine Zweifel an dessen Verbrechen. Obwohl die Beweisführung des Gerichts alles andere als hieb- und stichfest war.

Er möge Juden nicht, aber er werde auch keinen diskriminieren, hat Dreyfus‘ früherer Ausbilder ihm in einer von etlichen Rückblenden beschieden. Polański, gemeinsam mit Romancier Robert Harris auch Drehbuchautor, macht diesen Picquart zum Protagonisten seines akribisch recherchierten Fin-de-Siècle-Films, der sich vom anfänglichen Spionage-, später Gewissensdrama in seinem letzten Drittel zum Gerichtsthriller steigert, einem kitsch- und ergo musiklosen, so distanziert und unaufgeregten wie die Militärs emotionsarm wirken. Das Erzähltempo fließt im Takt der Mühlen sogenannter Gerechtigkeit, wenn sie ein Bauernopfer zermahlen, jedes Kamerabild von Pawel Edelmann wie das Gemälde eines anno dazumaligen Salonmalers, das nun in einer Amtsstube verrußt, in der die Ressentiments nie richtig enlüftet wurden.

Ein inszeniertes, diszipliniert durchgeführtes Ritual der Entehrung, die Degradierung von Dreyfus: Louis Garrel. Bild: Guy Ferrandis

Emmanuelle Seigner als Pauline mit Luca Barbareschi als Ehemann Philippe Monnier. Bild: Guy Ferrandis

Picquard verfolgt den wahren Spion Walsin-Esterházy durchs Pariser Nachtleben. Bild: Guy Ferrandis

Und stellt den Schriftsachverständigen Bertillon zur Rede: Mathieu Amalric und Jean Dujardin. Bild: Guy Ferrandis

In diesem Setting ist der privat wuschelköpfige, nun dem Vorbild mehr als sich selbst ähnelnde Louis Garrel fabelhaft als Alfred Dreyfus, für dessen Darstellung ihm immerhin nur wenige Szenen zur Verfügung stehen. Etwa die in Sepia gehaltene, wenn er Hass und Misshandlungen auf der Teufelsinsel ohne eine Miene zu verziehen erträgt, oder beim zweiten Prozess, bei dem Dreyfus‘ körperlicher Verfall nicht nur durch die weniger und weiß gewordenen Haare deutlich wird, dabei nie ein Sympathieträger, sondern einer, der dank einer ordentlichen Portion Hybris keinem Märtyrerklischee entspricht. Dreh- und Angelpunkt der Produktion ist allerdings Oscarpreisträger Jean Dujardin als Marie-Georges Picquart, sein Spiel die brillante Verkörperung eines Stoikers, dem das Strammstehen in Fleisch und Blut übergegangen ist, eines konsequent nüchternen Denkers, dessen Gefühlsaufwallungen Dujardin in minimalsten Regungen seiner Gesichtsmuskeln lediglich anmerkt.

Picquart wird befördert. Zum Leiter des Deuxième Bureau, des militärischen Auslandsnachrichtendiensts, einer Gemeinschaft von Geheimniskrämern und Dunkelmännern, allesamt Gegner des neuen Chefs, in dessen Büro der gerahmte Brief an den Militärattaché der Deutschen Botschaft hängt, durch dessen Abfangen Dreyfus überführt wurde. Doch im Zuge seiner neuen Tätigkeit, und vor allem, weil er sich von seinen Untergebenen nicht daran hindern lässt, Verschlussakte aufzuschnüren, stößt Picquard auf Dokumente, die die Verurteilung von Dreyfus immer fragwürdiger erscheinen lassen und auf den Offizier Ferdinand Walsin-Esterházy als Schuldigen verweisen.

Ganz der Citoyen, der gegen alle Widerstände seinen Prinzipien treu bleibt und Unrecht nicht zu akzeptieren bereit ist, auch wenn er für Dreyfus keine besonderen Sympathien hegt, wendet sich Picquard an die Generalität – und muss erkennen, dass die Intrige samt Fälschungen und Vertuschungen bis in deren höchste Kreise reicht. Worauf der Aufdecker selbst ins Fadenkreuz gerät. Der Filmdialog dazu: Dreyfus-Ankläger, Geheimdienst-Vize und Brieffälscher Joseph Henry: „Sie befehlen mir einen Mann zu erschießen und ich tue es. Wenn Sie mir danach sagen, Sie haben sich im Namen geirrt, tut es mir leid, aber es ist nicht meine Schuld. So ist die Armee.“ Darauf Picquart: „So ist vielleicht Ihre Armee, Major, nicht meine.“

Als es vergangenes Jahr in Venedig den Silbernen Löwen – Großer Preis der Jury für Roman Polański gab, als die zwölf Nominierungen für den César 2020 bekannt wurden, flammten die #MeToo-Debatten rund um den Filmemacher wieder auf. Polański porträtiere sich selbst als Unschuldigen, hieß es, dabei ist „J’accuse -Intrige“, auch wenn dessen Schöpfer mit Schnauzbart und in Galauniform einen Cameoauftritt bei einem Konzert im Hause Monnier hat, so viel mehr. Überragend in künstlerischer wie handwerklicher Hinsicht, ist dies Kammerspiel Polańskis wichtigster und eindrücklichster Film seit Jahren – denn er hat, man möge vom Menschen dahinter halten, was man wolle, eine moralische Strahlkraft, die an politischer Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt.

J’Accuse …! In einem offenen Brief klagt Émile Zola die Obrigkeiten an. Bild:: Guy Ferrandis

Das bringt den Schriftsteller vor Gericht: André Marcon als Zola mit Melvil Poupaud als Anwalt Labori. Bild: Guy Ferrandis

Der Volkszorn ist im Wortsinn entfacht: Zolas Bücher werden in Paris öffentlich verbrannt. Bild: Guy Ferrandis

Die arrogante Generalität: Jean Dujardin mit Hervé Pierre, Didier Sandre und Vincent Grass. Bild: Guy Ferrandis

Mit der Figur Picquard, diesem Whistleblower avant la lettre, mit dem Zitieren eines stillen Antisemitismus, der gegenwärtig wieder lautstärker und gewalttätiger wird, mit einer kompromittierten, nichtsdestotrotz selbstgefälligen Ministerriege, die schützt, wer ihr gefährlich werden könnte, und die Möglichkeit eines begangenen Fehlers arrogant von sich weist, mit einem Plädoyer für die freie Presse, mit einem Fragen nach der Wahrheit angesichts „alternativer Fakten“. Picquard wird nämlich mit dem Herausgeber der Zeitschrift L’Aurore, Georges Clemenceau, und dem Schriftsteller Émile Zola bekannt gemacht, der darin seinen berühmten und hier titelgebenden Brief „J’Accuse …!“ veröffentlicht, ein Artikel gegen die Generäle Gonse, Mercier, Billot, Oberst du Paty de Clam und den Schriftsachverständigen und Dreyfus-Entlarver Bertillon. Weshalb Zola vom Generalstab verklagt und wegen Diffamierung verurteilt wird. Picquart wird zunächst auf ein Himmelfahrtskommando versetzt, dann doch inhaftiert und ebenfalls vor Gericht gestellt.

Dass Picquart kein komplett makelloser Charakter ist, macht Polański an dessen von Emmanuelle Seigner mit lasziver Lässigkeit grandios gespielten Geliebten Pauline Monnier fest. Auch der Rest des Casts ist handverlesen, mit Grégory Gadebois als schlitzohrigem Major Henry, Hervé Pierre als Geheimdienstgeneral Gonse, Wladimir Yordanoff als Kriegsminister General Mercier, Didier Sandre als Generalstabschef Boisdeffre, Melvil Poupaud als „Werwolf“ Fernand Labori, Rechtsanwalt von Dreyfus, Zola und Picquart, Mathieu Amalric als furchtsamen, rassentheoretische Schädelvermessungen vornehmendem Bertillon und André Marcon als bärbeißigem Émile Zola. Mit dessen Prozess, seinem Exil in London, einem Duell zwischen Picquart und Henry und einem Schussattentat auf Labori ist Polańskis mehr als zweistündige Affäre Dreyfus lange nicht zu Ende …

Das Ende schließlich, kein Spoiler, da nachzulesen, so nicht bekannt, erzählt er beiläufig. Dreyfus, 1906 rehabilitiert und wieder in die Armee eingegliedert, sitzt dem neuen Kriegsminister des Kabinetts von nunmehr Ministerpräsident Clemenceau in dessen pompösem Palais gegenüber – Picquart, ein wenig gelöster als davor, Dreyfus nach wie vor stocksteif, denn der ewige Capitaine will endlich zum Lieutenant-colonel befördert werden. Was Picquart ablehnt. Staatsräson, nicht an kaum verheilten Justizwunden rühren, etc. Kurz streifen die beiden Männer den Fall, der sie in den Geschichtsbüchern für immer verbinden wird. Verbrüderung findet nicht statt, diese zwei werden einander nicht in die Arme fallen. Im Nachspann steht, sie sahen sich danach nie wieder.

www.weltkino.de/filme/intrige

6. 2. 2020

Chroniken der Unterwelt – City of Bones

August 28, 2013 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Jonathan Rhys Meyers als Leinwandbösewicht

Mächtiger Bösewicht: Valentine Morgenstern (Jonathan Rhys Meyers).  Bild: © 2013 Constantin Film Verleih GmbH

Mächtiger Bösewicht: Valentine Morgenstern (Jonathan Rhys Meyers).
Bild: © 2013 Constantin Film Verleih GmbH

Am 29. August startet in den heimischen Kinos die Fantasy-Saga „Chroniken der Unterwelt – City of Bones“, ein Mix aus Action, spektakulären Spezialeffekten und je einer guten Portion Romantik und Humor. Der Film basiert auf dem ersten Buch der gleichnamigen, weltweit erfolgreichen Abenteuerreihe der Bestsellerautorin Cassandra Clare. Erzählt wird die Geschichte von Clary (Lily Collins), die entdeckt, dass sie einer viele Generationen alten Gruppe von Schattenjägern angehört, einem Geheimbund von Halbengel-Kriegern, die dafür kämpfen, unsere Welt vor Dämonen zu bewahren. Nach dem rätselhaften Verschwinden ihrer Mutter schließt sich das Mädchen einer Gruppe von Schattenjägern an, die ihr das New York einer Parallelwelt zeigen – voll mit Dämonen, Zauberern, Werwölfen, Vampiren und anderen tödlichen Kreaturen. Gemeinsam mit den Schattenjägern Jace (Jamie Campbell Bower), Alec (Kevin Zegers) und Isabelle (Jemima West) macht sich Clary auf die Suche nach ihrer Mutter. Außerdem müssen die vier verhindern, dass der finstere Valentine Morgenstern  (Jonathan Rhys Meyers) in den Besitz des mächtigen Kelchs der Engel gelangt … In einer Gastrolle  ist Elyas M’Barek („Türkisch für Anfänger“) zu sehen.

Schriftstellerin Clare begann im Jahr 2003 mit dem Verfassen ihrer Reihe von Young-Adult-Romanen, die auf Anhieb auf den Bestsellerlisten von New York Times, USA Today, Wall Street Journal und Publishers Weekly landeten. „Ich war immer schon ein großer Fan von Fantasy und epischen Geschichten über Gut und Böse“, sagt sie. „Ich wollte eine Coming-of-Age-Geschichte mit einem Mädchen im Mittelpunkt erzählen, weil ich das noch nicht allzu oft gesehen hatte. Und ich beschloss, New York als Kulisse zu wählen, weil ich gerade in die Stadt gezogen war und mich in ihre wunderbare und unglaubliche Geschichte verliebt hatte.“ Vier Jahre später wurde „Chroniken der Unterwelt – City of Bones“ veröffentlicht und entwickelte sich in Windeseile zum weltweiten Verkaufsschlager. In der Folge entstanden fünf weitere Romane der Chroniken der Unterwelt-Saga mit Clary Fray und ihren Schattenjäger-Kameraden sowie drei weitere mehrteilige Serien, die ebenfalls in Clares erdachter Schattenwelt angesiedelt sind: „The Bane Chronicles“, „The Infernal Devices“ und „The Dark Artifices“. Die Bücher wurden in 36 Sprachen übersetzt und haben sich weltweit 22 Millionen Mal verkauft.

In der Chroniken der Unterwelt-Romanserie befindet sich in der uns bekannten Welt noch eine weitere, eine versteckte Welt, die von magischen Wesen bevölkert wird, die sich in einem fortwährenden Kampf zwischen Gut und Böse befinden. Man kennt sie als die Schattenwelt: Sie beinhaltet Geheimnisse, die tausend Jahre zurückreichen in eine Zeit, als die Erde drohte, von Dunkelheit verschlungen zu werden. Zehn Jahrhunderte sind vergangen, seitdem die Pest durch Europa wütete und endlose Heilige Kriege den Nahen Osten in die Knie zwangen. Cassandra Clares sorgfältig geplottete Mythologie besagt, dass hinter diesen Ereignissen dämonische Kräfte stecken, die damals versuchten, die Menschheit zu zerstören und die Weltmacht zu übernehmen. Weil er befürchtete, dass das Böse über das Gute triumphieren könnte, griff der Engel Raziel zu drastischen Maßnahmen. Er vermischte sein Blut in einem geheimnisvollen Kristallkelch mit Menschenblut. Jeder, der von diesem Kelch der Engel trank, wurde Teil einer Rasse von Hybriden, halb Mensch, halb Engel, die man als Nephilim kennt – oder als Schattenjäger. Diese einzigartigen Wesen, ausgestattet mit übernatürlich großen Kräften und magischen Fähigkeiten, beschützen die menschliche Welt seither vor Übergriffen der Dämonen. Die Schlacht wird noch heute in der Schattenwelt ausgetragen, obwohl normale Menschen ihr gesamtes Leben führen, ohne je von deren Existenz zu erfahren.

Jonathan Rhys Meyers spielt Bösewicht Valentine Morgenstern. „Valentine ist kein geifernder Superbösewicht oder unglaublich verwerflicher Strippenzieher“, sagt Produzent Robert Kulzer. „Seine Gefahr geht von seinem Charme aus. Er steht für all das, was die Schattenjäger nicht sein sollten. Und doch hat er alle möglichen Leute dazu gebracht, ihm auf dem Weg in die Finsternis zu folgen.“ Valentines Verbleib bleibt für den größten Teil des Films ein Geheimnis, aber seine finstere Präsenz trägt viel zur Atmosphäre bei. „Die Erwähnung seines Namens reicht aus, um den Leuten kalte Schauer den Rücken herunter laufen zu lassen. „Als Clary herauszufinden versucht, was mit ihrer Mutter geschehen ist, fällt sein Name immer wieder. Damit wird effektiv die Bühne bereitet für den Moment, an dem er wirklich in die Handlung eingreift.“ Cassandra Clare sagt, dass Rhys Meyers’ grüblerische Intelligenz ihn zum idealen Valentine macht. „Ich habe Jonathans Arbeit geliebt, als ich ihn erstmals in „Velvet Goldmine“  (1998) gesehen habe“, erklärt die Schriftstellerin. „Er verleiht Valentine eine Art von bösartiger Vernunft. Obwohl man weiß, dass die Worte, die aus seinem Mund kommen, im Wesentlichen unmoralisch sind, will man doch einer Meinung mit ihm sein. Eine ganze Reihe theoretisch guter Leute werden Teil seines Zirkels. Als ich erstmals online geposted habe, dass Jonathan Rhys Meyers unser Valentine sein würde, erhielt ich viele Antworten, in denen stand: ,Also ich würde Mitglied des Kreises werden, wenn er von ihm angeführt werden würde.’“

Rhys Meyers ist ein intensiver und erfindungsreicher Darsteller und überraschte seine Kollegen während des kompletten Drehs immer wieder. „Nachdem wir die erste Szene mit Valentine gedreht hatten, nahm Jamie Campbell Bower mich beiseite und gestand: ‚Ich habe ein bisschen Angst vor ihm’“, so Kulzer. „Und auch Lily kam zu mir und sagte: ,Er ist super, aber ich habe ein bisschen Angst vor ihm.’ Und ich antwortete ihnen: ‚So soll das ja auch sein!‘“

http://chronikenderunterwelt.de/

http://www.cityofbonesmovie.com/

Trailer: www.youtube.com/watch?v=FzbzWrNQuTw

Wien, 28. 8. 2013