Kino und Home Cinema: Die besten Filme fürs Frühjahr

Januar 1, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Neues von Tom Hanks, Naomi Watts & Kevin Kostner

Der Rausch: Mads Mikkelsen. Bild: Henrik Ohsten. © 2020 Zentropa Entertainments3 ApS, Zentropa Sweden AB, Topkapi Films B.V. & Zentropa Netherlands B.V.

Das alte Jahr war #Corona-bedingt ein Kinojahr zum Vergessen. Nun liegen alle Hoffnungen auf 2021, und tatsächlich warten etliche sehenswerte Filme nur auf das Lockdown-Ende. Neues gibt es etwa von Tom Hanks, Frances McDormand, Naomi Watts, Mark Wahlberg und Kevin Kostner. Für Österreich gehen Evi Romen mit ihrem Debütfilm „Hochwald“ und Arman T. Riahi mit dem Diagonale-Eröffner „Fuchs im Bau“ an den Start. Ein Überblick:

Kinovorschau: Jänner

Der Rausch. Martin ist Lehrer an einer Schule. Er fühlt sich alt und müde. Seine Schüler und ihre Eltern wollen, dass er gekündigt wird, weil sie mit der Qualität seines Unterrichts nicht zufrieden sind. Ermutigt durch eine abstruse Theorie stürzen sich Martin und drei Kollegen in ein Experiment: Sie wollen durch Alkoholkonsum ihren Blutalkoholwert konstant bei 0,5 Promille halten. Anfangs ist das Ergebnis positiv. Martin hat wieder Spaß am Unterrichten und auch die Liebe zu seiner Frau Trine entflammt neu. Doch die negativen Auswirkungen lassen nicht lange auf sich warten… In der bereits zehnfach ausgezeichneten Sozialsatire von Regisseur Thomas Vinterberg geht Mads Mikkelsen jeder Flasche auf den Grund. Ab 29. Jänner. Trailer: www.youtube.com/watch?v=oJwlO6vcsm0&t=16s

Kinovorschau: Februar

Lass ihn gehen. Was weit gehen Menschen, um ihre Liebsten zu schützen? USA, 1951: Der Sohn des pensionierten Sheriffs George Blackledge und seiner Frau Margaret kam vor ein paar Jahren bei einem Unfall ums Leben. Dessen nunmehrige Witwe ließ sich mit einem zwielichtigen Tagedieb ein. Als die entsetzte Margaret sieht, wie dieser „Stiefvater“ Donnie Weboy ihren Enkel in aller Öffentlichkeit prügelt, will sie das Kind retten. Doch Jimmy und seine Mutter leben auf der Farm des gefährlichen Weboy-Clans. Matriarchin Blanche führt ihre Familie mit eiserner Hand und denkt gar nicht daran, Jimmy gehen zu lassen. George und Margaret müssen um ihren Enkel kämpfen … Supermans Adoptiveltern Diane Lane und der für derlei Rollen wie geschaffene Kevin Kostner brillieren in diesem aufwühlenden Neo-Western nach dem gleichnamigen Roman von Larry Watson. Ab 19. Februar. Trailer: www.youtube.com/watch?v=bE8pwEF-3TI

Kinovorschau: März

Nomadland. Auf der Viennale 2020 bereits gezeigt, wartet „Nomadland“ nun auf den regulären Kinostart. Frances McDormand spielt als Fern einen jener Menschen, die nach der großen Rezession von 2008 alles verloren haben. Gezwungen in ihrem Van zu leben, hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mal zusammen mit Gleichgesinnten, die wie sie in der Welt keinen Platz mehr finden, dann wieder ist sie allein unterwegs in den schier unendlichen Weiten Nordamerikas. Begleitet von der Schönheit der Landschaft. Dicht gefolgt von der Einsamkeit. Und all jenen Problemen, die ein Leben auf der Straße mit sich bringt. Das Drama von Regisseurin und Drehbuchautorin Chloé Zhao, Gewinner des Goldenen Löwen 2020, gilt als eines der Highlights des kommenden Kinojahres. Ab 19. März. Trailer: www.youtube.com/watch?v=iEcIDpnv3qQ

Lass ihn gehen. © Universal Pictures

Fuchs im Bau. © Golden Girls Film

Falling. © Filmladen Filmverleih

Good Joe Bell. © Solstice Studios

Fuchs im Bau. Der neue Spielfilm von Regisseur Arman T. Riahi ist zugleich der Eröffnungsfilm der Diagonale’21. Die neue Arbeitsstelle des ehrgeizigen Mittelschullehrers Hannes Fuchs ist ungewöhnlich: Es ist die Gefängnisschule im Jugendtrakt einer großen Wiener Haftanstalt. Dort trifft Fuchs auf die eigenwillige Elisabeth Berger, die mit ihren unkonventionellen Lehrmethoden nicht nur die Untersuchungshäftlinge in Schach, sondern auch die Justizwache auf Trab hält. Dem obersten Wachebeamten ist Bergers Kunststunde ein Dorn im Auge, da er sie als Sicherheitsrisiko sieht. Doch genau auf diese legt Berger besonderen Wert, da sich während des Malens sogar die hartgesottensten Insassen erweichen lassen. Mit Aleksandar Petrović, Maria Hofstätter, Andreas Lust, Sibel Kekilli und Karl Fischer. Ab 19. März. Trailer: www.facebook.com/fuchsimbau

Hochwald. Das Spielfilmdebüt der Autorin und Editorin Evi Romen schildert die Berg- und Talfahrt eines jungen Mannes, der völlig orientierungslos ist, aber dennoch spürt, dass es irgendwo auch für ihn einen Platz geben muss. Das Leben des sensiblen und etwas schrägen Mario gerät aus den Fugen, als sein Jugendfreund Lenz auftaucht. Mario und Lenz kennen einander seit Kindertagen. Nun sind sie Zwanzig und auf dem Sprung, die Enge ihres Dorfes hinter sich zu lassen. Lenz, der Winzersohn, hat dafür eindeutig die besseren Karten in der Hand als der Träumer Mario. Doch plötzlich wird alles anders…. Ein kühnes Queering-Drama vor Bergkulisse, und somit ein großartiger Heimatfilm über Sex, Religion, Tod und Befreiung. Mit Thomas Prenn, Noah Saavedra und Josef Mohamed. Ab 31. März. Trailer: www.youtube.com/watch?v=J-BwyK0IY74

Kinovorschau: April

Falling. John lebt mit der Wut seines Vaters, seit er denken kann. Willis macht kein Hehl daraus, dass er den Lebensstil seines offen homosexuell lebenden Sohnes zutiefst verabscheut. Einst versuchte der Patriarch aus dem Mittleren Westen seinen Sohn zu einem „echten Mann“ zu erziehen – doch der weltoffene John distanzierte sich von dessen männlichem Rollenbild, das sich durch Aggressivität und Engstirnigkeit auszeichnet. Als Willis mit einer beginnenden Demenz kämpft, nimmt ihn John trotz der schmerzhaften Erinnerungen auf – und Willis lässt seinen homo- wie xenophoben Ausbrüchen gegenüber Johns Ehemann Eric und der gemeinsamen, aus Mexiko stammenden Adoptivtochter Monica freien Lauf. Doch John trägt nun die Verantwortung für jenen Mann, der ihm im Leben am meisten weh tut … Ausnahmeschauspieler Viggo Mortensen präsentiert mit „Falling“ seine erste Regiearbeit nach einem eigenen Drehbuch. Das Resultat ist gefühlvoll, packend und durchaus experimentell. Ab 9. April. Trailer: www.youtube.com/watch?v=-rZ5DSeUb00

Neues aus der Welt. © Universal Pictures

Penguin Bloom. © Hugh Stewart

Billie. © Polyfilm/ Getty / Michael Ochs Archives / REP Documentary / Marina Amaral

Anfang 2021 / ohne konkreten Starttermin

Penguin Bloom. Die Krankenschwester Sam Bloom verletzt sich während eines Urlaubes mit Ehemann Cameron und ihren drei Söhnen in Thailand schwer, als sie von einem Balkon stürzt. Von da an ist sie von der Hüfte abwärts gelähmt, was die gesamte Familie auf eine harte Belastungsprobe stellt. Nach ihrer Reha fällt Sam in eine tiefe Depression, doch dann bringt eines Tages einer ihrer Söhne einen verletzten Flötenvogel mit nach Hause. Sie nennen ihn wegen seines schwarz-weißen Gefieders Penguin. Immer mehr lässt der Vogel, der dringend aufgepäppelt werden muss, und der seiner neuen Mama bis ins Bett und unter die Dusche folgt, Sam ihren eigenen Schmerz vergessen und gibt ihr neuen Lebensmut. Naomi Watts in einem Film von Regisseurin Glendyn Ivin nach der wahren Geschichte der Familie Bloom und ihres Magpie-Kükens. Trailer: www.youtube.com/watch?v=q7eZEZHRrVg

Good Joe Bell. Noch eine True Story. Joe Bell ist der Inbegriff von Männlichkeit, und als Ehemann und Vater gewohnt zu brüllen und zu kommandieren, bis er bekommt, was er will. Sein 15-jähriger Sohn Jadin allerdings wird an der High School als schwul geoutet und fortan schikaniert, bis er Selbstmord begeht. Statt sich nach dessen Suizid in seiner Trauer zu verlieren, beschließt Joe durch die gesamten USA zu wandern und auf Mobbing und die möglichen Auswirkungen aufmerksam zu machen. Das Original ist an der Gründung von Faces for Change beteiligt, einer Anti-Mobbing-Stiftung, die das Engagement von Menschen an Schulen ehrt, die sich für Diversität und die Förderung von Toleranz einsetzen. Mark Wahlberg überzeugt in der Titelrolle, das Drehbuch stammt vom „Brokeback Mountain“-Duo Diana Ossana und Larry McMurtry. Trailer: solstice-studios.com

Billie. Ihre ungewöhnliche Stimme und ihre Lieder voll emotionaler Strahlkraft machten sie weltberühmt. Jahrzehnte vor der #BlackLivesMatter-Bewegung lieferte Billie Holiday mit ihrem Song „Strange Fruit“ den Soundtrack für die Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen People of Colour. Eine selbstbewusste, politisch denkende Frau, ein musikalisches Genie. Und die erste schwarze Frau in einer weißen Band. In den späten 1960er-Jahren sprach die Journalistin Linda Lipnack Kuehl mit Musikgrößen wie Charles Mingus, Tony Bennett und Count Basie über die Jazz-Legende, aber auch mit Billies Cousin und Schulfreunden, sowie einem FBI-Agenten, der die Diva einst verhaftete. Ihre Biografie über die Sängerin konnte die Autorin jedoch nie veröffentlichen. In seinem Dokumentarfilm verknüpft James Erskine nun aufwändig restauriertes Archivmaterial und die bisher ungehörten Tonbandaufnahmen von Kuehl mit den wichtigsten Auftritten von Billie Holiday. Er zeichnet das bewegende, vielschichtige Porträt einer Sängerin, deren kurzes Leben durch ihre spektakulären Shows, Exzesse und den Willen zur Rebellion gekennzeichnet war. Ein grandioses filmisches Denkmal. Trailer: www.youtube.com/watch?v=qTpMaxBw2aA

Nomadland. © Searchlight Pictures

Hochwald. ©Amour Fou – Flo Rainer

Virtues. © Channel 4

Neues aus der Welt. Eigentlich sollte Paul Greengrass‘ Westerndrama mit Tom Hanks Ende 2020 in den Kinos starten. Ob es nun dazu kommt oder der Film nach dem Roman von Paulette Jiles doch am 7. Jänner auf Netflix anläuft, ist nach wie vor nicht zu eruieren. Im mutmaßlichen Oscar-Nominee spielt Tom Hanks den abgehalfterten Bürgerkriegs-Captain Jefferson Kyle Kidd, der seit dessen Ende als Nachrichtenüberbringer und Zeitungsvorleser durch das Land zieht. Er erzählt den Menschen von einer neuen Pandemie (!), der Tuberkulose, und von der Eisenbahn, die bald auch Süd-Texas an den Rest des Landes anschließt. In Texas erhält er einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll die zehnjährige Johanna Leonberger, die vor vier Jahren von den Kiowa entführt wurde, nachdem sie ihre Familie getötet hatten, zu ihrer Tante und ihrem Onkel bringen. Hunderte Meilen soll der Mann mit dem traumatisierten Kind zurücklegen, während die gefährliche Wildnis und noch gefährlichere Menschen nach ihnen trachten. Doch die größte Herausforderung stellt Johanna selbst dar, die kein Wort Englisch, sondern nur ein paar Brocken Deutsch und Kiowa spricht. Mit Tom Hanks spielt Helena Zengel aus „Systemsprenger“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34792)! Trailer: www.youtube.com/watch?v=zTZDb_iKooI

Home Cinema

Der weiße Tiger. Balram Halwai erzählt seinen düster humorvollen Aufstieg vom armen Dorfbewohner zum erfolgreichen Unternehmer im modernen Indien. Die Gesellschaft hat ihn einzig und allein für eine Sache ausgebildet: Diener zu sein. Also macht er sich für seine reichen Herren, als Fahrer für die eben aus Amerika heimgekehrten Ashok und Pinky, unentbehrlich. Aber nach einer Nacht des Verrats erkennt er das korrupte und zu Gunsten weniger manipulierte System, und Balram beschließt eine neue Art von „Meister“ zu werden. Ein Film von Ramin Bahrani nach dem Debütroman des indischen Journalisten Aravind Adiga, der dafür mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Auf Netflix ab 22. Jänner. Trailer: www.youtube.com/watch?v=HuFypwQQEAA

Ein guter Mensch. Alzheimer im Frühstadium, diese Diagnose verändert das Leben des 65-jährigen Agâh Beyoğlu von einer Sekunde auf die andere. Doch der pensionierte Gerichtsangestellte hat andere Pläne, als sich dem Schicksalsschlag zu ergeben. Vor Jahren wurde in seinem Heimatort ein Verbrechen begangen und im großen Stil verschleiert. Nun beginnt Agâh einen blutigen Feldzug, eine Mordserie, die die Istanbuler Mordkommission bald alt aussehen lässt. Die von Onur Saylak inszenierte Miniserie ist ein hintergründiges Thrillerdrama mit klarem politischen Unterton gegen Erdogan und die AKP. Als rachsüchtiger Rentner wurde Haluk Bilginer 2019 vollkommen zu Recht als bester Schauspieler mit dem International Emmy ausgezeichnet. Bereits zu sehen auf Magenta TV und auf DVD. Trailer: www.youtube.com/watch?v=8sEcx8SX0lU

Der weiße Tiger. © Netflix Originals

Ein guter Mensch. © Magenta TV

Kampf um den Halbmond. © Arte TV

Des. © Lions Gate Entertainment

The Virtues. Joseph in einem Pub in Liverpool. Hier will er all die hinter sich lassen, die ihn verlassen haben, allen voran seine geschiedene Frau, die mit ihrem Sohn und „dem Neuen“ nach Australien ausgewandert ist. Joseph ist ein Wrack, psychisch und physisch, er kauft sich Freunde mit Lokalrunden, um am Ende allein daheim in seinem Erbrochenen aufzuwachen. Die Zuschauerin, der Zuschauer ahnt, dass der Anfang von Shane Meadows‘ Miniserie dies Ende ist. Vier Episoden lang verarbeitet der Regisseur derart die traumatischen Ereignisse seiner eigenen Jugend, und ebenso lang dauert Josephs Martyrium, das einem in nahezu jeder Szene die Kehle zuschnürt – vor Wut, Mitleid, Fassungslosigkeit. Mutig und gesegnet mit der Gabe, in die Verletzlichkeit dieses verlorenen Charakters einzutauchen, spiegelt Stephen Graham dessen Seelenqualen mit Gesicht und ganzer Körperhaltung wider. Warum Graham nicht schon längst zur ersten Liga der internationalen Schauspielerzunft zählt, es ist ein Rätsel … Auf DVD. Trailer: www.youtube.com/watch?v=DOons8oVsmE

Kampf um den Halbmond. Paris, 2014. Antoine ist ein junger und begabter Ingenieur, der erfolgreich in der Baufirma seines Vaters arbeitet. Doch in der Familie gibt es ein Drama: Vor zwei Jahren kam Antoines Schwester Anna, eine junge Archäologin, bei einem terroristischen Attentat in Kairo ums Leben. Antoine versucht, die Trauer zu überwinden und loszulassen, seine Partnerin Loraine und er wollen eine Familie gründen und ein Kind bekommen. Doch eines Tages sieht Antoine in einer Fernsehreportage über kurdische Kämpferinnen in Syrien eine Frau, die Anna sein könnte. Lebt sie und kämpft mit dem Frauenbataillon YPJ gegen den IS? Antoine macht sich auf die Suche nach Anna und gerät in Syrien zwischen die Fronten. Die franko-israelische Serie von Oded Ruskin, Staffel eins mit Félix Moati und Mélanie Thierry aus dem Jahr 2020, mischt Elemente von Thriller, Spionagefilm und Familiendrama und beweist sich als intensiver und informativer Einblick in einen Konflikt, der schwer zu verstehen ist. Eine zweite Staffel ist in Planung. Bereits zu sehen in der ARTE-Mediathek. Trailer: www.arte.tv/de/videos/RC-019886/kampf-um-den-halbmond

Des. Februar 1983. Ein Installateur findet im Abflussrohr eines Londoner Wohnhauses menschliche Knochen. Die Ermittlungen führen schnell zu Dennis Andrew Nilsen, „Des“, der im Verhör angibt, ab 1978 an die fünfzehn junge Männer getötet zu haben. Doch wer sind sie, und warum mussten sie ihre Begegnung mit Des mit dem Leben bezahlen? Auf diese Frage antwortet der von David Tennant verkörperte schottische Serienkiller schlicht: „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.“ Somit zeigt die von Lewis Arnold in Szene gesetzte dreiteilige True-Crime-Serie nicht die Suche nach dem Täter, sondern nach den Opfern, an deren Namen er sich nicht einmal mehr erinnert. Die größte Fahndung in der Geschichte Großbritanniens wird nicht nur aus der Sicht des Mörders, sondern auch aus der unter Druck geratener und rivalisierender Detectives und seines Biografen Brian Masters geschildert. Blut fließt nur im Kopf der Betrachterin, des Betrachters, doch dank der schnörkellosen Tennant-Performance ist das Ganze trotzdem ziemlich grauslich. Bereits zu sehen auf Starzplay. Trailer: www.youtube.com/watch?v=EzXgIV-EJQE

  1. 1. 2021

Nesterval: „Goodbye Kreisky – Willkommen im Untergrund“ als interaktive Live-Zom-Version

November 26, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Wahlgrotesken ist …

Astôn Matters als Patrizia Rot, Tochter der Goodbye-Kreisky-Gründerin Gertrud Nesterval (l.) mit den BedROTen und dem Analyseteam. Bild: © Alexandra Thompson

Da dies die Besprechung einer Nesterval-Produktion ist, die frohe Botschaft zuerst: Für die Performances bis 12. Dezember gibt es noch Tickets. Und derer sollte man sich gleich mehrere sichern, hat man doch bei der gestrigen Uraufführung gerade mal acht von 80 Szenen gesehen – wie man danach in der Zoom-Plauderei erfährt. Denn der Spezialtrupp für immersive Theaterformen nützt, wie beim mit dem Nestroy-#Corona-Spezialpreis ausgezeichneten „Kreisky-Test“

(Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39561), auch fürs zweite Lockdown-Abenteuer die Meeting-Plattform. Dessen Kenntnis ist keine Vorbedingung für „Goodbye Kreisky – Willkommen im Untergrund“. Mit dem Mail zum Teilnahmelink erhalten die Zuschauerinnen und Zuschauer jenen zu einem Filmessay von Jonas Nesterval, ein Was-bisher-Geschah über seine buchstäblich vom Erdboden verschluckte Mutter Gertrud, plötzlich auftauchende Briefe, Pläne, Paranoia wegen diffuser Bedrohungen, ein in jeder Hinsicht fantastisches Projekt …

Kurz, die mittels Gertrud Nestervals Kreisky-Test auserwählten Bewohnerinnen und Bewohner eines sicheren und sozialdemokratischen Utopia, das heißt: deren letzte Überlebende, wurden dieser Tage bei Bauarbeiten am Karlsplatz ausgegraben. Mehr als 50 Jahre waren sie in der dem U-Bahn-Bau untergeschmuggelten Anlage insoliert, in dieser 200 Meter tief gelegenen Stadt unter der Stadt, nun, da sich der Nesterval-Fonds für die Findlinge verantwortlich fühlt, wurden sie in eine geheime „Arena“ gebracht.

Wo wenige Auserwählte, das Publikum in sechs Gruppen à  zwölf Personen, sie live und in Farbe beobachten dürfen, ja, müssen, gilt es doch in enger Zusammenarbeit mit dem Analyseteam über das weitere Schicksal der „psychisch wie physisch fragilen“, nunmehr von 50 Kameras „beschützten“ BedROTen zu entscheiden – und anschließend die Rechtmäßigkeit der Geschehnisse zu bestätigen. Da sträuben sich erstmals die Nackenhaare, in Arenen ist – siehe argentinische Militärjunta – schon eine Menge Böses passiert.

Die Bergung der Pflegerin Ludowika Weiß: Rita Brandneulinger. Bild: © Lorenz Tröbinger für Nesterval

Special Guest Eva Billisich als Analyse008_Daniela. Bild: © Lorenz Tröbinger für Nesterval

Die VersorgerInnen: Romy Hrubeš mit Martin Walanka und Johannes Scheutz. Bild: © Lorenz Tröbinger für Nesterval

Gertrud Nesterval mit dem Nestroy Corona-Spezialpreis: Astôn Matters. Bild: © Alexandra Thompson

Und dem Familienfonds für karitative Zwecke, gegründet, man erinnere sich, von Martha Nesterval als eine Art Wiedergutmachung für das Treiben der Sippschaft im Dritten Reich, nämlich der Herstellung von Waffen unter Einsatz von Zwangsarbeitern, ist ohnedies nur bedingt zu trauen. Aber schwupps, schon hat einen Analytikerin Alexandra, Spielerin Julia Fuchs, zur Nummer 606 der entsprechenden Kommission gekürt, und nicht ohne Stolz möchte man erwähnen, dass man von deren anderen Mitgliedern alsbald zur Sprecherin gewählt ward.

Wahl – das ist das Thema. Denn die Vorsitzende Maria Grün, dargestellt von Performerin Alexandra Thompson, die diese Funktion seit Gertruds Ableben im Jahre 1997 innehat, wirkt zunehmend vergesslich, verwirrt, rücktrittsreif. Befindet der Rat der Frauen, Männer haben nämlich in Gertruds Unterwelt nichts zu melden, der Rat, in den jeder Clan eine Vertreterin entsendet. Als da wären: Rot, die VerwalterInnen, Patrizia und Ehemann Theo, sowie die gemeinsamen Kinder Franka, Roberta und Maggo – Astôn Matters, Alkis Vlassakakis, Laura Hermann, Michaela Schmidlechner und Willy Mutzenpachner.

Grau, die Ideologinnen, die Schwestern Viktoria und Raffaela – Miriam Hie und Claudia Six. Weiß, die PflegerInnen-Geschwister Ludowika, Anna und Erich – Rita Brandneulinger, Chiara Seide und David Demofike. Schwarz, die VersorgerInnen, Petra und ihre Was-auch-immer Jannik und Julian – Romy Hrubeš, Martin Walanka und Johannes Scheutz. Die Koproduktion mit brut Wien wie stets angeleitet von Herrn Finnland und Frau Löfberg, und im Analyseteam Christopher Wurmdobler als Jonas Nesterval und Special Guest Eva Billisich.

Verantwortliche für Kunst und Kultur gibt es keine, KünstlerInnen wurden von Gertrud als nicht systemrelevant erachtet, „Kunst kann man machen, wenn die Arbeit vorbei ist“, befindet Patrizia Rot, und wiewohl man gebeten wurde, nicht zu spoilern, darf man verraten, dass sie der großen Vorkämpferin leibhaftige Tochter ist. Dieser (no na) wie aus dem Gesicht gerissen, und weder psychisch noch physisch fragil, sondern voll des süffisanten Anspruchsdenkens. Aufzug wie Aufmarsch sind militärisch, die Frauen starken Willens, die Männer unemanzipiert und rechtlos. Ein wenig gemahnt das Setting an die Siebzigerjahre-Serie „Star Maidens“ mit Pierre Brice über ein Alien-Matriarchat, in dem die Männer in „Die Abhängigen“ und „Die Unfreien“ aufgeteilt waren.

Vorsitzende Maria Grün und Truppe: Alexandra Thompson, Miriam Hie, Astôn Matters als Patrizia Rot (Mi.) und Chiara Seide. Bild: © Lorenz Tröbinger für Nesterval

Das folgende Macht-Spiel um die neue Führungsfrau ist spannender als es „Der Kreisky-Test“ war, wenn auch mit weniger Interaktion, da mit den BedROTen kein Kontakt aufzunehmen ist. So gilt es für die Kommission – bestehend aus stimmberechtigten Frauen, nicht stimmberechtigten Männern, vier ins Bild drän- genden Katzen, einem Hund mit Streichelbedarf, sechs Flaschen Wein, zwei Bier et al./kohol– zu beschließen:

Wem folgen, welchen Weg einschlagen, welcher davon ist ein Irr- oder Ab-? Wie in jedem guten Thriller ist frei nach Hitchcocks Lehre kein Hinweis null und nichtig. Die innerfamiliären Konflikte, ältliche Despotinnen, junge Revolutionärinnen, Papakinder, Geschwisterzwistigkeiten, heimliche Liebespaare, Verschwörerzellen, Fluchtwillige, Fortschrittsverweigerer, Zukunftspessimisten, ihnen allen sollte die Kommission genau zuhören, um zu einem Schluss zu gelangen. Und so robbt man durch politische Grabenkämpfe diverser „demokratisch legitimierter“ Leitfigurinnen, angesichts deren Sesselsägerei jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen heimischen Wahlgrotesken eh-schon-wissen ist.

Im digitalen Kämmerlein hat die Kommission schließlich die Chance, sich zu besprechen und ein Votum abzugeben – und siehe, was der/dem einen Sekte, ist der/dem anderen ein sozialistisches Paradies, jedoch: was ist eigentlich diese „lukrative und vielversprechende“ Idee, die der Nesterval Fonds für die Überlebenden anpreist? „Goodbye Kreisky – Willkommen im Untergrund“ ist ein sozialistischer Spaß, und am Ende so zynisch, wie es nicht einmal Walt Disney erfinden hätte können. Nach einem im Wortsinn geistreichen Schlussgag, gibt’s als Belohnung via E-Mail einen weiteren Geheimlink vom Feinsten.

Und statt des Nesterval-üblichen Zusammensitzens ein virtuelles Get-Together mit den anderen Kommissionen, den Back-ups und dem Analyseteam. Bei dem von jenen Gruppen, die einen anderen Weg als die eigene eingeschlagen haben, allerlei Wissenswertes über beispielsweise eine rituelle Waschung der Männer oder das Zusammentreffen der Gertrud-Nachkommen Jonas und Patrizia zu erfahren ist. So wurd’s mit Performance und Plauderei beinah 23 Uhr, bis man den Zoom-Raum endlich verließ. Mitte März soll ein Zusammenschnitt der besten Goodbye-Kreisky-Momente auf der Nesterval-Webseite folgen. Da hofft man natürlich, mit einem speziellen „Auftritt“ dabei zu sein. Freundschaft? Freundschaft!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=n9d0HrRlGeU           vimeo.com/456901428           brut-wien.at           www.nesterval.at

  1. 11. 2020

Kammerspiele: Monsieur Pierre geht online

Oktober 30, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der diskrete Charme des alten Grantscherm

Kongeniales Herrendoppel: Wolfgang Hübsch und Claudius von Stolzmann. Bild: Rita Newman

Ach, man ist ja sowieso befangen, weil man erstens den Film mit Pierre Richard schon so gemocht hat, und zweitens … Wolfgang Hübsch! An den Kammerspielen der Josefstadt brilliert dieser nun als Protagonist in „Monsieur Pierre geht online“, der Theateradaption jener französischen Filmkomödie, die Stéphane Robelin vor drei Jahren dem „großen Blonden“ auf den Leib schrieb (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=25662), und

Hübsch mit seinem Grantscherm-Charme ist einfach hinreißend. Wie er als Pierre über die Bühne tänzelt, wenn’s nach seinem Willen geht, wie den sein Rückenleiden immer dann ereilt, wenn’s für ihn zum Vorteil ist, Hübsch gibt sich als kauziger, verschmitzter, schlitzohriger Komödiant, der wie jeder Meister dieser Disziplin auf die Melancholie nicht vergisst. Zwar ist er kein „Pierrot“ wie der Richard, auch wenn dies sein Nickname ist, und bei weitem kein sanftmütiger Schalk. Nein, der sitzt Hübsch vielmehr im Nacken, wenn er als manipulativ mitleidheischender Miese-Peter die Wiener Variante des Pariser Witwers gibt.

Monsieur Pierre also hat im Leben nur noch das eine Interesse, sich alte Filmaufnahmen seiner verstorbenen Frau anzuschauen. Nichts treibt ihn mehr vor die Tür, er bunkert sich ein in seiner Wohnung und seiner Trauer und verwahrlost zusehends. Weshalb Tochter Sylvie einen sinistren Plan schmiedet: Der neue Freund ihres Nachwuchs‘ Juliette, ohnedies ein nichtsnutzig-arbeitsloser Autor, soll dem Alten Unterricht in Sachen Internet geben – ohne, dass der von Alex‘ Verhältnis zu Juliette weiß.

Nach Einstiegsschwierigkeiten flutscht das Ganze, und Pierre macht in einem Datingportal die Bekanntschaft von Flora. Er verliebt sich, doch kann er sich nicht als 80-jähriger Zausel enttarnen. Also muss Alex zu seinem Fleisch und Blut werden, während er selbst aus der Deckung immer gewagtere, intimere Postings abschickt. Klar, dass das nicht gutgehen kann … Eine moderne Cyrano-Erzählung war das weiland bei Robelin, worauf Regisseur Werner Sobotka aber weitestgehend verzichtet.

Was Wunder, hat er Wolfgang Hübsch mit Claudius von Stolzmann als Alex doch einen kongenial schöngeistigen Konkurrenten im Kampf um Floras Gunst an die Seite gestellt. Die fabelhafte Textfassung von Folke Braband beschert dem Ensemble ein Powerplay an bissigem Pointen-Ping-Pong, der Dialog analog-digital macht einen Gutteil des Humors aus. Dessen missverständliche Untiefen durchwaten die Darsteller mit sichtlichem Vergnügen. Sagt Alex, Pierre müsse ein Fenster öffnen, fragt der: „Im Schlafzimmer?“ – und persönlicher Favorit ist dessen Ansage, er hätte etwas auf „Goggl Mops“ gefunden.

Susa Meyer als selbstgerechte Tochter Sylvie. Bild: Rita Newman

Monsieur Pierre fesch und auf Freiersfüßen. Bild: Rita Newman

Martina Ebm gibt sich ganz mädchenhaft. Bild: Rita Newman

Werner Sobotka hat für Wolfgang Hübsch mit Witz und Herzenswärme und viel Sinn für Details ein Virtuosen-Stück voller Zwischentöne inszeniert, hat sich behutsam dem Thema Alterseinsamkeit gewidmet, dazu Aktuelles von Homeoffice bis Zoomkonferenz eingeflochten, und es ist wunderbar, wie der Musical- und Operettenaffine diesen Abend zum Walzertanzen bringt. Das Bühnenbild von Walter Vogelweider wechselt von Pierres staubiger Bücherhöhle zum kühlen Neonchic von Sylvies Apartment und der Brüsseler Bar, in der Pierre/Alex Flora zum ersten Mal trifft. Auf kleinen Videowänden allüberall läuft der Chat, poppen Portale auf, wird geskypt.

Und noch einmal: Welch ein Paar, Hübsch und von Stolzmann, deren Beziehung sich sozusagen vom Duett zum Duell, von der Männerverschwörung zum gegenseitigen Fallensteller zum von der Damentrias in die Ecke argumentierten und alsbald aufgeflogenen Schwindler-Duo entwickelt. Pierre und Alex schenken einander mit ihren eifersüchtigen Aktionen nichts und Hübsch und von Stolzmann damit alles, wenn sie das Lügenmärchen des anderen derart aufbauschen, dass der nicht mehr weiß, wie raus aus der Sache.

Buchhändler Pierre gibt sich bei Flora als Sinologe aus, womit er Alex von dessen Computer-Fachchinesisch in die Zwickmühle eines falschen Mandarin bringt, aus Rache macht der aus dem „Großvater“ einen Vulkanologen, worauf Pierre für Flora in Windeseile ein paar Lava-Abenteuer erfinden muss. Herrliche Szenen sind das, wenn Pierre von Langzeitloser Alex mehr Selbstbewusstsein fordert, „Wie steh‘ ich denn sonst da!“ und „Hoffentlich ist sie nicht enttäuscht!“, oder wenn Sylvie für den Vater schon ein Altersheim ins Auge fasst, und ihn schließlich fesch und auf Freiersfüßen wiederfinden muss.

Verblüfft von der weiten Welt des Webs. Bild: Rita Newman

Die Chat-Kulisse. Bild: Rita Newman

In der Zwickmühle schmerzt der Rücken. Bild: Rita Newman

Familienverhör, re.: Larissa Fuchs. Bild: Rita Newman

Susa Meyer gibt diese Sylvie mit dem Beamtenpragmatismus einer, auf deren selbstgerechten Schultern die ganze Familie lastet. Großartig, wie ihre Moralvorstellungen als schlüpfrige Gedanken auf und davon galoppieren, glaubt sie doch in Physiotherapeutin Flora eindeutig eine „Masseuse“ zu erkennen. „Monsieur Pierre geht online“ ist ein Verwechslungsschwank vom Feinsten, Wortverdreherei par excellence, die Situationen durch ihre Fehldeutungen „Spiel, Satz & Sieg“ in der Schwebe gehalten, ohne jemals auf plumpen Boden zu prallen.

Martina Ebm stattet Flora mit genau der ernsthaft romantischen Mädchenhaftigkeit aus, der man zutraut, in Pierre eine neue Jugendlichkeit und in Alex den draufgängerischen Liebhaber zu entfachen. Die Juliette von der mit Lebenspartner Johannes Krisch ans Haus gewechselten BE-Schauspielerin Larissa Fuchs wird von Anfang an auf die Art Karrierebiest getrimmt, von dem Alex ein Abschiednehmen nicht schwerfallen kann.

Keine Angst, für alle gibt’s ein Happy End. Pierre, Sylvie und Juliette sind nämlich eine David-Trauergemeinde, Juliettes Ex, der nach Shanghai gegangen ist, und mit dem – Martin Niedermair – sie immer noch videotelefoniert. Weshalb Alex zum Gaudium des Publikums mit glühenden Ohren die schlimmsten Dinge über sich und sein Schmarotzertum in Sylvies „Hotel Mama“ hören muss, bis David nach Paris zurückkehrt. Für Pierre hat Alex den gleichen Schabernack parat, wie der zuvor für ihn. Und schließlich öffnet auch Sylvie das Tor zum Datingportal …

Für einen Moment zugeschaltet hat sich in seiner Aufführung auch Werner Sobotka als Fernsehmacher Frederic, der von Alex Pitches für eine Gerichtsmediziner-Serie fordert, etwas, das die alten Zuschauer nicht vergrault und die jungen dennoch unterhält. Das scheint wie ein Motto über diesem rundum geglückten, supersympathischen „Monsieur Pierre“ zu stehen, dem man auch nach dem morgigen Samstag noch viele Vorstellungen wünscht.

Video: www.youtube.com/watch?v=988WHzW-w2w           www.josefstadt.org

  1. 10. 2020

brut: Der Kreisky-Test. Nesterval geht erstmals online

April 23, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Genießt die Genossen vor der Webcam!

Nesterval – Der Kreisky Test: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, und in der Mitte Astôn Matters als Gertrud Nesterval. Bild: © Rita Brandneulinger

Die gute Nachricht ist, wegen des großen Online-Erfolges gibt es ab 4. Mai Zusatz- vorstellungen, für die der Vorverkauf am 27. April um 13 Uhr auf brut-wien.at startet. Sonst wär’s irgendwie hirnrissig gewesen, hier über die neue Nesterval-Produktion zu schreiben, deren erste #StayAtHome-Performance, die via Zoom-Meeting stattfindet, und dabei wie immer immersiv, interaktiv, live – und bis 28. April komplett ausverkauft ist.

Schwierig ist das Schreib-Unterfangen hier sowieso, bitten einen die Drag- und anderen Artists im Anschluss an die Session doch ausdrücklich im Sinne eines künftigen Publikums nichts zu spoilern. Nesterval-Auskennern sei im Gegensatz zur bei der „Dunklen Weihnacht im Hause Grimm“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36227) erlittenen Schlappe also nur verraten: We did it diesmal! Vorm wunderbaren Sechziger-Jahre-Wandverbau empfängt einen um nichts weniger wundersam Astôn Matters als Dr. Gertrud Nesterval, das heißt, die Dame befindet sich in einem schwarzweiß-knistrigen Archivfilm, von dem aus sie die Kameradinnen und Kameraden an den Bildschirmen begrüßt.

Das Anliegen der ehemaligen Bruno-Kreisky-Anhängerin ist tatsächlich ein siedend heißes, sei doch die sozialistische Idee nach wie vor in Gefahr, und, nein, sie teile den Fortschrittsoptimismus des großen Vorsitzenden ganz und gar nicht, aber wer höre sie schon – als Frau. Entwickelt hat die Linienuntreue ergo einen Plan, um ihre politische Heimat zu schützen, den sogenannten „Kreisky-Test“, mittels dessen jene Auserwählten ausgeforscht werden sollten, die in der auf Rot gewendeten Utopia „Goodbye, Kreisky!“ des Wartens auf bessere Zeiten würdig wären. Dann verschwanden die Nesterval und ihre Idee auf Nimmerwiedersehen.

Bis der Nesterval Fonds für karitative Zwecke, gegründet, man erinnere sich, von Martha Nesterval als eine Art Wiedergutmachung für das Treiben ihrer Familie im Dritten Reich, nämlich der Herstellung von Waffen unter Einsatz von Zwangsarbeitern, das Experiment wieder aufgriff. Das sich nunmehr bereits im letzten Versuchsstadium befindet. Mit vier Kandidatenpaaren, deren linke Lauterkeit die Testerinnen und Tester aka das Publikum in einem mehrstufigen Verfahren zu überprüfen angehalten sind. Wie gewohnt werden die, die richtig wählen, zu Gewinnern gekürt, kollektive Intelligenz ist gefragt, daher wird man auch diesmal in Kleingruppen geteilt – und los geht’s.

Statt im Studio brut von Raum zu Raum nun eben auf einer Virtual Room Tour. Bei der man in den Einzelbefragungen die Wiener Jo und Moritz, die die Sozialdemokratie mit der Muttermilch eingesogen haben und denen „Freundschaft!“ über alles geht, Sneza und Dalibor, die Geschwister aus Novi Sad, Partisaninnen-Enkel mit Migrationshintergrund, Sofia und Davide, Mutterfigur und Hausmann aus Sansepolcro, und Valerie und Blanca aus Santander, die erfolgreiche Architektin und ihre Aufputz-Ehefrau, kennenlernt. Die Spieler Christopher Wurmdobler, Johannes Scheutz, Romy Hrubeš, Bernhard Hablé, Andy Reiter, Niklas-Sven Kerck, Laura Hermann und Julia Fuchs schlüpfen in diese Rollen, das Game-Setting erdacht von Herrn Finnland und Frau Löfberg.

Ein Analyseteam gibt die Fragen zum Abarbeiten vor, über Kindheit, Besitztümer, Probleme, Bruder-Schwester-Sex, was wäre aus einem brennenden Haus zu retten, mit wem ein Abendessen angenehm, einmal mehr gilt es Absichten zu durchleuchten, während über Solidarität und Großmütter, die Biografie von La Pasionaria und die Politik-Einimpferin Tante Isabelle schwadroniert wird. Ein bisschen zu technisch ist das alles, buchstäblich und bildlich, denn beim Monitoring von Wertvorstellungen und dem Aufspüren möglicher Verräter wird man vom unsichtbaren Überwachungssystem in brüskem Tone ausgebremst. Keiner kann hier fragen, wie er will.

Bild: © Lorenz Tröbinger

Bild: © Herr Finnland

Bild: © Lorenz Tröbinger

Bild: © Lorenz Tröbinger

Und während einem vielleicht Jos Angespanntheit beim Nachhaken nach seinen Eltern, Blancas Abscheu vor den männlichen Kandidaten: „Wir werden Männern dieses Projekt nicht auch noch überlassen“, oder die seltsamen Floskeln, mit denen Dalibor den Kampfgeist von Sneza lobt, auffällt, während sich in Phase drei Blanca und Dalibor „bei allem Respekt“ gegenseitig der Intoleranz und Unfairness beschuldigen, all das kostet wertvolle Minuten, in denen man des Rätsels Lösung näherkommen wollte, geht einem der faschistoide Kommandoton aus dem Hintergrund mehr und mehr auf die Nerven.

Noch eine Vorschrift, noch einmal „Achtung, Achtung!“ und ich lauf‘ Digital-Amok, die Nestervals orgeln gekonnt auf der Klaviatur der Gefühle, auch der eigenen, Feminist Jo verlässt nach einer „Scheißfrage“ enerviert sein Bildschirmfenster und muss mit viel Überredungskunst zurückgebeten werden, worauf er einem leutselig, siehe oben, seine „Freundschaft!“ anbietet: „Du kannst dich immer auf mich verlassen!“, Dalibor wird vom Big Brother mit Sanktionen bedroht, weil er sich übers Kantinenessen beschwert.

In den knackigen 80 Minuten der Performance werden die Teilnehmer mehr und mehr zusammengeschaltet, bis wieder alle online versammelt sind, um zu entscheiden, wem sie ihre Gunst erteilen. Es folgt – zu hochdrama- tischer Musik – Phase 5, der „Gertrud-Test“, psst: Plot-Twist, nicht zu viel, nur die Worte Heimlichkeiten, Kadaver- gehorsam, wahres Gesicht, und siehe Klubzwang: Immer drauf achten, in welchem Club man sich befindet!

So weit also zum „Kreisky-Test“, der freilich eine Fleisch-und-Blut-Begegnung mit dem Nesterval-Trupp nicht ersetzen kann, aber wenn schon Theater online, dann bitte so. Genießt die Genossen vor der Webcam! Den Applaus dafür kann man am Ende auch via Zoom spenden, eine Fortsetzung im Real Life soll’s im Herbst geben. Das übliche Nesterval-Gettogether entfällt natürlich, aber wer sich nach Abschluss des Meetings nicht abrupt wegschaltet, kann die Darstellerinnen und Darsteller immerhin noch beim Gedankenaustausch über die eben stattgefundene Vorstellung belauschen.

So funktioniert die Teilnahme: Die Verwendung der kostenlosen Videokonferenz-App Zoom ist Voraussetzung, um bei „Der Kreisky-Test“ dabei zu sein. Erforderlich ist dazu ein Computer oder Laptop mit Kamera und Mikrofon. Am gewählten Vorstellungstag bekommt man via Email einen Teilnahmelink mit Bedienungsanleitung und einer „Notrufnummer“. Im virtuellen Warteraum empfängt einen darauf ein Host, der von nun ab alle weiteren Schritte mit einem durchgeht.

www.nesterval.at

Trailer: www.youtube.com/watch?v=s43c1YngId4           vimeo.com/399959263

Publikumsgespräch am 1. Mai, 20 Uhr, auf brut-wien.at

  1. 4. 2020

Theater zum Fürchten: Höllenangst

Januar 11, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zeitlebens im Joch der Lohnarbeit

Dies großartige Vater-Sohn-Gespann landet auf dem Weg nach Rom natürlich im nächsten Wirtshaus: Philipp Stix und Bernie Feit als Wendelin und Schuster Pfrim. Bild: Bettina Frenzel

In der verpflichtend vorgeschriebenen Zeitstrophe geht es diesmal allerdings darum, was die an Anspielungen alles nicht beinhalten muss, Rattenlyrik, Liederbuch, Ibiza, andere Einzelfälle, damit ein Theater „Haltung“ beweist. Und dann lässt Bruno Max kurz vor Schluss Peter Fuchs als Staatssekretär auftreten. Ein Publikumslachkrampf, gleicht der Schauspieler doch konstitutionstypisch, von Augenglas bis arrogantem Grinsen, jenem Ex-

Innenminister und Polizeipferdefreund, der erst gestern wieder im Nationalrat eine seiner Attacken ritt, – und ordnet auch noch eine diskrete Hausdurchsuchung beim Oberrichter an. Gestern also ging’s nicht nur in der Politik um Metternich, totale Macht und faule Kompromissler, das Theater zum Fürchten zeigte zum 25-Jahr-Jubiläum seines Bespielens der Scala die Wien-Premiere von „Höllenangst“. Der Prinzipal höchstselbst hat die Nestroy-Posse inszeniert und gemeinsam mit Marcus Ganser den Raum geschaffen, in dem das bewährte TzF-Ensemble nun agiert. Klar, kann’s bei Bruno Max beim höllischen Spaß nicht bleiben. Er macht die Komödie zur First Class Farce über Proletariat, Prekariat, Neopauperismus, dies wohl ganz im Sinne des Autors.

Jedoch versteht er es auch, dessen Charakteren etwas Karikaturhaftes anzuhaften. Anno 2020 und angesichts der verschwurbelten Handlung ist die Persiflage ein überaus legitimer Ansatz, das von den Zeitgenossen wegen zu viel Spiegelvorhaltung verhasste Nachmärz-Stück, das nach 100-jährigem Dornröschenschlaf 1948 in der Scala Wien – anderer Ort, ähnliche Progressivität – von Karl Paryla zu neuem Leben erweckt wurde, dem Bruno Max nun zwischen tragikomischer Schicksalsergebenheit und vollmundigem „Meuterei!“-Geschrei einen aktuellen Rock anlegt. Im Sinne von modern, aber nicht modisch zeigt er, wie die Freiheit ein paar Freiheiterln geopfert wird, das Volk längst nicht mehr in der Verfassung, die Einhaltung derselben zu fordern.

Johanna Rehm und Philipp Stix. Bild: Bettina Frenzel

Matthias Tuzar und Magdalena Hammer. Bild: Bettina Frenzel

Peter Fuchs und Leopold Selinger. Bild: Bettina Frenzel

Dort, wo bei Nestroy ein vermeintlicher Satanspakt die gesellschaftlichen Ketten bricht, ist beim TzF ein rahmendes Bild zu sehen. Am Anfang wie Ende stecken die Menschen tief im schwarzen Loch der Fabrik, erst Arbeitssklaven der ausbeuterischen „Strombergs gute Schuhe“-Firma, schließlich vom nunmehr Kapitalisten Reichthal – mit zwar amikalem Schulterklopfen – zurück ins Fließband-Joch der Lohnarbeit gedrückt. Mehr Brechtisches braucht Bruno Max nicht, die Verhältnisse, sie sind schon so, die grundschlechten Leut‘ schikanieren die armen Teufel und armen Narren – zwei davon Vater und Sohn Pfrim, Bernie Feit als permanent ang’flaschelter Flickschuster und Philipp Stix als mit seinen Dämonen ringender, von sich selbst gestellten Wünschen und Forderungen getriebener Wendelin.

Die beiden Darsteller in dieser supersympathischen, sehr amüsanten Aufführung die komödiantischen primi inter pares, vor allem Feit macht aus der Rolle ein versoffen-philosophisches Kabinettstück, das muss erst einmal einer bringen, wieder und wieder durch die Tür zu torkeln, und immer noch ist es lustig. Die TzF-„Höllenangst“ fährt ein ebensolches Tempo, gespielt wird zwischen Sarkasmus, Stunt und Slapstick, Bernie Feit die Pointenschleuder, der seine Umgebung statt mit dem Schusterhammer mit seinen Wuchtln weichklopft, Philipp Stix mit einer Umverteilungsansprache seinen Wendelin als sozialistischen Revolutionär deklarierend. Das Motto heißt: „The Floss“ tanzen und Outrieren bis der Arzt kommt, alle balancieren hier ständig am Rande des Nervenkasperls, aber ehrlich, wie sonst sollte die gegenwärtige Politburleske auf einer Bühne zu toppen sein?

Ein fabelhafter Fürst der Finsternis aka Oberrichter von Thurming ist Matthias Tuzar, virtuos in der Körpersprache, wenn er bei seinem Böser-Geist-Spiel schamlos übertreibt, was dem in Furcht und Schrecken versetzten Wendelin als einzigem nicht zu denken gibt, oder er als fickriger Verliebter die juridische Respektsperson sofort ablegt, sobald sein frisch angetrautes Eheweib ihre Rechte anmeldet. Tuzar turnt mit Bravour durch die wilde Jagd, auf die Bruno Max ihn schickt, TzF-Debütantin Magdalena Hammer ist seine heißblütige Baronesse Adele, die sich nach renitenten Kräften gegen das ihr vom garstigen Vormund bestimmte Novizinnen-Los wehrt.

Ein Jedermann’scher Herzgriff des vermeintlichen Teufels: Matthias Tuzar und Philipp Stix. Bild: Bettina Frenzel

Die vor Angst um ihr Leben bibbernden Pfrims: Sibylle Kos, Philipp Stix und Bernie Feit. Bild: Bettina Frenzel

Der flüchtige Freiherr von Reichthal bei den Pfrims: Sibylle Kos, Georg Kusztrich und Bernie Feit. Bild: Betina Frenzel

Fürs Schuhfabrikvolk bleibt sich’s unter jedem Regime gleich: Kusztrich, Rehm, Feit, Sibylle und Stix. Bild: Bettina Frenzel

Diesen Freiherr und Schuhfabrikanten von Stromberg gestaltet Leopold Selinger als sleeken, teflonbeschichteten Machthaber, sein Gehabe so gegelt wie sein Haar, und wie er da so im Führerbunker neben Peter Fuchs steht, ist jede Ähnlichkeit mit real existierenden Volksverdrehern, äh, -vertretern freilich rein zufällig. Mit Georg Kusztrich als flüchtigem Freiherr von Reichthal hat Selinger einen starken Widerpart. Sibylle Kos ist grandios als Pfrim-Ehefrau Eva, die dem Leibhaftigen im Herrgottswinkel zu entfliehen versucht. Johanna Rehm ist als Baronessen-Zofe Rosalie – in einem der wunderbaren Kostüme von Anna Pollack – ein hinreißend-sexy Kammerkätzchen, das in Windeseile vom Schnurren zum Krallen-Ausfahren wechseln kann.

Michael Werner, Leonhard Srajer, Philipp Schmidsberger und Valentin Ivanov runden als Fabriksmalocher, Gendarmen, Erscheinungen den Cast ab. Tuzars Thurming treibt Stixs Wendelin mit einem Jedermann’schen Herzgriff zum Äußersten, gemeinsam mit Feit-Pfrim begibt er sich auf Pilgerreise nach Rom, die mit dem was Wein betrifft pragmatischen Vater in der nächsten Wirtsstube endet. Alldieweil decken nicht Smartphone-Chats, sondern gute alte Briefe die Intrige Strombergs auf – Happy End einer tumultösen Geschichte! Den Teufel, der im Detail steckt, hat das Theater zum Fürchten mit dieser Arbeit spielfreudig bezwungen. Diese „Höllenangst“ ist mit ihrem gekonnten Mix aus Sozialkritik, Politsatire und Komödie ein Spektakel der Extraklasse.

www.theaterzumfuerchten.at

  1. 1. 2020