Leopold Museum: Alberto Giacometti
Oktober 17, 2014 in Ausstellung
VON RUDOLF MOTTINGER
Der Pionier der Moderne im neuen Licht:
Gesamtschau und Weggefährten von Picasso bis Pollock
![Gordon Parks | Kansas 1912–2006 New York: Ohne Titel [Alberto Giacometti] | Paris, Frankreich, 1951, Silbergelatineabzug The Gordon Parks Foundation | © Bild; Courtesy of The Gordon Parks Foundation © Alberto Giacometti Estate/Bildrecht, Wien 2014](https://i1.wp.com/www.mottingers-meinung.at/wp-content/uploads/2014/10/2590.jpg?resize=398%2C400)
Gordon Parks | Kansas 1912–2006 New York: Ohne Titel [Alberto Giacometti] | Paris, Frankreich, 1951, Silbergelatineabzug
The Gordon Parks Foundation | © Bild; Courtesy of The Gordon Parks Foundation © Alberto Giacometti Estate/Bildrecht, Wien 2014
Die Werke des Schweizers (geb. 1901 in Borgonovo bei Stampa, gest. 1966 in Chur) erzielen heute Rekordpreise auf dem internationalen Kunstmarkt. Seine Skulptur „L’homme qui marche I“ (Schreitender I) wurde 2010 bei Sotheby’s für etwa 104 Millionen Dollar (74 Millionen Euro) verkauft und hält damit bis heute den weltweiten Rekord für Skulpturen. Jüngst wurde bekannt, dass Sotheby’s für eine bevorstehende Auktion Giacomettis „Chariot“ anbietet. Der Schätzwert des „Wagens“ beträgt rund 100 Millionen Dollar (80 Millionen Euro), ein weiterer Rekord scheint in Reichweite. Von dieser Skulptur wurden insgesamt sechs Stück produziert. Nummer 2 wird am 4. November in London versteigert, Nummer 3 ist ab sofort im Leopold Museum zu sehen.
Die Giacometti-Ausstellung im Leopold Museum bietet einen umfassenden Blick auf das beeindruckende Oeuvre des Künstlers. Insgesamt sind 36 Skulpturen und 50 Zeichnungen, Gemälde und Lithografien Giacomettis in Wien zu sehen. m Jahr 1964 besuchte Alberto Giacometti gemeinsam mit Francis Bacon die von Wolfgang Georg Fischer in der Marlborough Fine Art Galerie organisierte Schiele-Ausstellung, die erste in Großbritannien. Fischer erinnert sich, dass damals der Name Schieles in Großbritannien so unbekannt war, wie jener von William Blake in Österreich. In seinem Tagebuch notierte Fischer: „An den Schiele-Ölbildern (Die Eremiten, Selbstseher, Selbstporträt von 1910, Liegender Akt von 1917) [die heute Teil der Sammlung des Leopold Museum sind] gehen Francis und Giacometti flüchtig vorbei. Vor dem Späten Herbstbaum, 1912, stockt Giacometti und sagt: „Das ist außerordentlich!““ Der komplette Eintrag zu dieser Episode aus Fischers bisher nicht publiziertem Tagebuch wird im aktuellen Ausstellungskatalog erstmals veröffentlicht.
Zum Künstler:
Der aus der italienischsprachigen Schweiz stammende Alberto Giacometti war schon früh von künstlerischem Wirken umgeben. Sein Vater Giovanni Giacometti (1868-1933) war ein von postimpressionistischen Einflüssen geprägter Künstler. Der Maler Cuno Amiet (1868-1961) war ein enger Freund seines Vaters Giovanni und Albertos Taufpate. Sowohl von Giovanni Giacometti als auch von Amiet sind Werke in der Ausstellung zu sehen. 1919 begann Alberto Giacometti mit dem Studium in Genf. 1922 ging er nach Paris, wo er fortan lebte. Er studierte bei Antoine Bourdelle (1861-1929) an der vor allem von nicht französischen Staatsbürgern gerne frequentierten Académie de la Grande Chaumière. Bourdelle verschaffte seinem Studenten 1925 die Gelegenheit, im berühmten Salon des Tuileries auszustellen, wo Giacometti zum ersten Mal seine kubistischen Figuren präsentierte. Ab Mitte der 1920er-Jahre stand Giacometti ganz im Banne des Kubismus. In seinen Skulpturen setzte sich Giacometti mit dem Volumen auseinander und zerlegte die Masse, um sie in festen und mechanischen Strukturen wieder zusammenzusetzen. Giacometti zeigte sich wie viele Künstler jener Zeit fasziniert von der Kraft und Abstraktionsgabe der Kunst antiker und außereuropäischer Kulturen. Eine wichtige Anregung lieferten Werke der Kultur der Kykladen und der Kunst Afrikas. Besonders beeindruckt war Giacometti von den Skulpturen Constantin Brâncusis (1876-1957), von dem ein Werk in der Ausstellung zu sehen ist. Ende 1929 kam für Giacometti der große Erfolg. Seine Arbeiten wurden in der Galerie Jeanne Bucher ausgestellt und wichtige Sammler erwarben sie umgehend. Man erkannte ihn als vielversprechenden Künstler. Giacometti hält fest: „Einige sagten, sie hätten seit Jahren nichts gesehen, was sie so beeindruckt hätte wie meine Skulpturen, und nun habe ich in Paris einen Stellenwert.“ 1932 schloss sich Alberto Giacometti formell dem Kreis der Surrealisten um den Dichter, Schriftsteller und Theoretiker André Breton (1896-1966) an. Er traf u.a. auf Joan Miró (1893-1983), Max Ernst (1891-1976), Pablo Picasso (1881-1973), René Magritte (1898-1967). Die Ausstellung stellt Giacomettis surrealistische Werke den zeitgleich entstandenen Werken von Künstlerfreunden und Bekannten gegenüber. Freundschaften pflegte Giacometti u. a. auch mit André Derain und Balthus (1908-2001). Von all diesen Künstlern sind herausragende Werke in der Ausstellung zu sehen.
Die Tatsache, dass Giacometti wieder verstärkt realistisch zu arbeiten begann und dadurch von der strengen Dogmatik Bretons abwich, führte 1935 zu einem Ausschluss aus der Breton-Gruppe. Eine zwölf Jahre andauernde künstlerische Krise war die Folge. In den späten 1930er Jahren und in den Kriegsjahren, die er zum großen Teil in die Schweiz verbrachte, radikalisierten sich die Proportionen seiner Arbeiten, er schuf vorerst Skulpturen in Miniaturformat. Ab den 1940er-Jahren entstand Giacomettis unverwechselbare Ausdrucksweise seiner reifen Phase, die zwar das gegenständliche Abbild der menschlichen Figur wieder ins Zentrum rückte, aber ganz eigene Wege beschritt, etwa durch auffällige Veränderungen der Größenverhältnisse und Proportionen. In dieser Phase entwickelte Giacometti den unverwechselbaren Stil seiner späten Jahre. Die Figuren seiner reifen und späten Phase sind durch extrem in die Länge gezogene Proportionen und durch eine unruhige Oberfläche gekennzeichnet. Sie entziehen sich einer konkret-sinnlichen Erfassung und wirken auf den Betrachter wie entmaterialisierte, metaphysische Erscheinungen, die einen besonderen Bezug zum Raum aufweisen. Mit zunehmender internationaler Bekanntheit durch Ausstellungsprojekte in London und in den USA wurden Giacomettis Arbeiten auch mit bedeutenden Vertretern der Moderne nach 1945 in Zusammenhang gebracht. Besonders hervorzuheben sind hier der dem Gegenständlichen verpflichtete Francis Bacon (1909-1992), die abstrakten Expressionisten Jackson Pollock (1912-1956) und Mark Tobey (1890-1976) oder Cy Twombly (1928-2011).
In den beiden großen Sälen am Beginn der Ausstellung wird der gleichsam sakrale Charakter dieser späten Figuren Giacomettis besonders hervorgehoben. Die hieratischen Statuen scheinen aus ihrem Inneren heraus zu leuchten. Die ewige Größe des von Menschenhand geformten Abbildes wird spürbar. Der starken räumlichen Wirkung der Skulpturen Giacomettis wird in der Ausstellung durch eine spezielle Aufstellung und Inszenierung besonders Rechnung getragen. Die Farbgebung, der rohe Boden und die großen Lampen evozieren die Atmosphäre einer Gusshalle. Die weißen Umrisse der Figuren verweisen auf den Arbeitsprozess, die Gipse und Gussformen, die zum finalen Ergebnis der Bronzeskulpturen führen. Eine Auswahl herausragender Fotografien ermöglicht in der Ausstellung auch eine visuelle Annäherung an die Person Alberto Giacomettis. Die Aufnahmen stammen durchwegs von bedeutenden Fotografen, u.a. von René Burri (geb. 1933), Henri Cartier Bresson (1908-2004), Robert Doisneau (1912-1994), oder Man Ray (1890-1976). Auch herausragende österreichische Fotografen haben Alberto Giacometti fotografiert, nämlich Franz Hubmann (1914-2007) und Inge Morath (1923-2002).
Wien, 17. 10. 2014