VON MICHAELA MOTTINGER
Sozialtragikomödie von und mit obdachlosen Frauen

Fantastische Schauspielerinnen in einer fabehaften Story: Die Darstellerinnen in „Der Glanz der Unsichtbaren“ kennen ihre Figuren aus eigener Erfahrung. Bild: © 2019 Panda Film
Die persönlich liebste ist Chantal, Adolpha Van Meerhaeghe, seit „Vivement dimanche“ auf dem Weg zum Filmprofi, und nun in „Der Glanz der Unsichtbaren“, der heute in den Kinos anläuft, bezaubernd bärbeißig, hinreißend herrisch – und dermaßen alltagsphiloso- phisch, dass mitunter eine Betreuerin die Nerven schmeißt.
„Ich kann Dinge reparieren“, definiert sie sich stolz, und das tut sie, von den Playstations bis zu den Mopeds der Jungs aus dem Fußballverein, als dessen – nach ihren eigenen Regeln pfeifende – Schiedsrichterin sie fungiert. Doch nicht nur weil Chantal eine Frau jenseits der Fünfzig ist, hat sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Aussichten. Sie lebt auf der Straße, ist tagtäglich unterwegs mit ihrem gesamten Hab und Gut, davor war sie viele Jahre im Gefängnis, hat ihren Ehemann erschossen, als sie genug von seinen Schlägen hatte. Auf ihre Zeit in Haft weist sie hin. Mit großer Würde und zu Herzen gehender, geradezu offensiver Aufrichtigkeit. Bei jedem mühsam für sie arrangierten Bewerbungsgespräch. Chantal hat nämlich nichts zu verheimlichen …
In „Der Glanz der Unsichtbaren“ erzählt Regisseur und Drehbuchautor Louis-Julien Petit von obdachlosen Frauen. Auch in Österreichs Städten nimmt ihre Zahl ständig zu, nach Schätzungen sind derzeit 25 Prozent aller Obdachlosen hierzulande weiblich. Unsichtbar sind sie nicht nur, weil sie sich aus Angst vor Gewalt unauffälliger und versteckter verhalten als Männer, sondern sie sind es vor allem für die Augen einer Gesellschaft, der nichts leichter fällt als wegzuschauen. In Petits Geschichte sind die Protagonistinnen Klientinnen und Sozialarbeiterinnen einer Tagesstätte in einer nordfranzösischen Stadt. L’Envol verströmt zwar die schäbige Grazie einer heruntergekommenen Fabriksanlage, besonders zu der vergleichsweisen Nobelherberge, die die Gemeinde in einem anderen Bezirk neu eingerichtet hat.
Doch L’Envol ist Zuflucht, Heimat, Schutz, Freundschaft jenseits aller Fragen nach Herkunft und Hautfarbe, und der Zutritt für Männer – man hat in anderen Einrichtungen einschlägige Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht machen müssen – ausnahmslos verboten. Ist ein miteinander Auf-Augenhöhe-Sein statt stur-steril-prinzipienreiterisch stadtverwaltet zu werden. So beginnt dieser stark dokumentarisch geprägte Spielfilm, zu dem Autorin Claire Lajeunie mit ihrem Buch „Sur La Route Des Invisibles, Femmes Dans La Rue“ die faktische Grundlage zur Fiktion geschaffen hat: Dutzende Frauen stehen mit Sack und Pack vor dem noch versperrten Schiebetor, denn nachts ist L’Envol geschlossen, bittere Szenen werden das später sein, wenn die Frauen sich bei Einbruch der Dunkelheit einen Schlafplatz suchen müssen, dann öffnet – hart, aber herzlich – Angélique.

Patricia Mouchon, Assia Menmadala als Dalida, Marie-Thérèse Boloke Kanda und Sarah Suco. Bild: © 2019 Panda Film

Lady Di findet im Mistplatz-Chef einen Verehrer: Marianne Garcia mit Noémie Lvovsky als Hélène. Bild: © 2019 Panda Film

Köchin Marie-Josée Nat will nicht nur Gemüse putzen: Khoukha Boukherbache mit Noémie Lvovsky. Bild: © 2019 Panda Film

Hart, aber herzlich: Frankreichs Shootingstar Déborah Lukumuena als Angélique. Bild: © 2019 Panda Film

Die Sozialarbeiterinnen: Audrey Lamy, Noémie Lvovsky und Corinne Masiero. Bild: © 2019 Panda Film

Großartig: Adolpha Van Meerhaeghe als Chantal und Laetitia Grigy als Monique. Bild: © 2019 Panda Film
Man holt sich Zahnbürste, Shampoo, eine Nagelschere. Fünfzehn Minuten fürs Duschen stehen Lady Di, Edith Piaf, Salma Hayek, Simone Veil, Brigitte Macron, wie sich die Frauen eben nennen, zu. Diese glamourösen, titelgebenden Pseudonyme sind nicht nur betreffs der aktuellen Première dame des empathie-unbegabten Emmanuel so gesellschaftssatirisch und selbstironisch wie der ganze Film. Louis-Julien Petit gelingt die sehr französische Kunst aus schwerem Stoff eine Sozialtragikomödie zu schneidern, im Tonfall ähnlich „Alles außer gewöhnlich“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=37098), die Authentizität gegeben, da die Rollen der obdachlosen Frauen mit nichtprofessionellen Schauspielerinnen besetzt sind, die Wohnungslosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, auch hier die Anlaufstelle wegen Überengagement der Betreuerinnen und ergo Unrentabilität von der Auflösung bedroht.
„Der Glanz der Unsichtbaren“ ist ein Rêves-deviennent-réalité-Märchen über Selbstermächtigung. Nächstes Bild, Teambesprechung. Die Schauspielstars Audrey Lamy, Corinne Masiero, Noémie Lvovsky als idealistische Audrey, realistische Manu und „Desperate Housewife“ Hélène, ein Spitzname den Frankreichs Shootingstar Déborah Lukumuena als Angélique der Ehrenamtlichen wegen deren seitenspringendem Ehemann verpasst hat.Geredet wird von Hamsterrad, Händen, die von der Bürokratie gebunden sind, Helfersyndrom, immer wieder Improvisieren-Müssen. Et voilà, ein Plan ist gereift und wird zur Umsetzung gebracht: Hilfe zur Selbsthilfe unter dem Radar staatlicher Fürsorge! In Workshops sollen die, die einen Beruf erlernt haben, ihr Wissen weitergeben.
Derart sattelfest gemacht, werden sich die Frauen in einer gemeinsam organisierten Jobbörse, einem Tag der offenen Tür, potenziellen Arbeitgebern präsentieren. Und siehe, dieses No-Na die zu ziehende Lehre des Films, die Obdachlosen sind Persönlichkeiten, komplexe Charaktere mit Mutterwitz und zuweil exzentrischem Charme und einem Potenzial, dessen Vergeudung durch Nicht-Zurkenntnisnahme sich die Politik nicht leisten kann. Verkörpert von grandiosen Darstellerinnen, an denen sich die Kamera kaum sattsehen kann. Die Kameramänner David Chambille und Christophe Chauvin verstehen es, die Spuren eines harten Daseins auf den Gesichtern in eine subtile Schönheit zu verwandeln, man entdeckt Geheimnisse wie auf den zweiten Blick, wenn Petit ins große Ganze warmherzig einzelne Biografien verwebt.

Les sœurs le font pour elles-mêmes: Ein Ende mit Selbstbewusstsein, Smileys, Annie Lennox und Aretha Franklin. Bild: © 2019 Panda Film
Episoden aus Lebensverhältnissen, die von Missbrauch und Misshandlung bestimmt waren, Alkohol, Drogen, Antidepressiva, Sex für einen Schlafplatz, Schlepper, Immigration mittels gefälschter Pässe, eine Schroffheit, die Sozialamts- mitarbeiter vor den Kopf stößt. Verzweiflung auf beiden Seiten der Schreibtische.
Dazu Aufnahmen von Sitzbänken mit Zwischenstützen, wie es sie auch in Wien gibt, um Obdachlose am Hinlegen zu hindern, Schaufensterportale mit Taubenspikes – gegen die „Plage“. Ein Zeltlager, in dem viele Frauen die Nacht verbringen, wird wegen Besetzung eines öffentlichen Grundstücks behördlich geräumt. Eskalation, Polizei im Anmarsch, eine schreit: „Das ist mein Zuhause!“, da sind die Bagger schon drübergerollt … Berührend das folgende Bild, in dem sich die Frauen nach Fotos von einem besseren Früher für ihren Neuanfang stylen, Lippenstift wird aufgetragen, und Mascara, Tränen fließen.
Petit setzt auch Pointen. Assia Menmadala, die als ehemalige Domina Dalida mit den anderen deren Auftritt trainiert, Laetitia Grigy, die als Monique an ihrem Verkaufstalent als angehende Immobilienmaklerin feilt, Khoukha Boukherbache, die als gelernte Köchin Marie-Josée Nat mehr will, als nur Gemüse putzen, die wegen psychischer Probleme auf der Straße gestrandete Psychoanalytikerin Catherine, Marie-Christine Orry, die freudig freudianische Coachingsitzungen hält, Chantal, die mit einem ausrangierten Toaster in die Elektrotechnik einführt. Dieser und andere Gegenstände zur Behübschung vom L’Envol dem Chef des Mistplatzes abgeluchst.
Fatsah Bouyahmed, der sich als Esteban in Lady Di, Marianne Garcia, verliebt und um sie freit, bis sie sich zwar perplex, aber doch dem zweiten Frühling hingibt. Fatsah Bouyahmed dabei nur einer der fabelhaften Männer im Cast, neben Pablo Pauly als Audreys hypersensibler Bruder Dimitri und Quentin Faure als Audreys Quasi-Lover und Baustellenleiter Laurent, der ihre Sache mit einer ziemlich holprigen Liebeserklärung per Blanko-Empfeh- lungsschreiben unterstützt … ein Happy End? Gibt es! Eines zwischen viel Lachen und ein wenig Weinen. Ein selbstbewusstes, siegessicheres Stolzieren auf einem Catwalk. Mit Smileys. Vater Staat hat damit nichts zu tun. Annie Lennox & Aretha Franklin singen „Sisters Are Doin‘ It for Themselves“. Les sœurs le font pour elles-mêmes.
der-glanz-der-unsichtbaren.de
- 2. 2020