Landestheater NÖ online: „Molières Schule der Frauen“ als Silvester-Vorstellung

Dezember 11, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Willkommen im Cirque de l’Obscurité!

Am Ende heißt’s „Alles Tango!“ Laura Laufenberg als Agnès und Tobias Artner als Oronte. Bild: Alexi Pelekanos

In seiner Reihe #wirkommenwieder bietet das Landestheater Niederösterreich zu Silvester ab 19.30 Uhr und danach für 24 Stunden Ruth Brauer-Kvams „Molières Schule der Frauen“ als kostenlosen Online-Stream auf der Homepage www.landestheater.net an. Hier Auszüge aus der Premieren-Kritik:

Und jetzt einen Gang hochschalten, bis die Kurbelwelle rotiert. Das kann Ruth Brauer-Kvam. Sie hat am Landestheater Niederösterreich „Molières Schule der Frauen“ inszeniert, und man merkt ihrer Regiearbeit an, dass sie an der Volksoper auch diese Spielzeit höchst erfolgreich als „Cabaret“-Conférencière über die Bühne spuken wird. Willkommen, Bienvenue, Welcome also im Cirque de l’Obscurité!

Brauer-Kvam übersiedelt die im Abgang unter ihrer Denklehre ächzende Komödie des Commedia dell’arte-affinen Dichters ins Théâtre du Grand Guignol. Alles hier ist überzeichnet, überkandidelt, überdrüber, eine Commedia dell’arte-Travestie, in der genüsslich zu verfolgen ist, wie den Protagonisten die Pi-Galle überläuft – nicht nur dem um seine sinistren Ehepläne bangenden Arnolphe, sondern auch dem kunstsinnigen Climène – im

Original eine Frau, der sich als Theaterzuschauer gar nicht genug über die „geschmacklose“ Handlung aufregen kann. Gewitzt hat Ruth Brauer-Kvam nämlich „L’école des femmes“ mit Molières „Kritik der Schule der Frauen“ und auch ein wenig „Menschenfeind“ verbandelt. Erstere eine Art Meta-Komödie, in der Molière seine Kritiker, denn ja, anno 1662 löste die Uraufführung der „Schule der Frauen“ wegen des emanzipatorischen Ansatzes und des Spotts auf den Ehestand einen handfesten Theaterskandal aus, als Heuchler und Beckmesser enttarnt.

Und so treffen nun Michael Scherff als Climène und Emilia Ruperti als Salondame Uranie aufeinander, um die Klischee-Vorstellung zur Rolle der Geschlechter samt ihrer eigenen diffizilen Beziehung zu diskutieren – und zwar nicht als Rahmen-, sondern mitten in der Handlung … Molière-logisch, dass ein Hübscher namens Horace dem ominösen Wirken des angegrauten Brautwerbers Arnolphe in die Quere kommt … Diesen spielt Tilman Rose im Sulley-Fake-Fur (© Monster AG) als manisch Besessenen, alles an ihm ist prall, laut, prahlerisch, nur im Zuflüstern seiner üblen Machenschaften ans Publikum kann er zynisch zischeln. Rund um dessen, heut‘ nennt man’s, toxische Männlichkeit lässt Brauer-Kvam das Ensemble kontrolliert eskalieren.

Auch die beiden haben ihre „maladie d’amour“: Michael Scherff und Emilia Rupperti. Bild: Alexi Pelekanos

Die Watschn trifft den Falschen: Scherff, Artner, Oberkanins, Rose, Breyvogel und Rupperti. Bild: Alexi Pelekanoss

Michael Scherff, Tobias Artner und Tim Breyvogel als „Deus ex USA“-Enrique. Bild: Alexi Pelekanos

Die Kritiker mitten im Bühnengeschehen: Philip Leonhard Kelz, Emilia Rupperti und Michael Scherff. Bild: Alexi Pelekanos

Das Setting ist kellerlochschwarz – Climènes: „Wer sperrt den heute noch Frauen ein?“ ein österreichischer Lacher – und atmet abgefuckte Varieté-Atmosphäre, Stummfilm-Elemente kommen ebenso zum Einsatz wie Multi-Percussionistin Ingrid Oberkanins, die per Schlagwerk den Sound zum immer tolleren Treiben vorgibt. Auftritt Philip Leonhard Kelz als Horace, auch gleich sein eigenes Horse also Pferd, der tänzelnd und von Eros-Ramazzotti-Musik gebeutelt von „Amore“ spricht. Ist er doch mittels Akzent als Italian Lover ausgewiesen, aber mit Marco-Mengoni-Haartolle und in dessen ESC-2013-Outfit nur ein Hauch weniger Knallcharge als das freche, fordernde, verfressene Dienerpaar Georgette und Alain:

Tobias Artner und Tim Breyvogel mit fulminanter Oberweite beziehungsweise Riesen-Ding-Dong, beide Meister im Stakkato-Sprechen und Bananen-Slapstick, beide die Urheber endgültiger Verwirrung, und auch als Notare, altes Weib, Oronte und Enrique eingesetzt. Laura Laufenbergs Agnès lässt sich ihre mädchenhaft-aufgekratzte Laune nicht verderben, selbst als ihr ihre Unterdrückung und Manipulation bewusstwird – und in keinem Moment offenbart Laufenberg, ob Agnès‘ Naivität echt oder ein gewiefter Überlebens-Trick ist -, kann ihr nichts den neckischen Spaß mit Horace nehmen … Ende gut, Rut Brauer-Kvam noch besser … die ganze Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41393, Trailer: www.youtube.com/watch?v=eK70Z4bkrTQ

Bettina Kerl und Julia Engelmayer. Bild: Alexi Pelekanos

Spaziergang durchs jüdische St. Pölten

Bereits ab 18. Dezember, 19.30 Uhr und frei für 48 Stunden, ist der digitale Stadtspaziergang „Es gab ein jüdisches Leben in St. Pölten“ zu sehen. Schauspielerin Bettina Kerl und Dramaturgin Julia Engelmayer haben Lebensgeschichten von St. Pöltner Jüdinnen und Juden recherchiert. Nun nehmen sie das Publikum mit auf ihrem Weg durch die barocke Innenstadt, erzählen von Schicksalen und historischen Hintergründen. Ausgangs- punkt ist die ehemalige Synagoge, aufgenommen wurde das Ganze von Filmemacher Johannes Hammel.

www.landestheater.net

  1. 12. 2020

Schauspielhaus Wien: Möglicherweise gab es einen Zwischenfall

November 7, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Wie schnell man Anders denkt

Steffen Link, Vassilissa Reznikoff im Video und an der Wand, Sophia Löffler Bild: © Matthias Heschl

Steffen Link, Vassilissa Reznikoff im Video und an der Wand, Sophia Löffler
Bild: © Matthias Heschl

Da ist es passiert. Als vom „europäischen Projekt“ die Rede war und davon, es zu schützen, etwas zu bewegen und verändern zu wollen. Als man innerlich applaudierte und schon über die Sinnhaftigkeit des politischen Mordes philosophierte. Da kam der eine entlarvende Satz und – es ist Breivik. Wie schnell man Anders denkt. Wo man doch dachte, man sei gefeit gegen dieses „Ich mag ihn nicht, aber in einem hat er schon recht“, gegen dieses rausgerotzte HaaaCee – Gesundheit! Perfide, ein Publikum so in die Falle zu locken. Böse. Bravo. Das ist, ist ihm zu unterstellen, genau, was Chris Thorpe will, geht es doch auch in seinem Bühnensolo „Confirmation“, das er am 15. November im Schauspielhaus Wien performen wird, um die dünne Linie zwischen Argument und Agitation.

Der neue Schauspielhaus-Chef Tomas Schweigen holt den gefeierten britischen Dramatiker endlich nach Wien, die zweite Produktion am Haus war seine Premiere: „Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“ als deutschsprachige Erstaufführung. Passend ins Konzept, weil sich auch Thorpe dem Devised Theatre verschrieben hat, bei dem Autorschaft Gemeinschaftswerk ist. Thorpe ist so poetisch wie politisch, sein Text ausgeatmetes Statement, am Anfang war das Wort, dann Literatur. Papier werden sie noch essen auf der Bühne. Dort stehen vier, eigentlich drei und eine geteilte, Figuren nebeneinander, die ineinander monologisieren und, wie es Regisseur Marco Štorman wunderbar gelöst hat, in Dialog treten, ohne miteinander zu sprechen. Die Geste ist im Politischen bedeutsam. Jeder Blick zählt eine Stimme. Auftreten: Die Politikerin, ehemals Bürgerrechtlerin, nun Diktatorin, die sich mit einem Volksaufstand konfrontiert sieht. Der Mann, ein Geheimdienstler?, nein: Fotograf Jeff Widener, der einen Mann beobachtet, der sich mit seinen Einkaufssackerln vor die auf den Platz zurollenden Panzer stellt. Die Flüchtlingsfrau im Flugzeug. Jemand wird verhört. In einem Verschlag, versteckte Kamera.

Thorpe hat Text montiert, eine Assoziationsfläche freigeschaltet. Anders Breivik und Boko Haram, die Ceaușescus auf dem Balkon, der Al-Shabaab-Mörder Mohammed Ahmed Mohamed, der sich mit einer Burka unkenntlich machte und so Scotland Yard entkam, auch Al-Qaida und IS haben sich schon gedragt, Putin, Breschnew, Bokassa …  Der Tank Man auf dem Tian’an Men Platz. Ob er exekutiert wurde? „Er lebt noch, das ist so ein Gefühl von mir“, sagte Widener. Eine Folterversuchsanordnung mit Klebeband. Štorman erzählt zu Thorpes Story seine eigenen Bildgeschichten. Ein Film läuft ab. Der Mensch als Aufmarsch in Auflaufform. Am Ende suchen die drei Schauspieler als Forensiker in Schutzkleidung nach den Überresten des Flugzeugsabsturzes. Wie Astronauten sehen sie aus, als ließe sich das alles nur von außen begreifen. Die Flüchtlingsfrau … „… gab es einen Zwischenfall“. Lockerbie ist immer noch eine offene Wunde.

Vassilissa Reznikoff spielt diese Schutzsuchende, Steffen Link den Fotografen, dem eine Momentaufnahme des für einen Moment wichtigsten Mannes der Welt gelang, Sophia Löffler die ans Mikrophon geklammerte Politikerin. Ich habe nur meine Pflicht erfüllt. An Schreibtischen sitzend beginnen sie, langsam, leise, singen Thorpes verstörend melancholische Sprachmelodie. Mit der professionellen Freundlichkeit von Krankenbetreuern konterkarieren sie die Grauenhaftigkeit des Geschilderten. Doch das eskaliert, das muss explodieren. Der Text wird dichter. Intensiv erzählen sie dann von sich und den anderen, schauen sich nach Bestätigung um, geben einander Halt, Schutz suchen sie alle, die Opfer und die Täter und die um Objektivität ringenden Beobachter. Der indonesische Journalist und Menschenrechtsaktivist Seno Gumira Ajidarma hat so einen Roman über Ost-Timor geschrieben, er heißt „Jazz, Parfüm & Der Zwischenfallwww.mottingers-meinung.at/?p=15341

Wieder reingefallen, die Historie dient der Bespiegelung. Thorpe verweist auf Behauptung, verweist auf die Wahrnehmung von Ereignissen und wie diese sie wandelt. War da was? „Möglicherweise gab es einen ….“ Die Situation beklemmt, die Zeit steht. Stille. „Ich wollte eine Art Pause schaffen, um nachzudenken“, sagte Breivik. Wie ein perverser Krimi ist das, man will wissen, wie und wer und wie zusammen, und muss nicht Antworten suchen, sondern neue Fragen stellen. Das Foto wird als Instrument der Manipulation entlarvt. Die Nachricht. „Als ich die erste Zeitung schließen musste, tat ich es, weil ich an Pressefreiheit glaube.“ Berührend, beinah schön, das Schlussbild, wenn die Darsteller aus ihrer Kleidung steigen und damit und den Stühlen die Toten formen. Thorpe zeigt alle Spielarten von Terror. Um Ordnung zu erhalten, um sie zu (zer)stören. Mit Terror ist ein Staat zu machen. Thorpe erzählt von Führerwahn und Staatsstreichverblendung und schleichendem Faschismus. Sein Stück nimmt jede Sicherheit. Es dringt unterm Bewusstsein vor ins Hirn. Die Schweigespirale dreht sich. Pegida reißt das Maul auf. Simon Stephens sagt: „Nobody makes me think harder than Chris Thorpe“. Also!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=0I37ltgF3d8

TIPP: Chris Thorpe spielt am 15. 11. „Confirmation“: www.youtube.com/watch?v=l4VRYMM0bKo

Auftakt im Schauspielhaus Wien, Rezension „Punk & Politik“: www.mottingers-meinung.at/?p=15730

www.schauspielhaus.at

Wien, 7. 11. 2015