Landestheater NÖ streamt: Gandhi – Der schmale Grat
März 5, 2021 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Große Seele mit kleinen Rissen

Bettina Kerl schlüpft nicht nur in verschiedene Rollen – hier in die des Enkel Arun Gandhi, sie spielt auch die Shrutibox. Bild: Screenshot „Gandhi – Der schmale Grat“
Satyagraha, das lernt man als Erstes, heißt satya – die Wahrheit und ā-graha – das Festhalten daran. Mahatma Gandhi hat diese Wortneuschöpfung erdacht, als Ausdruck seines zivilen Ungehorsams. Liebe, sagte er einmal sinngemäß, sei Wahrheit und Gewaltlosigkeit, die Liebe, die seinen politischen Kampf ausmache, und Satyagraha dabei die Waffe der geistig und moralisch Stärksten. Das mit dem „passiven Widerstand“, den ihm der Westen so gern
anheftet, hörte er gar nicht so gern, hielt er ihn doch für ein Mittel der Schwachen. Bei der berühmten Rede zur Einweihung der Universität Benares 1948 nannte Gandhi sich einen Anarchisten „der anderen Art“. Mahatma, die Große Seele …
Dies alles erfährt man schon in den ersten Minuten der Inszenierung „Gandhi – Der schmale Grat“ des Landestheater Niederösterreich. Regisseurin und Dramaturgin Evy Schubert und Schauspielerin Bettina Kerl haben die Produktion fürs Klassenzimmertheater erdacht und konzipiert, nun wurde das Ganze extra für den Stream von Johannes Hammel neu aufgenommen. Derzeit wird dieser für Schulen inklusive einer Online-Nachbereitung der Theaterpädagogik angeboten www.landestheater.net/de/theatervermittlung, an dieser Stelle schwelt allerdings die Hoffnung, dass der Stream noch einmal für alle freigeschaltet wird – und natürlich die Aufführung bald live zu sehen ist.
Nun könnt‘ man sagen, Bettina Kerl spielt großen Pazifisten und Asketen, wahr ist aber vielmehr: sie performt ihn. Zu Bollywood-Musik und mit Goldmikro malt sie erst die Buchstaben in die Luft G-A-N-D-H-I, bevor sie ein Bild des Anführers der indischen Unabhängigkeitsbewegung zeichnet. Von dessen Zeit als Rechtsanwalt in Südafrika, wo er sich für die Gleichberechtigung der indischen Minderheit einsetzte, bis zur Loslösung Indiens aus der britischen Kolonialherrschaft. Der Salzmarsch (gegen das britische Monopol) darf da nicht fehlen, seine bis an die Grenze zum Sterben durchgehaltenen Hungerstreiks, die er stets dann begann, wenn er eine Idee durchsetzen wollte, sein selbstgewebtes Gewand, der Khadi, ein Zeichen für die Emanzipation der indischen Textilarbeiterinnen.
Bettina Kerl agiert eindringlich, an Gandhi, versteht man schnell, war alles Symbol. Er war ein Meister der Geste, der seine komplexen Botschaften in schlichter Weise unters Volk brachte. Diese Kunst beherrschten in den 1920er-, 1930er-Jahren anderswo die Falschen, und so ist es bis heute geblieben, und wenn Kerl im Namen Gandhis sagt, die Nation müsse lernen Nein zu sagen, dann schlägt man das Buch zur europäischen Zeitgeschichte beschämt zu.
Doch „Gandhi – Der schmale Grat“ verklärt den Bapu, den Vater der Nation, nicht. Schon seine elf Gelübde werden ihr zum Yoga-Matten-Spagat. Eins davon, das der Keuschheit, ist besonders brüchig. Denn nicht nur, dass er seine Ehefrau Kasturba erst gar nicht übers Vorhaben informierte, er ließ sich, um seine Enthaltsamkeit auf die Probe zu stellen, nächtens nackte Mädchen ins Bett legen – aber sich tagsüber mehr und mehr als religiöse Figur feiern. Die Große Seele, sie hatte durchaus Risse. Schließlich kam Gandhis große Niederlage: Die Unabhängigkeit Indiens 1947 als Zweistaatenlösung.

Bettina Kerl mit Goldmikro performt den Gandhi. Bild: © Landestheater Niederösterreich

Bettina Kerl als Gandhi-Attentäter und Hindu-Nationalist Nathuram Godse. Bild: © Landestheater Niederösterreich
Flugs wechselt Bettina Kerl die Position, sie entfernt den Klebestreifen-Schnauzbart, wird zum Attentäter, zum Mörder Nathuram Godse, einem Hindu-Nationalisten. Und wie sie da breitbeinig steht, den Tikala auf der Stirn, frech, ohne Reue, Godses Standpunkte wie eine Strafverteidigerin vertretend, da kann man nur sagen: Verwandlung gelungen. Und wieder dockt die Aufführung am Heute an: Die Teilung des Landes ins hinduistische Indien und ins muslimische Pakistan, erklärt Kerl, ist die größte Flüchtlingsbewegung der Geschichte.
Die einen wollten nach hüben, die anderen nach drüben, eine Million Tote, 20 Millionen Vertriebene, und man muss begreifen, dass niemand seine Heimat aus Jux und Tollerei verlässt. „Niemand flüchtet freiwillig“ schreibt auch UNHCR Österreich, und weist in der aktuellen Statistik 80 Millionen Menschen weltweit als Flüchtlinge aus. Wobei – dies all jenen ins Stammbuch geschrieben, die vor dem Überrannt-Werden Europa warnen – 73 % davon in den Nachbarländern bleiben. Die meisten Flüchtlinge nehmen neben der Nummer eins
Türkei die ärmsten Länder auf: Uganda in Afrika am meisten, der Libanon, Bangladesch, das sich 1971 von Pakistan abspaltete – und weltweit auf Platz zwei: Pakistan selbst. Dies eine kurze Kritik an dieser ansonsten fabelhaften Arbeit, und ohne Schülerinnen und Schüler mit Mountbatten-Plan, Churchill-Intrigen und Clement Attlee strapazieren zu wollen. Doch gehörte die Ursache für die meisten blutigen Konflikte, politische Schieflagen, beides oft wegen willkürlich gezogener Grenzen, schlechte Wirtschaftslagen und damit kaum Aussicht auf Arbeitsplätze – siehe das Unwort: Wirtschaftsflüchtling/Migrant, deutlicher herausgestellt: der Kolonialismus, die Herrschaft des weißen Mannes und seine Ausbeutung von Mensch und Land. Auch zwischen Indien und Pakistan gibt es keinen Frieden. Seit 1948 befehdet man sich wegen Kaschmir.
Einen dritten Charakter stellt Bettina Kerl noch dar: den Gandhi-Enkel Arun. Die Shrutibox spielend erzählt sie als dieser vom verehrten Großvater. Als 12-Jähriger kam er in dessen Haus und blieb zwei Jahre. Zeit genug, um vom Friedensaktivisten die wichtigsten Lektionen zu lernen, davon die erste „Wut ist ein Geschenk“, und da stutzt man kurz. Bevor man sich der flammenden Reden der 18-jährigen Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg – deren indische Mitstreiterin Disha Ravi (21) ein Online-Kontakt mit Greta übrigens gerade erst hinter Gitter brachte -, der 21-jährigen Emma Gonzales, die unter Zornestränen schärfere Waffengesetze in den USA fordert, und nicht zuletzt der pakistanischen Frauenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai (23) entsinnt.
Gandhis Vermächtnis wird fortgeführt. Eine Botschaft, sagt Kerl als Arun, hätte ihm sein Großvater noch mitgegeben, nämlich, dass zu viele Menschen zu viel Zeit darauf verwenden, ihre kleine private Welt zu schützen. „Doch der einzelne überlebt nur, wenn auch der Rest der Welt überlebt.“
- 3. 2021