Jonathan Lethem: Alan, der Glückspilz
Februar 7, 2020 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Tour de Farce durch die Außenseiter-USA
Da gibt es also diesen Ich-Erzähler, Grahame, einen erfolglosen Schauspieler, der den Theaterregisseur seiner Träume, diesen Maestro der Miniatur, siehe seine Inszenierung von Becketts „Krapps letztes Tonband“ in einem Bürohaus-Aufzug vor fünf zusammengepferchten Zuschauern, bei dem er in Anwesenheit von Dianne Wiest vergeblich für die Produktion „One Thousand Avant-Garde Plays“ von Kenneth Koch vorgesprochen hatte, Sigismund Blondy, dessen „Zelig-artige Infiltration der kulturellen Stadtlandschaft“ Grahame zutiefst bewundert, bis zu dessen geheimer Passion, Donnerstagsmatineen in einem Multiplex an der Upper East Side, quer durch New York City verfolgt.
Worauf ihn dieser, einmal entdeckt, nach Strich und Faden der Max-Frisch-Fragebogen auseinandernimmt: Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert? Wie heißt der Politiker, dessen Tod durch Krankheit, Verkehrsunfall usw. Sie mit Hoffnung erfüllen könnte? Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person, und hassen Sie lieber allein oder in einem Kollektiv? – Too much information?
Nicht nach den Maßstäben eines Jonathan Lethem. Der US-Autor, der den Talking Heads sogar in einem ihre Musik analysierenden Buch beschied, die Intelligenzia des Rock’n’Roll zu sein, jenseitig skurril, ironisch distanziert, schauderhaft spaßig und süchtig machend, legt nun mit „Alan, der Glückspilz“ eine Sammlung von Short Stories vor, die all dem und mehr entsprechen. Bis dahin, dass er selbst mit überbordendem Vergnügen sein Universalwissen zwischen zwei Buchdeckel quetscht. Diesmal in Form von neun irrwitzigen, tragikomischen, herzzerreißenden Geschichten, mit denen sich ihr Schöpfer auf das dünne Eis bedrohter Existenzen begibt.
„Alan, der Glückspilz“ ist eine Tour de Farce durch eine USA der Außenseiter. Mit politisch scharfgestelltem Blick und per Speedlogik entfesselter Fantasie – Familienväter in der Sinnkrise müssen sich dem drohenden Kontrollverlust ebenso stellen wie vergessene Comicfiguren auf einer verlassenen Insel – jagt Lethem seine Randgestalten vom Herz Manhattans bis an die Küsten zweier Weltmeere. Das liest sich, als liefe Woody Guthrie, from California to the New York island, from the Redwood Forest to the gulf stream waters, auf überhöhter Drehzahl. Die Überschrift der zweiten Story, „Der König der Sätze“, passt derart auf den Schriftsteller, wie der damit die eigene Zunft veralbert.
Ein Paar von Buchläden-Lovern, zwei Romantischwühler, die sich dem Wort-Orgasmus hingeben – „Ein gutgebauter, stattlicher Satz konnte Clea derart erregen, dass sie sofort zum Höhepunkt kam“ -, planen einen Überfall auf ihren Lieblingsautor. Dessen Devotionalien sammeln sie seit Jahren, makellose Erstauflagen, zerfledderte Leseexemplare, frühe Taschenbuchausgaben mit prosaischem Klappentext und schlüpfriger Umschlaggestaltung. Längst ist dem Leser klar, dass es sich um einen abgehalfterten Verfasser von Groschenromanen handeln muss, als die beiden das Subjekt ihrer obskuren Begierde in Hastings-on-Hudson aufstöbern. Das Ende: desillusioniert, desaströs, ein bissl Georg Danzers „Jö schau“.
Für jede seiner Stories erfindet Lethem eine eigene hochmusikalische Sprache. „Reisender zu Hause“ hat was surreal-Hanns-Dieter-Hüsch’sches: „Reisender allein. Reisender schmachtet. Reisender erwacht, hat geträumt anscheinend. Fahrkarten verloren. Automatenkaffee. Zahnbürste unaufgefunden. Schnee weht. Schuh fehlt. Wecker außer sich. Terrier muss ohnehin dekantieren …“ Einmal erscheinen wie im Märchen sieben Wölfe und bringen ein Baby im Korb – an die falsche Adresse. „Verfahren unter freiem Himmel“ ist eine kafkaesk grausame Geschichte über ein Regime, das Delinquenten bis zum Sterben in schmalen Erdlöchern stehen lässt. Indem Protagonist Stevick bei strömendem Regen einen dieser Politgefangenen mit einem Schirm beschützt, macht er sich zum „fixen Mitarbeiter“ des Systems.

Bild: pixabay.com

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In exzentrischer Hochform ist Lethem beim Flugzeugabsturz im karibischen Nirgendwo in „Die Schattenseiten“, nach dem die Passagiere Theaterkritiker C. Phelps Northrup, Clown Large Silly, Peter Rabbit, King Phnudge, Monster C’Krrrarn und der Dingbat-Clan das Inselinnere „annektifizieren“. Es dauert etliche auf Tagebucheintragungen und Register verwendete Zeilen, bis man die illustre, der strikten Ordnung von Panels verpflichtete, zufrieden Sprechblasen mampfende, gleich einem Alfred-Kubin-Albtraum schwarzweiße Gesellschaft – nicht zuletzt durch den „Hinweis a. d. Zeichner“ – als ausrangierte Comicfiguren entlarvt hat. Jeder der „Mitwirkipizierenden“ einstmals limitiert, leinengebunden, von Fans für die vermeintliche Ewigkeit in Plastikfolie geschweißt. Und nun das? Wie (un-)menschlich!
Wie in seinen gefeierten Bestsellern lauert bei Lethem das Unheimliche im Banalen, der schleichende Verlust des Selbst tröpfelt durch die nicht immer hehren Zielsetzungen seiner Antihelden, bis man sie bis auf die Knochen auswringen kann. Ob geheimnisvolle/r BloggerIn, ob Familienvater, der sich den Mitschunkelmodus der Sea-World-Shows mittels Antidepressiva erträglich dröhnt, persönlicher Favorit unter all diesen ist „Der Porno-Kritiker“ Kromer, der privat zwischen der tränensäckigen Greta, der schönen Renée und der unsichtbaren Luna wechselt, als selbsternannter Heiliger der Verkommenheit und „Konzeptueller Lesbier“ gern auch in Dreierkombi – wobei er „Abspritzer und Auspeitschungen“ tabellarisiert. Bis er der „geborenen Verderberin und Verführerin, all dessen schuldig, was man Kromer je angedichtet hatte“, verfällt, und zu seinem Portfolio „Prostitution“ beifügen muss.
Man kann’s nicht anders formulieren: Jonathan Lethem unterhält auf hohem wie untiefem Niveau. Der einzige Vorwurf, der seinen literarischen Verwirrspielen zu machen ist: dass jede dieser virtuosen Fingerübungen einen ganzen Roman wert gewesen wäre, doch das schließlich das Kennzeichen guter Kurzgeschichten. Ach ja, „Alan, der Glückliche“. Ist ein Nachbar, den Sigismund Blondy gelegentlich am koreanischen Spätkiosk trifft, wie er Grahame erzählt. Klein, muskulös, mit vor Argwohn funkelnden Augen, die Sakkos stets mit Schuppen feenbestäubt, Raucher-Manierismen Marke Bogart, wie er Grahame schildert. Doch plötzlich ist Alan gestorben. An einem inoperablen Gehirntumor, erst kürzlich entdeckt, wie Blondy Grahame weismacht – der Theatermacher ein Lethem-Alter-Ego, der „Menschen-Material“ für seine Projekte sammelt?
„Wieder verspürte ich die paranoide Gewissheit, dass Sigismund Blondy mich, indem er mir seine Geschichte erzählte, für eine theatrale Fantasie in Dienst genommen hatte – für eine Rolle auserkoren -, zur Freude eines unbekannten Publikums, das vielleicht nur aus ihm selbst bestand. Die ganze Episode war reine Konfabulation.“
Über den Autor: Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, ist Autor zahlreicher Romane, darunter „Motherless Brooklyn“, „Die Festung der Einsamkeit“, „Der Garten der Dissidenten“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=11281) oder zuletzt „Der wilde Detektiv“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=32089). Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, unter anderem den National Book Critics Award, den Gold Dagger und das MacArthur Fellowship. Lethem hat am Pomona College in Südkalifornien die Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Kalifornien.
Tropen, Jonathan Lethem: „Alan, der Glückspilz“, Stories, 172 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Johann Christoph Maass.
www.tropen.de jonathanlethem.com
- 2. 2020