Seefestspiele Mörbisch: Der König und ich

Juli 27, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Et cetera, et cetera, et cetera …

Mehr als 100 Mitwirkende: Das Ensemble mit Leah Delos Santos, Milica Jovanovic, Finn Kossdorff, Vincent Bueno und Marides Lazo. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

„In a show with everything but Yul Brynner“ landete Murray Head 1984 in seinem von Björn Ulvaeus und Benny Andersson (apropos: INFO) geschriebenen Song „One Night in Bangkok“. Nun, bei den diesjährigen Seefestspielen Mörbisch hat man mehr als würdigen Ersatz für den berühmtesten Glatzkopf der Welt gefunden: den aus Amsterdam stammenden Musicalstar Kok-Hwa Lie, der die Rolle des Mongkut bereits mehr als hundert Mal verkörperte – unter

anderem im London Palladium, wo er Generalmusikintendant Alfons Haider prophezeite, selbst einmal den König von Siam zu spielen, was tatsächlich ab 1998 der Fall war. Zusammengefasst heißt das: „Der König und ich“ 2022 bei den Seefestspielen Mörbisch, wo zusammenkommt, was zusammengehört. Die Aufführung, die geboten wird, ist wahrlich eine der Superlative: Mehr als hundert Mitwirkende aus zwanzig Nationen, der opulent glitzernde 28-Meter-Turm von Walter Vogelweider, der den königlichen Palast krönt, bis dato das höchste Bühnenbild in Mörbisch, 200 neu geschneiderte Kostüme von Charles Quiggin und Aleš Valaṧek, darunter Anna’s mehr als zwei Meter breites Ballkleid mit vergoldeten Orchideen. Ein Monumentalmusical in Cinemaskop! Eine Symphonie in Purpur, Rot und Gold.

Und immer wieder hinreißende Wasserspiele statt des obligatorischen Feuerwerks, dass die einzigartige Seewinkel-Fauna ohnedies nur verschreckt haben kann … Ja, Simon Eichenbergers Inszenierung bleibt vom ersten bis zum letzten Takt (musikalische Leitung: Michael Schnack) auf höchstem Niveau unterhaltsam. Dass man derlei auch anders interpretieren könnte, die toxische Männlichkeit Mongkuts, die kolonialistisch-überheblichen Briten, schließlich das Schicksal des Liebespaares Tuptim und Lun Tha hat man andernorts schon zeitkritischer gesehen (letzteres von Auspeitschung Tuptims bis Hinrichtung Lun Thas selbst bei weiland König Alfons) – doch passt das offenbar nicht zur lauen pannonischen Sommernacht.

Was also? Beruhend auf einer wahren Begebenheit schickt das Werk aus der goldenen Ära des Musicals von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II die Engländerin Anna Leonowens nach Siam, um den zahlreichen Kindern des Königs sowie seinen ebenso zahlreichen Frauen die westliche Lebensart beizubringen. Freundschaft, aber auch Hürden tun sich zwischen Anna und dem König auf: Von Kok-Hwa Lie keineswegs unsympathisch, sondern in seinem Eitler-Pfau-Sein durchaus satirisch dargestellt, changiert dieser König fast kindisch rechthaberisch zwischen alter Tradition und neuen Sichtweisen. Er ringt mit sich für ein modernes Siam – Hauptsache: „wissenschaftlich“.

Milica Jovanovic zeigt Anna als resolute, romantische Britin, die sich auf die schier aussichtslose Mission begibt, zumindest die Grundwerte von Demokratie und einen Hauch von Gleichberechtigung am Königshof zu etablieren. Sich vor dem König zu Boden zu werfen, danach steht ihr nicht der Sinn, sie hat keine Angst vor dem Despoten, ist ihr doch klar, dass sich hinter seiner herrischen Art auch die Hilflosigkeit angesichts eines sich verändernden Weltbilds verbirgt.

Der stolze König von Siam: Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Marides Lazo und Robin Yujoong Kim, hi.: Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Bereiten den Ball vor: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Schnell gewinnt die verwitwete Lehrerin ihre Schüler lieb, was sie in einer deutschen Version von „Getting to Know You“ mit musicalheller Stimme besingt. Ihr Repertoire sowie ihr komödiantisches Talent kann Jovanovic ebenso zeigen, wenn sie ihrer Wut über den chauvinistischen König in „Shall I Tell You What I Think of You?“ freien Lauf lässt. Ein Temperamentsausbruch der Extraklasse. Worauf eine der schönsten Melodien des Musicals ertönt, „Something Wonderful“, interpretiert von der stimmstarken Leah Delos Santos als Hauptfrau Lady Thiang, die Anna weibliche Schläue im männlichen Absolutismus lehrt, nämlich den König zu belehren, indem aus einem Rat ein „Ich rate, was Eure Majestät planen“ wird. Emanzipierter Beschützerinneninstinkt par excellence.

Das eigentliche Liebespaar, die dem König vom Nachbarn Burma geschenkte Tuptim sowie deren Überbringer Prinz Lun Tha, besticht zwischen den Massenszenen rund um die königlichen Kinder (Rosemarie Nagl, Hana Amelie Hrdlicka, Lilya Aurora Gasoy, Liam Kiano Therrien, Ciannyn Therrien, Lennyn Therrien, Tamaki Uchida, Yukio Mori, Dina Le, Nio Le, Yimo Ding, Daniel Avutov, Maximilian Chen, David Chen und Ivan Ramon Jacques) mit schmerzhaft intimen Momenten: Marides Lazo und Robin Yujoong Kim reüssieren bei „We Kiss in a Shadow“ und „I Have Dreamed“ vom Feinsten.

Vor allem Kim, dem mit seinem fülligen Tenor wie bereits 2019 am Neusiedler See als Sou Chong deutlich anzuhören ist, dass er ansonsten in Opernhäusern von Zürich, Dresden, der Dänischen Nationaloper bis zur Carnegie Hall mit Partien von Don Ottavio, Tamino, Ruggero bis Maler in „Lulu“ zu Hause ist. Der König nimmt Annas Unterstützung im Umgang mit der britischen Diplomatie (Dominic Hees als Sir Edward Ramsey) schließlich an, will er sich doch der in den Zeitungen des United Kingdom verbreiteten Behauptung widersetzen, er sei ein Barbar.

Die könglichen Frauen und Kinder mit Vincent Bueno und Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Erste Unterrichtsstunde: Milica Jovanovic und die königlichen Kinder. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Yuko Mitani, Gemma Nha, Ayane Ishakawa und die hinreißende Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Kein Kopf höher als der des Königs: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Auch an dieser Stelle bleibt der Mörbischer „Der König und ich“ weit entfernt von einer Aufarbeitung komplexer weltpolitischer Beziehungen. Ein Spiel, das mit einer auf dem Boden liegenden Anna endet, weil deren Kopf sich nicht über den des Königs erheben darf, fußt auf der Annahme einer dem Kulturen-Clash immanenten Komik. Eben alles im Geiste von original 1951. Regisseur Eichenberger setzt auf Frohsinn und leichten Humor. „Et cetera, et cetera, et cetera …“ wiederholt der König das erste neugelernte Wort bei jeder Gelegenheit. Annas europäisch „geschwollener“ Rock bringt seine Frauen zu dem Schluss, dieser entspreche ihrer Figur.

„Western People Funny“ intonieren Leah Delos Santos sowie die Nebenfrauen Hanae Mori, Aloysia Astari, Ayane Ishikawa, Jadelene Arvie Panésa, Kun Jing, Angelika Studensky, Xiting Shan, Yuko Mitani, Gemma Nha und Minori Therrien beim Anprobieren der Knopfstiefelchen – und wer die Namen der Mütter mit denen der Kindern vergleicht: Alfons Haider ist besonders stolz darauf, solche in echt gecastet zu haben. (Was einen ebenso für den Generalmusikintendanten einnimmt, wie die Tatsache, dass er statt zu Beginn lange Reden zu schwingen, in der Pause lieber alle RollstuhlfahrerInnen in der ersten Reihe nacheinander persönlich begrüßt.)

„Shall We Dance?“, die große Nummer im ausladenden Ballkleid, führt zu einem durchwachsenen Happy End, denn es wird Vincent Bueno als Kronprinz Chulalongkorn überlassen sein, das Reich an neue Herausforderungen anzupassen. Es freut einen, den so überaus begabten Songcontest-Teilnehmer 2021 nach www.mottingers-meinung.at/?p=21953 www.mottingers-meinung.at/?p=29226 www.mottingers-meinung.at/?p=22489 (und als Thuy in „Miss Saigon“ im Raimund Theater) erneut auf der Bühne zu sehen. Ein Bravo auch für Bariton Jubin Amiri, der sein Sologesangsstudium an der MUK just dieses Jahr abschloss, als Minister Kralahome und Musical-Quereinsteiger Lukas Plöchl als Priester Lun Phra Alack.

Fazit: Wie auch der Protagonist im Jahr eins mit Alfons Haider zeigen sich die Seefestspiele Mörbisch reformwillig. Die Regie hat für die erwartete beschwingte Hochstimmung gesorgt (wer sich erinnert: 1998 war man angesichts von Tod und Todschlag eher betroppezt vom Stockerauer Rathausplatz geschlichen), die Ausstattung und auch Choreograf Alonso Barras konnten sich nach Herzenslust austoben. Der Wow-Effekt war gelungen. Dass man heutzutage die Diversität von Kulturen anders, heißt: auch ohne gehobenen Zeigefinger, postulieren könnte … naja. Anno 2023 ist man diesbezüglich immerhin auf der sicheren Seite. Mekka des Musicals: Wir kommen! Und das darf man durchaus wunderbar finden …

Besucht wurde die Vorpremiere am 12. 7. 2022.

Alfons Haider als der König von Siam 1998. Bild: Screenshot ORF „Der König und ich – 2022 Mörbisch – The making of“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=qNuLZYXvp94          The Making Of: www.youtube.com/watch?v=vwKHHlvwlQc&t=4s          www.seefestspiele-moerbisch.at

INFO: Für den Sommer 2023 plant Generalmusikintendant Alfons Haider die Aufführung des ABBA-Musicals „Mamma Mia!“ – von 13.Juli bis 19. August. Kartenvorverkauf ab 1. September 2022, Vorreservierungen sind per E-Mail unter tickets@seefestspiele.at möglich.

13. 7. 2022

Schauspielhaus Wien: Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)

November 10, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Hinterlassenschaft ist auch ein Wort für Scheiße

Sophia Löffler und der Chor. Bild: © Matthias Heschl

Thomas Köck ist wieder zu Hause. Künstlerisch zumindest ist das im Schauspielhaus Wien, wo die Diskurstexte des oberösterreichischen Dramatikers aufs perfekteste für die Bühne umgesetzt werden. Diesmal hat Köck erstmals selbst Hand an sein Stück gelegt, gemeinsam mit Elsa-Sophie Jach zeichnet er auch für die Regie von „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ verantwortlich, das am Donnerstagabend in der Porzellangasse zur Uraufführung gebracht wurde.

Köck, ein Meister im Verfassen von poetisch-bedeutungsvoll raunenden Satzkaskaden, befasst sich diesmal mit dem Komplex Schulden/Erben. Ein überreifes Feld, um seine liebsten Problematiken zu beackern, und so mäandern des Autors Gedanken auch diesmal von Weltpolitik zu Weltfinanzkrise zu Weltklimakatastrophe und anderen De-facto-Pleiten wie Donald Trump. Heißt zu dem, was eine gewesene und eine jetzige Generation der zukünftigen mit ins Leben geben werden, eine Hinterlassenschaft aus Miseren und Konflikten, all die Scheiße also, die diese aber nicht länger hin- und annehmen will.

„kann aber nicht sein dass wir uns die hände nicht / schmutzig machen wollen es / wird nicht ohne hässliche bilder gehen es / es wird nicht ohne hässliche bilder gehen kurz / hätt ich was falsches gesagt / kurz / hätt ich mich verplappert / kurz“, steht dazu an einer Stelle über einen feschen, gegelten Sunnyboy, einem „alten Blutbad“ entstiegen, ein Strahlemann als Wiedergänger …

Wohl weil Misere zu Miserere führt, hat Köck seinen Text als Kantate angelegt, als Werk für Solistin und einen Chor. Erstere ist Sophia Löffler in ihrer ersten Rolle nach der Babypause. Die Musik stammt von Bach („Klagt, Kinder, klagt“ natürlich), reicht von Chinawoman, Alive She Died und Roy Orbison bis William Basinski und Max Richter. Köck hat sich für „Die Zukunft reicht uns nicht …“ eine eigene Zeitform erfunden, eine Art „Plusquamfutur“, in der Überlegung, die Sprache verlaufe nicht linear, sondern könne sich wie der Raum krümmen, und ergo alles immer gleichzeitig sein.

Bild: © Matthias Heschl

Bild: © Matthias Heschl

Und so ist Löfflers Figur zunächst eine gewesene alte Frau, eine Seherin, Kassandra (später ein zukünftig reicher Erbe in New York), die wahrsagt, was gewesen sein wird werden. Mit ihr, eigentlich gegen sie, spielt ein 14-köpfiger Chor aus Jugendlichen, und die da gekommen sein werden, wollen sich nicht mehr von Sachlage, Schicksal und „Erbschuld“ verschaukeln lassen. Sie fordern Sophia Löffler, sie animieren sie zum Zwietracht säen. Es wird zum Konflikt gekommen sein müssen.

Jach und Köck lassen das alles auf weißer Bühne verhandeln, Leichensäcke liegen herum, ein Plastikvogel fliegt und stürzt ab, und eine Drohne, die stürzt nicht ab, mehr brauchen die beiden nicht an Ausstattung. Die schlanke Optik tut Köcks Text gut, sie unterstreicht ihn an den aussagestarken Stellen. Bemerkenswert ist, wie präsent der Chor im Geschehen ist, junge Menschen, Mona Abdel Baky, Nils Arztmann, Hanna Donald, Nathan Eckert, Magdalena Frauenberger, Alexander Gerlini, Ljubica Jaksic, Daniel Kisielow, Anna Kubiak, Rhea Kurzemann, Cordula Rieger, Karoline Sachslehner, Gemma Vanuzzi und Juri Zanger, die von der Musik, vom Tanz kommen, nur teilweise Theater-, etliche gar keine Bühnenerfahrung hatten. Mit kalkweißen Gesichtern und Glitzerleggings sind sie wie eine Legion von Verlorenen, eigentlich vermutete man sie in den Säcken, doch mit ihrem langsamen Auftritt ist klar, da kommt was auf uns zu. Präpotenz, Stolz, Provokation steht auf den blutig ernsten Mienen.

Bild: © Matthias Heschl

„ich scrolle gelangweilt durch / schneemangel waldsterben überhitzung desertifikation scrolle / mich erschöpft durch verbrannte erde / scheißhaus übermüllung wohin das auge reicht scrolle / durch plastikinseln in kontinentalem ausmaß scrolle / … durch sinkende rettungsboote scrolle / durch frisch gezogene außengrenzen mythologischen ausmaßes …“, skandieren sie, vier von ihnen, mit den Schriftzügen „Game over“, „No specials“, „Bad liar“ und „Eure Party ist Scheiße“ auf den Rücken ihrer Bomberjacken, stechen dabei aus der Masse heraus. Mit dem Chor entwickelt die Aufführung im doppelten Wortsinn eine ungeheure Wucht.

Noch schmeicheln sie, sehen in der Seherin Schutz und Schirm, eine Mutter, die diese nie hat sein wollen. Kassandra mutiert zu „Ivanka Kassandra on the 68th floor“, beide Seiten spekulieren über Mutter/Vater/Elternmord. Wurde ihr bisher zugesetzt, greift nun sie an. Beschuldigt den Klage-Chor, als die privilegierteste, überfüttertste aller Generationen nur zu schreien und zu jammern, „du mittelstandschor was hast du denn für zukunftssorgen?“. Pickt schließlich einen heraus, „der den halben kuchen ganz alleine kriegt“. So genüsslich humorvoll dieser Hakenschlag, so hart die darin liegende Realität. Laut aktueller Oxfam-Studie besitzen acht Milliardäre mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Es steht derzeit 426 Milliarden US$ zu 409 Milliarden.

Und schon ist auf der Bühne Krieg. Blut wird fließen – sehr effektvoll vom Balkon herunter. In der letzten halben Stunde gewinnt die Inszenierung von Jach und Köck rasant an Fahrt. Und mit ihr vieles von dem, das ohnedies so klar scheint, an neuaufgeladener Bedeutung. Man fühlt sich gemeint und gemein, der eigene ökologische Fußabdruck sich plötzlich wie der eines Riesen an. So macht man das, macht Texte, wie diesen, fürs Theater unverzichtbar. Im Epilog auf seinen Abgesang bietet Köck übrigens einen Ausweg, eine Art Lösung an. „THE FUTURE IS FEMALE“ lautet sein letzter Satz. Wie schön. Dann darf sie aber nicht die May machen.

Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=27173

Trailer: www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=8K_Yz8_feIU

www.schauspielhaus.at

  1. 11. 2017

God’s Own Country

Oktober 26, 2017 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Und also kam der gute Hirte

Emotionale Begegnung zweier junger Männer in der kargen Landschaft von Yorkshire: Josh O’Connor als Johnny und Alec Secareanu als Gheorghe. Bild: Agatha A. Nitecka

Das Morgengrauen hat für Johnny eine einschlägige Bedeutung. Als ihn die Kamera das erste Mal einfängt, übergibt er sich in die Klomuschel, die Schultern zucken, der Rücken bebt, fast sieht es aus, als würde er beim Kotzen Weinen. Was er niemals tun würde, was aber kein Wunder wäre, denn das Leben des 24-jährigen Farmersohnes ist karg, einsam, trostlos. Er bewirtschaftet den abgewirtschafteten elterlichen Bauernhof.

Und lässt die Tiere genauso verkommen wie sich selbst, die Rückseite der Kühe so verschissen wie seine Existenz. Die Mutter ergriff vor Langem die Flucht, der Vater schuftete sich in den Schlaganfall, die Großmutter nimmt mit Gleichmut hin, was das Schicksal ihr aufbürdet. Konversationen im Haus sind kurz und grob, und abends gibt sich Johnny im Pub dem Suff und ab und zu einem harten Toilettenfick unter Männern hin. Da engagiert der Vater zu Johnnys Unwillen den Saisonarbeiter Gheorghe. Der Junge aus Rumänien soll beim Lammen helfen …

„God’s Own Country“, ab heute in den heimischen Kinos, ist einer der schönsten Filme des bisherigen Kinojahres. Das Filmdrama überzeugt mit dem eindringlichen Spiel seiner Darsteller, allen voran Josh O’Connor als Johnny und Alec Secareanu als Gheorghe, aber auch Gemma Jones und Ian Hart als Großmutter und Vater sind gewohnt großartig. God’s own country nennen die Briten die archaische Weite der Grafschaft Yorkshire. Regisseur und Drehbuchautor Francis Lee ist in der Gegend aufgewachsen, konsequent nur, dass er sein Langfilmdebüt in einem Landstrich und über einen Menschenschlag dreht, die er wie sich selber kennt.

Nimmt ihr Schicksal klaglos an: Gemma Jones als Großmutter. Bild: Agatha A. Nitecka

Ian Hart spielt den von einem Schlaganfall gezeichneten Vater. Bild: Agatha A. Nitecka

Diese Authentizität merkt man seinem Film an, der die von englischen Filmemachern perfektionierte Kurvengängigkeit von Sozialdramen mit einem Hauch Fabelhaftigkeit schafft. Lee erzählt seine Story in realistischen, unsentimentalen Bildern von harscher Schönheit, die Erweckung eines emotional Verkrüppelten in einer großen, gewaltigen, anfangs auch gewaltsamen Liebe, und in ihrem Wahrhaftigsein ist sie ein Märchen, das ans Herz rührt. Denn mit Gheorghe kommt gleichsam der gute Hirte in die seelische Wüstenei. Er ist wohlerzogen, sensibel, im Gegensatz zu Johnny immer gewaschen.

Er tut mit Liebe, was Johnny mit verbitterter Pflichterfüllung erledigt. Er repariert, erhält am Leben, macht aus jeder Tragödie neue Hoffnung: Als ein Lamm tot geboren wird, nimmt er dessen Fell, um einem verwaisten anderen die Aufnahme in die Herde zu ermöglichen. Und als es schwanzwedelnd das erste Mal von einem Mutterschaf trinkt, hat er Tränen in den Augen … Auch dies ein Moment von Echtheit. Denn das Lammen – wer jemals die BBC-Serie „All Creatures Great and Small“ gesehen hat, erinnert sich, was es bedeutet, wenn hunderte Schafe im eiskalten Yorkshire-Frühjahr gleichzeitig gebären – ist kein Computertrick. Schauspieler Alec Secareanu, erzählt Regisseur Lee im Interview, „ging bei der Arbeit mit dem Vieh richtig auf, vor allem was das Zurweltbringen der kleinen Lämmer betrifft.“

In einer verfallenden Hütte kommen die beiden einander beim Schafe hüten näher. Bild: Agatha A. Nitecka

Gheorghe knackt Johnnys harte Schale: Josh O’Connor und Alec Secareanu. Bild: Agatha A. Nitecka

Kein Computertrick, die Schafe lammen in echt, die Schauspieler helfen tatsächlich. Bild: Agatha A. Nitecka

Es kommt, wie’s kommen muss. Die beiden Gleichaltrigen gehen in den Infight, Johnny und Gheorghe verfallen erst einander langsam,  zu groß sind die Unterschiede zwischen ihnen. Aus Konkurrenz- wird Faustkampf, aus diesem schließlich eine Umarmung. Ein Umklammern wie unter Ertrinkenden. Plötzlich kann Johnnys versteinerte Miene lächeln und lachen. Gheorghe bringt ihm nicht nur Zärtlichkeit bei, sondern auch – in jeder Bedeutung des Wortes – Verlust der Scham. Die Großmutter beäugt und ahnt. Was soll schon von einem kommen, der osteuropäischen Schafskäse macht? Zum ersten Mal auf ihrer Farm!

Und dann überspannt Johnny den Bogen, im Pub herrscht Ausländerfeindlichkeit, Gheorghe geht weg und Johnny ihn suchen. Und er weint … Josh O’Connor brilliert in diesen Szenen, in denen er die unterschiedlichen Gefühlslagen von Johnnys Erschütterung spielt. Großartig sein Gesicht, in dem jede Regung seine Wut, seine Verzweiflung, sein Geschundensein, seine Verletzlichkeit widerspiegelt. Die Kamera von Joshua James Richards gleitet darüber, wie über die schroffe Landschaft. Gheorghes „Schuld“ ist, ihn geknackt zu haben, und das lässt er ihn immer wieder spüren.

Für Innigkeit und Zuneigung muss er erst durch deren Verlust bereit werden. Alec Secareanu ist ein wunderbarer Gegenpart, in seinem Gesicht eine Sanftmut, manchmal auch Unmut, die tatsächlich neutestamentarisch ist. Sein Gheorghe bringt die aus welcher Kraftquelle auch immer geschöpfte Energie auf, die Geduld und die Empathie, um Johnny bei seiner Reise zu einem neuen, besseren Ich anzuleiten.

„God’s Own Country“ hat Preise bei der Berlinale, inklusive des Teddy Award, beim Filmfestival Sundance, in Edinburgh, San Francisco und Toronto gewonnen, nun sollte er zum Liebling an den Kinokassen werden. Gesagt sei noch, dass es Francis Lee mit seinem zartbitteren Film in keiner Minute darum geht, eine ohnedies unnötige Legitimation fürs Schwulsein gedreht zu haben. Er zeigt einfach, wie Liebe … ist.

www.godsowncountry.film

  1. 10. 2017

Art Carnuntum: Much Ado About Nothing

Juli 6, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Shakespeare’s Globe Theatre spielte sich

wieder einmal in die Herzen der Zuschauer

Bild: Bronwen Sharp

Bild: Bronwen Sharp

Sie packten natürlich gleich ihre Instrumente aus. Gitarre und Akkordeon, Melodicas, Trommeln, Tamburine und eine Posaune. Die Schauspieler des Londoner Shakespeare’s Globe Theatre können alles. Musizieren, singen, tanzen, spielen – und wie! – und: unterhalten. Dieses Jahr waren sie mit der Komödie „Much Ado About Nothing“ (Viel Lärm um nichts) in der Regie von Max Webster bei Art Carnuntum im römischen Amphitheater zu Gast. Ein freudvoller, vergnüglicher Abend, bei dem manche Dame aus dem Publikum die Pirouetten mitdrehen, nein, nicht musste, sondern durfte. Die Gentlemen sind charmant. Und immer höflich. Shakespeare at its best das machen die Briten mit nicht viel mehr als einer Pawlatschen als Bühne, einer Wäscheleine und ein paar Klappstühlen. Der britische Barde hätte wahrscheinlich sogar noch diese Requisiten auf Taferln schreiben lassen.

Die Handlung von „Much Ado About Nothing“ ist mehr als nur ein bissl verzwickt. Hier ein Versuch: Don Pedro, Prinz von Aragon (Jim Kitson) macht auf dem Rückweg von einem Krieg Station beim noblen Leonato (Robert Pickavance, der als Gastgeber erst das Publikum entzückend auf Deutsch willkommen heißt). Im Gefolge von Don Pedro sind der ewige Junggeselle Benedick (Simon Bubb), der jugendlich hitzige Claudio (Sam Phillips) und Don Pedros Bruder, der gerade erst in Gnaden wieder aufgenommene, bösartige Don John (Chris Starkie, so sinsiter in seiner Erscheinung, dass man ihn gleich beim ersten Monolog als den Schurken im Stück entlarvt). In Leonatos Haushalt leben seine Tochter Hero (Gemma Lawrence) und seine Nichte Beatrice (Emma Pallant). Es folgt, was folgen muss: Liebe und Intrige. Davon zwei gute und eine garstige. Claudio will Hero freien. Don John plant mithilfe seines Gefolgsmannes Borachio (Joy Richardson, die auch eine hinreißende Margaret und ein bestimmter Friar Francis ist), die Hochzeit zu durchkreuzen. Borachio muss an Heros Fenster eine Liebesszene vollziehen, so dass man denken muss, sie sei ein Flittchen. Die üble Tat wird aufgedeckt, Hero vom Friar als vor Gram verstorben ausgegeben, damit alle Männer, die so leicht an ihre Leichtlebigkeit glaubten, bestraft werden. In der Zwischenzeit fetzen sich Benedick und Beatrice, so dass die Edelmänner beschließen, die beiden durch hier und da hingeworfene Worte gegenseitiger Liebe zu einem Paar zu machen. All’s Well That Ends Well. Sozusagen.

Die Darsteller sind allesamt herausragende Komödianten. Brilliantly witty. An ihrer Spitze Simon Bubb, in einer Szene Berufszyniker, in einer anderen glaubhaft mit Tränen in den Augen ob Heros Schicksal. Chaplinesk die Slapsticksequenz, in der er mit dem Aufstellen eines Klappstuhls kämpft, ein schrulliges Kabinettstück, wie er sich während einer ihm zuwideren Musikeinlage beim Maskenball versucht, die Ohren zuzustopfen – und trotzdem zuhören muss, weil ja von Beatrices Hingezogenheit zu ihm berichtet wird. Diese, Emma Pallant, steht ihrem Angedachten in nichts nach. Mit spitzer, schriller Zunge trägt sie den Sprachbattle aus, bis es zum ersten Kuss kommt. Claudio und Hero als ersthaftes Gegenpaar changieren zwischen süß verliebt, was ihm das Wort kostet und ihr rote Wangen malt, zu verzweifelt in ihrem Zerwürfnis. Endlich einmal ein Claudio mit Temperament, kein blasser Jüngling, der sich in „Verrat“ suhlt. Ein Highlight auch Robert Pickavance, der (alle verkörpern ja mehrere Charaktere) als weißbärtige Kammerzofe Ursula die Lacher sicher auf seiner Seite hat. Ebenso großartig die Szene, in der der Adel (Kitson, Bubb, Pallant, Phillips …) sich in die dümmliche Nachtwache verwandeln. Der „Fürst“ ein Stotterer, die Edlen Idioten – und ein weiterer großer Auftritt von Sam Phillips, der als First Watchman in schlimmstem Slang irgendwas erzählt, das keiner versteht – außer, dass die Verbrecher dingfest gemacht sind.

Ach, man könnte so weiter und weiter schreiben. Oder einfach: Until Next Year! Cheers!

TIPP: Mastermind Piero Bordin ist  ein weiterer Coup gelungen: Erstmals ist auch polnisches Theater bei Art Carnuntum zu Gast. Das Chorea Teatr Lodz unter der Leitung von Tomasz Rodowicz beschäftigt sich seit Jahren mit der griechischen Tragödie und zeigt bei vielen Festivals seine avantgardistischen, gleichzeitig authentischen Inszenierungen der klassischen Dramen. Im Amphitheater ist am 19. Juli Euripides “Bacchantinnen” in polnischer Sprache zu sehen. Die Aufführung ist im ersten Teil tänzerisch, im zweiten eine Impression der Chorforschung über die griechische Antike – was insgesamt einen archaischen, mythisch-mystischen Abend ergibt.

www.artcarnuntum.at

Trailer “Bacchantinnen”: www.youtube.com/watch?v=b_pr8PbAa4E&list=UUp4Y75CzWyqG8iPjTm3ZeWg