TheaterArche: „Gedichte gegen den Krieg“ und die „Tagebücher des Maidan“

März 16, 2022 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Zwei besondere Abende für die Ukrainehilfe

Bild: © TheaterArche

Die TheaterArche erweitert die geplante Lesung von Ferdinand Schmatz am 20. März, ab 19.30 Uhr, zum Abend „Gedichte gegen den Krieg“: Österreichische Autorinnen und Autoren lesen russische, ukrainische und eigene Lyrik – Natascha Gangl, Sonja Harter, Lydia Mischkulnigg, Rosa Pock- Artmann, Judith Pfeifer via Zoom und Ferdinand Schmatz, unter Mitwirkung von Theaterleiter Jakub Kavin. Mit einem Gastbeitrag von Elfriede Jelinek „Brüder, Schwestern, es brennt.“

Am Akkordeon Lukas Goldschmidt, der sich von russischen und ukrainischen Volksweisen wird anregen lassen. Kuratiert von Karl Baratta, wie die gesamte ArcheLiteratur-Reihe. „Gedichte zu lesen, trifft unseren gegenwärtigen Zustand der Hilflosigkeit, als würde ein Mensch einem Panzer ein Gedicht vorlesen“, so Jakub Kavin. Die russische Autorin Olga Martynova , die dem Team der TheaterArche beisteht, hat dazu bemerkt: „Beim Versuch, Texte auszuwählen, habe ich festgestellt, dass mir Gedichte in dieser Zeit am ,echtesten‘ scheinen (was nur im ersten Augenblick verwundert, eigentlich ist klar, dass das so ist). Gedichte werden nicht den Panzern entgegen gelesen. Und sie werden auch nicht die Menschen erreichen, die gerade beschossen werden. Sie sollen ,uns hier‘ erreichen, auch für Denkpausen, denn natürlich steigt der Aggressionspegel jetzt bei allen.“

Eintritt: Freie Spende – der gesamte Erlös geht an die Ukrainehilfe (entwicklungshilfeklub.at/projekte/nothilfe-fuer-gefluechtete).

Die Tagebücher des Maidan

Am 19. April, ab 18 Uhr, zeigt die TheaterArche in Koproduktion mit dem Ersten Wiener Lesetheater „Die Tagebücher des Maidan“. Natalia Vorozhbyt hat die „Tagebücher des Maidan“ geschrieben. Es geht in dem Stück um Menschen in Kiew während des Protestwinters 2013/2014. Die Autorin und Regisseur Andrej Mai führten auf dem Maidan zahlreiche Interviews, die die Grundlage für das Stück bilden. In der szenischen Einrichtung von Jakub Kavin werden 10 Wiener Schauspielerinnen und Schauspieler und eine ukrainische Musikerin das Theaterstück von Natalia Vorozhbyt im Rahmen einer szenischen Lesung auf die Bühne bringen.

Nun findet man auf Wikipedia folgenden aktuellen Eintrag zur Autorin: „In February 2022, Vorozhbyt was working on her latest film ‘Demons’ in Myrhorod and had only four days of production to complete; it is about a relationship between a Russian and Ukrainian, reflecting what she called the ‘uneasy’ international relations between these nations, when the city she was in came under bombardment during the Russian invasion. She was interviewed in a bomb shelter on 25 February 2022, saying that it was ‘very important for me to be here’ but admitting she may have to leave the country if Russia took over. Her interpretation of these events is that it began thirty years ago when Ukraine was being established as an independent country and allowed the Russian influence in Donbas to grow. She appealed for international community support for Ukraine.“

Der Majdan Nesaleschnosti, deutsch: „Platz der Unabhängigkeit“, ist der zentrale Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Er wird meist kurz Majdan genannt. Der Majdan wurde 2013 weltbekannt, als er das Zentrum des politischen Protestes gegen den Wahlbetrug bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen war. Auslöser dieses Euromaidan, deutsch: Revolution der Würde, war die überraschende Erklärung der ukrainischen Regierung (Kabinett Asarow II), das Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Die Proteste flammten am 29. November 2013 nach dessen Nichtunterzeichnung auf. Ihren Massencharakter nahmen die Proteste am 1. Dezember 2013 an, nachdem einen Tag zuvor friedliche  Studentenproteste durch die Polizei mit exzessiver Gewalt auseinandergetrieben worden waren.

Eintritt: Freie Spende – die Spenden gehen zur Gänze an die Ukrainehilfe (entwicklungshilfeklub.at/projekte/nothilfe-fuer-gefluechtete).

www.theaterarche.at

  1. 3. 2022

H. C. Artmann – Anlässlich des 100. Geburtstags: Eine Autobiografie aus Gesprächen

April 13, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Außerdem Klangbücher, Prosa- und Gedichtbände

H. C. Artmann war eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten der Nachkriegszeit und vielleicht der letzte literarische Lebemann. Er verstand sich als „kuppler und zuhälter von worten“, beschrieb „med ana schwoazzn dintn“ die düstere Seite der Wiener Gemütlichkeit und bleibt als virtuoser Sprachakrobat und individualistischer Exzentriker unvergessen. Am 12. Juni gilt es den 100. Geburtstag des im Jahr 2000 im Alter von 79 Jahren an Herzversagen verstorbenen Schriftstellers mit Büchern von und über ihn zu feiern. Hier eine persönliche Auswahl an bereits erschienenen und noch erscheinenden Biografien, Klangbüchern, Prosa- und Gedichtbänden:

H. C. Artmann: ich bin abenteurer und nicht dichter

In „ich bin abenteurer und nicht dichter“ versammelt Kurt Hofmann, ergänzt mit Werkausschnitten, die prägnantesten Originalaussagen Artmanns über sein Leben und Schaffen. Durch nächtelange Gespräche über Jahre hinweg wurde ORF-Redakteur Hofmann zum Vertrauten und Kenner Artmanns. Aus diesen Treffen resultiert die bis heute einzige „Autobiografie“ des literarischen Genies, dessen Faszination ungebrochen ist.

Amalthea Verlag, H. C. Artmann: „ich bin abenteurer und nicht dichter. Aus Gesprächen mit Kurt Hofmann“, Autobiografie, 240 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Erscheint am 15. April amalthea.at

Kurt Hofmann im Amalthea-Gespräch:

Wie kam es zu den Treffen mit H. C. Artmann, und stand von Anfang an fest, dass eine Art Autobiografie aus den Gesprächen entstehen soll?
Hofmann: Als junger ORF-Redakteur in Salzburg wollte ich „den letzten literarischen Lebemann“ vors Mikrofon bekommen, wohl wissend, wenn er so etwas macht, dann sehr ungern. Die, die ihn näher kannten, rieten von so einem Projekt ab. Die, die ihn bisher interviewten, erst recht! Als er 1982 nach vielen vergeblichen Versuchen doch einwilligte, es probieren zu wollen, war wenig „Sendbares“ dabei. Da er viel zu viel überlegt hat und viel zu wenig er selbst dabei geblieben ist. Im Laufe der Jahre – mit monatelangen Pausen – wurde das Vertrauen größer bis zu dieser bei ihm seltenen Offenheit, die dann die Perspektive Richtung Buch erst ermöglichte. Die intensiven nächtelangen Interviews haben wir bis wenige Monate vor seinem Ableben geführt. Als er das Manuskript las, erschrak er: „Was haben wir gemacht!“ und: „Bring das erst raus, wenn ich nicht mehr bin!“

Warum war es so schwer, an H. C. Artmann ranzukommen?
Hofmann: In einer besinnlichen Minute zwischen drei und vier Uhr morgens, die Flasche Rotwein war längst leer, habe ich ihn genau das gefragt und bekam zur Antwort: „Weißt du … (lange Pause), ich bin menschenscheu, sehr menschenscheu. Bei einfachen Dingen zu meiner Person habe ich schon Schwierigkeiten. Ich bin kein Selbstdarsteller. Diese Selbst-Zur-Schau-Stellung, wie auf einer Schlachtbank. Da liegen die Kadaver, seht her. Und wer da alles mit dem Messer auf dich zugeht, mit einem stumpfen, damit es ja wehtut. Und dann wird in den Wunden herumgerührt und das Blut spritzt und die Leute begeilen sich daran. Auskunft geben über mich bereitet mir Übelkeit und Schmerzen. Sich vor Reportern und dem Fernsehen und all dem zu schützen, das ist Notwehr.“

Wie lässt sich die Faszination H. C. Artmanns erklären?
Hofmann: Man kann es nicht besser ausdrücken, als dies Klaus Reichert bei Artmanns Begräbnis getan hat: Kein Dichter in diesem mit ihm zu Ende gehenden Jahrhundert hat so bedingungslos wie H. C. Artmann die Existenz und die Würde des Dichtens noch einmal vorgelebt. Kein Dichter, auch Ezra Pound nicht, hat wie er auf andere gewirkt, weil er keine Richtung verfolgte, keine Prinzipien verkündete, außer solchen, die im nächsten Gedicht wieder aufgelöst werden konnten. So kam es, dass so viele Talente und große Begabungen sich von ihm herschreiben konnten, indem sie, durch ihn, zu ihrer eigenen Stimme fanden. Und das Erstaunlichste: Er war ein altersloser Dichter, dessen Zeit immer gekommen war. Jede Generation, bis herab zur jüngsten, konnte mit ihm, durch ihn, den Funken der Dichtung neu entfachen.

H. C. Artmann: um zu tauschen vers für kuss. Klangbuch mit CD von Erwin Steinhauer

H. C. Artmanns 100. Geburtstag ist auch für Erwin Steinhauer und seine Musiker-Freunde Georg Graf, Joe Pinkl und Peter Rosmanith Anlass, sich abermals mit dessen umfangreichem Werk zu beschäftigen. Für Alfred Kolleritsch ist „das werk h. c. s … die gesammelte rettung der poesie, die weite der sprache reicht hin in alle moeglichen welten der phantasie. sie schafft sich diese welten und erzählt ihre vielfalt. was freiheit des schreibens, des erfindens, des verzauberns ist, fand ich in seinem werk – dem freundlichsten anarchismus, den man sich vorstellen kann.“ Steinhauer erforscht gemeinsam mit seinen musikalischen Reisebegleitern diese fantastischen Welten des H. C. Artmann, die hier zu einer turbulenten, poetischen und humorvollen Text-Musik-Collage verwoben werden. Die Musik ist vielschichtig wie die Geschichten, jongliert mit vielen Stilen und zaubert Kino für die Ohren. Ein poetisches Klangabenteuer.

Mandelbaum Verlag, H. C. Artmann: „um zu tauschen vers für kuss“ Klangbuch mit einer CD von Erwin Steinhauer, Georg Graf, Joe Pinkl und Peter Rosmanith. 32 Seiten mit zahlreichen Abbildungen von Linda Wolfsgruber.  Erscheint im Mai www.mandelbaum.at         Trailer:www.youtube.com/watch?v=SdNu_xd3E9M         www.youtube.com/watch?v=ZjnwuMqZxXA

Von H. C. Artmann im Mandelbaum Verlag bereits erschienen sind: Dracula, Dracula, Klangbuch mit CD, gelesen von Erwin Steinhauer. Die von Georg Graf und Peter Rosmanith komponierte, und auf zahlreichen Perkussions- und Blasinstrumenten interpretierte Musik, bezieht ihre Einflüsse aus osteuropäischer Volksmusik, dem Jazz, Ambient- und der Minimalmusic.  Aus Sprache und Musik entsteht eine Symphonie des Grauens. Es empfiehlt sich daher beim Hören dieses Klangbuches immer etwas Knoblauch in Reichweite zu haben.

Flieger, grüß mir die Sonne, Klangbuch mit CD. Ein nicht gerade mit Vorzügen gesegneter Mann verwandelt sich mit Hilfe einer falschen Identität und unzähliger Prothesen in einen verwegenen Flieger und begibt sich auf Eroberungen. Doch glücklos wie er ist, kommt ihm einiges in die Quere und bald ist aller Lack ab. Georg Graf an diversen Blasinstrumenten, Peter Rosmanith mit seiner vielfältigen Perkussion und Joe Pinkl an Posaune, Tuba und Keyboard sorgen für manch gewagten Höhen­flug, ohne vor der unausweichlichen Bruchlandung zurück- zuschrecken. Tango, Walzer und Rumba dienen als rhythmischer Background für männliches Balzverhalten und treiben den Flieger zu mutigen Taten voran. Virtuos gesprochen wird der Text von Erwin Steinhauer.

Schreibe mir, meine Seltsame, schnell. Briefe an Didi 1960–1970. Mit Illustrationen von Susanne Schmögner – herausgegeben von Didi Macher und Ulf Birbaumer. 1960 schrieb H.C. Artmann Sehnsuchtsbriefe, denen er oft später veröffentlichte Liebesgedichte beilegte, aber auch aufmunternde, witzige Postkarten, adressiert an die junge Kärntner Schauspielerin Didi Macher in Klagenfurt, wo sie gerade eine längere Krankheit auskurieren musste und die der Dichter dort regelmäßig besuchte. Seine brieflichen und lyrischen Verbarien ergänzte er durch ausgerissene Karikaturen, durch Passagen in Sanskritschrift, die beide lesen und schreiben konnten. Auch getrocknete Sommerblüten klebte er in die Briefe und machte sie so zu einem poeti­schen Sehnsuchtsherbarium.

Veronika Premer, Marc-Oliver Schuster: H. C. Artmann. Eine Biografie

Veronika Premer und Marc-Oliver Schuster erzählen auf spannende Weise das unkonventionelle Leben H. C. Artmanns, der in seinem Werk den Bogen von Dialektdichtung bis zu Populärkultur spannte. Der Sohn eines Schuhmachermeisters schuf ein neues sprachliches Universum und polarisierte damit eine ganze Generation. Als Vorstadt-Poet und literarischer Weltbürger schrieb er sich in die Herzen seiner Anhänger und erneuerte die traditionelle Mundartlyrik mit gewitzten Sprachspielen. Er war ein Mitbegründer der legendären Wiener Gruppe, ein Reisender und unkonventioneller Dichter, der von Moden unbeeindruckt Worte, Stile und Sprachen mischte.

Residenz Verlag, Veronika Premer, Marc-Oliver Schuster: „H. C. Artmann. Eine Biografie“, 504 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Erscheinungstermin 2022 www.residenzverlag.com

Von H. C. Artmann im Residenz Verlag bereits erschienen ist: Klaus Reichert (Hg.): „H. C. Artmann. Gesammelte Prosa“. Zwei Bände im Schuber. 1458 Seiten. H. C. Artmanns Zauber wirkt noch immer unvermindert und nirgends stärker, überraschender und facettenreicher als in seiner Prosa. Unzählige Seiten, und in jeder Zeile der sprühende Geist, der immense Reichtum an Formen und Einfällen, die subtile Komik einer Ausnahmeerscheinung der österreichischen Literatur.

H. C. Artmann: Übrig blieb ein moosgrüner Apfel – Gedichte und Prosa

Magische Dinge geschehen in diesem Buch: Ein Schierling wird entgiftet, Küsse werden gegen Beeren getauscht, und der Farn redet mit Zungen. Und überall sprießen Knospen, stehen Blüten in voller Pracht und leuchten Früchte. Es sind die schönsten Naturgedichte und Prosastücke H. C. Artmanns, die dieser Band versammelt. Sie zeigen den Dichter in seiner ganzen Poesie: als Zauberer, der sich an den Traditionen bedient und aus fremden Sprachen und Dialekten schöpft, aber auch klassisch und formvollendet dichtet. Dass sein Zauber unvermindert fortwirkt, ist sich Clemens J. Setz beim Aufsagen der Verse und Zeilen sicher. Die Holzschnitte von Christian Thanhäuser sind zu den Gedichten entstanden.

Insel Bücherei/Suhrkamp, H. C. Artmann: „Übrig blieb ein moosgrüner Apfel – Gedichte und Prosa“, 97 Seiten mit Illustrationen von Christian Thanhäuser und einem Nachwort von Clemens J. Setz. Erschienen am 8. März. www.suhrkamp.de

Über den Autor: H. C. Artmann, geboren am 12. Juni 1921 in Wien-Breitensee, gestorben am 4. Dezember 2000 in Wien. Schon früh ist er in vielen Sprachen bewandert. Längere Aufenthalte in Stockholm, Lund, Berlin, Malmö, Bern, Graz. Seit seiner ersten Lyrikveröffentlichung 1947 schreibt er Gedichte, Theaterstücke, Prosa. Er gehört zu den Mitbegründern der Wiener Gruppe. Sein erster Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“ im Jahr 1958 macht Artmann berühmt. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhält er 1997 den Georg-Büchner-Preis. Bis zu seinem Tod im Dezember 2000 lebte Artmann vor allem in Wien und Salzburg.

amalthea.at           www.mandelbaum.at           www.residenzverlag.com           www.suhrkamp.de

13. 4. 2021

Atticus: The Truth About Magic. Gedichte & Notizen

November 11, 2020 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Liebespoesie vom Online Lord Byron

Den Ehrentitel „Byron der Instagram-Generation“ hat ihm immerhin The Times verliehen, Atticus, dem Poeten mit der Silbermaske, der mit seinen gefühligen Gedanken ebendort den Seelennerv von mehr als 1,5 Millionen Followern trifft. Nun findet sich seine Online-Lyrik, nach „Love – Her – Wild“ und „The Dark Between Stars“, einmal mehr in Buchform zusammengefasst. „The Truth About Magic“ heißt der Band voller Gedichte und Notizen übers Suchen und Finden und Verlieren der Liebe.

Singer-Songwriter Kilian Unger aka Liann hat die Zeilen, die sich neben die teilweise Originaltexte reihen, übersetzt – und das Reimen ist ihm mit Bravour geglückt, denn einfach ist solch ein Unterfangen nie, wie das Beispiel „I don’t need to matter to everyone / but I do need to matter to someone“ – „Ich muss nicht für jeden von Bedeutung sein, solange ich jemandem etwas bedeute“ zeigt.

Es sind „die Tagträumer, die Nachtdenker, die Nacktbadenden im Sommer“, die Atticus in seinem Vorwort zum Lesen einlädt, die Betrachter von Sonnenuntergängen und „euch stille Menschen auf Partys“ – und wie diese sind seine wenigen Worte mal ein nachtalbisches Raunen, mal ein geheimnisvolles Verheißungswispern, mal ein lauter Schrei nach Lust/vor Frust.

Seine Magie hat Atticus in die Kapitel Youth, Love, Adventure, Darkness, Words und Stars unterteilt, und selbstverständlich fehlt nicht die „Magic in Her“, sie ist es die beinah alle Seiten dominiert, als steinherzige Königin, als Mädchen von nebenan oder als listige Koboldin. „Liebe existiert / irgendwo zwischen / einem Mädchen, das so tut, / als könnte es ein Glas saurer Gurken nicht öffnen, / und einem Jungen, der so tut, / als wüsste er nicht, / dass sie es kann“, schreibt Atticus über das wilde Gefühl zum ersten Mal zu küssen. Oder: „Um ehrlich zu sein, / du machst mir Angst. / Ich habe Angst, dich hineinzulassen, / mich durch deine Augen zu sehen, / frage mich, ob ich gut genug bin / oder ob ich dich eines Tages verlieren werde. / Aber die Wahrheit ist, / dich gar nicht hineinzulassen, macht mir noch mehr Angst, / und dieser Gedanke / macht mir Mut.“

SIE ist ihm die lächelnde Göttin, für die er für immer ein Spicy Margarita sein möchte, und wie schön ist dies: „Der Sex war nur die Zugabe / zu dem großen und erstaunlichen Privileg / in nächster Nähe / zu ihrem Humor zu sein.“ Atticus erzählt von männlichen Unsicherheiten, einem sich Hin- und Aufgeben in diesem wie jenem Sinn, er fängt Alltäglichkeiten, Banalitäten gar, in einer Art ein, dass sie zauberisch werden: den Duft von Erdnussbutterbroten, den Geruch des eben noch getragenen Pullovers der Liebsten.

Im Schrifttypenwechsel von kursiv zu versal scheint’s, als könne er alte Weisheit an jugendliche Wahrhaftigkeit knüpfen, Melancholie an überbordende Freude an Trauer an Zorn – über die Sorte Liebe, in der sich einer mit den rausgerissenen Stückchen des anderen neu zusammenflickt. „Sometimes / even great love / is not enough“, sagt er – und Verlust und Tod sind wie die ständig mitschwingende Bassline seiner Gedichte.

Bild: pixabay.com

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In seinen Adventures geht’s von Dachstuben in Paris zu osmanischen Märkten über die Strände Spaniens und zum alten Atem Roms, und immer, immer singt Atticus ein Hohelied auf Hochprozentiges: „Whiskey is like poet’s water. / It quenches our thirst for madness.“ Mit Sätzen wie „No good lust goes unpunished“, „Misery at least makes good art“ oder „Obessions are nine tenths of my flaws“ malt er Bilder in die Köpfe, schickt das Sinnieren auf Wanderschaft, auf Erkundungsreise, um zwischen den Zeilen jenen Künstler zu entdecken, der sich gleich Banksy vor der Öffentlichkeit verborgen hält.

Viel Inspiration geht von Atticus‘ Gedichten und Notizen aus, manche, wie „Don’t believe everything you know for sure“ – „Glaub nicht alles von dem, was du ganz sicher weißt“, meint man schon als Graffiti gelesen zu haben. Und wenn nicht, dann bald. Und über allem steht, dass Atticus dem Leser, der Leserin gerade in diesen #Corona-Tagen zeigt, wie sich das Leben trotz gelegentlicher (Lock-)Downs in all seinen Facetten auskosten lässt.

„The Truth About Magic“ eignet sich vom Feinsten zum Immer-wieder-drin-Schmökern, Sacken-Lassen – dies bei einem Glas Champagner oder Rotwein oder (hier die Vorschläge des Autors) „Lagavulin oder eine Badewanne voll Rosé“, und Lebendig-Bleiben. Magie lebt in guten Büchern, sagt Atticus, und wie recht er hat, „sie ist in den traurigen Tagen, die niemals enden, und in den frohen Tagen, die zu schnell vorübergehen.“ Die größte Wahrheit über Magie, schreibt er, ist, dass sie wahr ist.

Zum Schluss dies: „Ich fühle mich wohl damit, allein zu sein, / aber manchmal / ertappe ich mich dabei, dass ich das Gefühl vermisse, / jemanden zu vermissen.“

Atticus. Bild: Bryan Adam Castillo Photography

Über den Autor: Atticus ist Geschichtenerzähler und Beobachter gleichermaßen. Er ist an der Westküste Kanadas geboren, verbrachte allerdings sehr viel Zeit mit Reisen. Heute lebt er in Kalifornien. Er liebt das Meer, die Wüste und Wortspiele. Der Name Atticus ist ein Pseudonym, unter dem er auf seinem Instagram-Kanal zu einem der bekanntesten Insta-Poeten wurde. Dort hat er mehr als 1,5 Millionen Follower, unter anderem Schauspielerin Emma Roberts und das US-amerikanische Topmodel Karlie Kloss.

Über den Übersetzer: Kilian Unger ist Singer-Songwriter. Unter dem Namen Liann schreibt er Lieder über verregnete Tage, durchzechte Nächte, übers Leutevermissen, über Kindheitsträume und Zukunftsängste – und über Charlie Chaplin. Er lebt in München.

bold Verlag/dtv Verlagsgesellschaft, Atticus: „The Truth About Magic“, Gedichte & Notizen, 255 Seiten. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Kilian Unger aka Liann.

www.dtv.de           www.readbold.de           www.instagram.com/atticusxo           www.liann.de

Videobotschaft von Atticus, Teil 1+2: twitter.com/i/status/1313939744548585474           twitter.com/i/status/1313939916720689152

  1. 11. 2020

Pablo Neruda: Dich suchte ich. Nachgelassene Gedichte

Januar 15, 2018 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Sensationsfund nun in deutscher Sprache

Dich suchte ich von Pablo Neruda

Pablo Neruda gilt als einer der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur. Mit „20 Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“ eroberte er die Herzen der Leser weit über die Grenzen Südamerikas hinaus. Vierzig Jahre nach Nerudas Tod wurden nun 21 Gedichte aus den frühen 1950er-Jahren bis zum Jahr 1973 im Nachlass des Literaturnobelpreisträgers entdeckt – darunter auch sechs neue Liebesgedichte. Die Witwe Matilde Urrutia hatte sie bei der Durchsicht des Œu­v­re übersehen, die nach Neruda genannte Stiftung sie schließlich entdeckt. Nun liegt die Lyrik im Band „Dich suchte ich“ auch in deutscher Übersetzung vor.

„Es war eine außergewöhnliche Reise ins Innere von Nerudas Dichtung, zurück zu ihrem Ursprungsmaterial. Durch die Arbeit mit den Originalen war man ganz nah am Puls des Dichters“, beschreibt Darío Oses von der Fundación Pablo Neruda seine Forschung. „Beim Eintauchen in seine Manuskripte hatten wir manchmal das Gefühl, als glitten Verswellen über das Papier, die bei ihrem Rückzug die verworfenen, korrigierten Wörter mitnahmen und eine immer vollendetere Version des Gedichts zurückließen.“

I. „Deine Füße fasse ich im Schatten, deine Hände im Licht, / und im Flug leiten mich deine Adleraugen / Matilde, die Küsse, die dein Mund mich lehrte, / lehrten meine Lippen das Feuer. / O Beine, Erbteil des idealen Hafers / Feldfrucht, Fortsetzung der Schlacht / Herz der Wiese, / als ich meine Ohren an deine Brüste legte, / verkündete mein Blut (eine Annahme, da unleserlich, Anm.) deine araukanische Silbe.“

Dass die Gedichte so lange verschollen blieben, mag daran liegen, dass Neruda sie mit und auf allerlei Schreibutensilien verfasste: Schulheften der 1950- und 1960er-Jahre, Blöcken in verschiedenen Größen, losen Blätter, und unter Verwendung verschiedenfarbiger Tinten. Oses: „Manchmal schrieb er auch auf den Speisekarten und Konzertprogrammen der Schiffe, auf denen er reiste. Seine Verse zwängen sich zwischen die Auswahl der Vorspeisen, der Hauptgänge, des Nachtischs und der Weine.“ Liebevoll zusammengestellte Faksimile im Angang des kleinen Bandes geben Auskunft über diese diffuse Herangehensweise ans eigene Schaffen. Ein Anmerkungsteil gibt jeweils Auskunft über Datierung und Situierung im Werk Nerudas.

IV. „Was reicht deiner goldenen Hand das singende Herbstblatt / oder bist du es, die Asche streut in die Augen des Himmels / oder schenkte dir der Apfel sein duftendes Licht / oder wähltest du die Farbe des Ozeans, / verschworen mit der Woge? …“

Bild: pixabay.com

Bild: pixabay.com

Einige wenige Gedichte scheinen ihren Weg nicht bis zu Ende gegangen zu sein. Vielleicht wollte Neruda sie deswegen nicht veröffentlichen. „Als hätten sie sich im Urwald der Originale versteckt, sich unter abertausenden Blättern, abertausenden Wörtern getarnt, um siegreich unentdeckt zu bleiben“, so Oses. In der Rückschau macht ihr Ausnahmecharakter sie besonders interessant, und nicht zuletzt aufgrund ihrer literarischen Bedeutung verdienten diese Gedichte zweifellos veröffentlicht zu werden, zeugen sie doch erneut von der Unerschöpflichkeit Nerudas‘ Dichtkunst – und erschließen neue Lesarten auf bereits Bekanntes, so dass sie eine Wiederentdeckung des umfangreichen Gesamtwerks ermöglichen.

In diesen nachgelassenen Gedichten entfaltet sich noch einmal der ganze thematische Kosmos des großen Literaten: die Liebe, das Feiern von Landschaft und Natur und auch die Sorge um sie, das politische Engagement Nerudas, der vor den Franco-Putschisten in Spanien und als unbequemer Politiker vor den Faschisten in Chile fliehen musste … Einige der Gedichte entführen auf eine Zeitreise. Großartig, wie der Dichter die Frühjahrsstimmung mit dem Bild eines Leguans einfängt, ebenso, wie er seine Abneigung gegen das Telefon in Verse gießt, tagespolitisch, wie er in einem Gedicht festhält, dass sich 1962 mit den russischen Raumschiffen „Wostok 3“ und „Wostock 4“ zum ersten Mal zwei Kosmonauten zeitgleich im All aufhalten. Und auch dies hier berührt:

XII. „Ich rollte unter den Hufen, die Pferde / gingen über mich dahin als Wirbelwind, / die Zeit damals schwang ihre Fahnen / und mit der studentischen Passion / kam über Chile / Sand und Blut der Salpetergruben, / Kohle aus harter Mine / Kupfer mit unserem Blut / dem Schnee entrissen / und so wandelte sich die Landkarte, / die Schäfernation warf sich auf / zu einem Wald aus Fäusten, Pferden, / und noch vor 20 empfing ich, / unter den Knüppeln der Polizei / das Pochen / eines weiten Herzens unter der Erde, / verteidigte der andern Leben / und lernte, es war meins / gewann Gefährten / die mich verteidigen, auf ewig / denn meine Dichtung empfing, / kaum ausgedroschen, / den Orden ihrer Leiden.“

Über den Autor:
Pablo Neruda (1904-1973), unermüdlicher Streiter gegen den Faschismus in seiner Heimat Chile und in Spanien, gehört zu den großen Autoren der Weltliteratur. Er war Botschafter Chiles in verschiedenen Ländern, bewarb sich um die Präsidentschaft in seinem Land und musste lange Jahre im Exil verbringen. 1971 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Von 2013 bis 2016 gab es Kontroversen um Nerudas Todesursache, Ermordung oder Herzversagen aufgrund seiner Krebserkrankung. Eine Expertenkommission kam zu keinem endgültigen Urteil. Nerudas Werk erscheint seit vielen Jahren im Luchterhand Verlag, darunter „Das lyrische Werk“ in drei Bänden und zuletzt ein Band mit Liebessonetten „Hungrig bin ich, will deinen Mund“.

Luchterhand Literaturverlag, Pablo Neruda: „Dich suchte ich“, Gedichte, 144 Seiten. Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange

www.randomhouse.de

15. 1. 2018

Schlüterwerke: mondsüchtig – ein theatraler Liederabend

November 15, 2017 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Max Kowalskis „Zwölf Gedichte aus Pierrot Lunaire“

Bild: pixabay.com

Die Schlüterwerke zeigen ab 23. November „mondsüchtig – ein theatraler Liederabend“. Um den Liederzyklus op.4 „Zwölf Gedichte aus Pierrot Lunaire“ von Max Kowalski entspinnt sich eine rührend-schaurige Geschichte.

Der Zyklus erschien 1913 im Simrock Verlag. Max Kowalski, Rechtsanwalt, Sänger und Komponist, war ein enger Freund Arnold Schönbergs. Schönberg schätzte Kowalskis musikalische Werke sehr, und seine „Zwölf Gedichte aus Pierrot Lunaire“ fanden bei zeitgenössischen Kritikern und Publikum auch mehr Anklang und wurden damals öfter zur Aufführung gebracht als Schönbergs eigene Vertonungen aus demselben Gedichtzyklus von A. Giraud übersetzt von O.E. Hartleben (1914).

Mittlerweile sind die Werke Kowalskis großteils in Vergessenheit geraten; mit der Darbietung des musikalisch hochinteressanten Zyklus holen die Schlüterwerke einen wahren Schatz der Musikgeschichte wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Bespielt wird der erste und vierte Stock des ehemaligen k. und k. Post- und Telegraphenamts Ecke Zollergasse/Mondscheingasse, 1070 Wien, mit Unterstützung des sirene Operntheaters.

Mitwirkende sind Colombine: Beatrice Ferolli (Schauspiel), Pierrot: Ingala Fortagne (Sopran), Rosalie: Therese Cafasso (Klavier, Performance). Regie führt Markus Kupferblum.

www.schlüterwerke.at

15. 11. 2017