Das Sigmund Freud Museum ist wieder geöffnet
August 30, 2020 in Ausstellung
VON MICHAELA MOTTINGER
Vom Erfinden der Psychoanalyse bis zur Flucht 1938

Wartezimmer von Freuds Praxis. Bild: Hertha Hurnaus/Sigmund Freud Privatstiftung
Das Sigmund Freud Museum in der Wiener Berggasse 19 öffnete gestern nach eineinhalbjähriger Umbauzeit und #COVID-19-bedingter Verzögerung wieder seine Pforten: renoviert, erweitert und barrierefrei. Der „Ursprungsort der Psychoanalyse“, an dem der berühmte Arzt, Psychoanalytiker und Theoretiker Sigmund Freud beinahe ein halbes Jahrhundert lang lebte und wirkte, präsentiert sich mit modernisierten und erweiterten Museumsflächen inklusive
Foyer mit Shop und Café sowie einer neugestalteten Forschungs-und Kommunikationsplattform: Europas größter „Bibliothek der Psychoanalyse“. Drei neu konzipierte Dauerausstellungen, eine Kunstpräsentation im Schauraum Berggasse 19 und eine Sonderausstellung vermitteln Freuds vielschichtiges kulturelles Erbe – sie sind seinem Leben und Werk gewidmet, der Entwicklung der Psychoanalyse in Theorie und Praxis und ihrer Bedeutung für die Bereiche Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst. Auch die Geschichte des Hauses Berggasse 19 sowie die bewegten Schicksale seiner Bewohnerinnen und Bewohner werden ins Blickfeld gerückt.
Die Beletage bleibt zur Gänze der Wissenschaft vorbehalten: Europas größter„Bibliothek der Psychoanalyse“, ausgestattet mit einem neuen Lese-und Vortragssaal, und dem Museumsarchiv. Im neu eingerichteten Foyer sind Museumsshop und Café untergebracht. Die Ausstellungsfläche wurde im Zuge des Umbaus auf circa 550 m² nahezu verdoppelt. Damit sind alle Räume, in denen Freud mit seiner Familie lebte und arbeitete, museal erschlossen: Das gesamte Mezzanin – die Privatwohnung der Familie und die Ordinationen von Sigmund und Anna Freud – bietet umfassende Informationen, die von den historischen Entwicklungen der Psychoanalyse bis hin zur kritischen Beleuchtung ihrer aktuellen Anliegen reichen. Die zeitgemäßen Bezüge werden in der ersten Sonderausstellung „Die unendliche Analyse. Psychoanalytische Schulen nach Freud“ aufgezeigt.
In einem neuen Stiegenhaus, das die Museumsgeschoße miteinander verbindet und einen Rundgang durch alle Ausstellungsräume ermöglicht, steht die Geschichte des Hauses und die seiner Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelpunkt. Die ehemaligen Ordinationsräume im Hochparterre werden zum Schauplatz der Kunst: Die von Joseph Kosuth initiierte Sammlung umfasst Werke von John Baldessari, Pier Paolo Calzolari, Susan Hiller, Ilya Kabakov und Franz West, die dort gezeigt werden, wo Freud einst seine Traumdeutung schrieb. Im „Schauraum Berggasse 19“ an der Außenfront des Hauses wird die Installation „Hellion“ des amerikanischen Künstlers Robert Longo präsentiert.

Aussenansicht mit Robert Longo: untitled (Hellion). Bild: Hertha Hurnaus/Sigmund Freud Privatstiftung

Sigmund Freud. Bild: pixabay.com

Herrenzimmer Sigmund Freuds. Bild: Hertha Hurnaus/Sigmund Freud Privatstiftung
An den Wänden wurden Spuren der früheren Nutzung erkennbar freigelegt: Ursprüngliche Wandbemalungen, Tapeten, Befestigungsspuren des Teppichs, der über Freuds Behandlungscouch an der Mauer angebracht war bis hin zu einer Telefonleitung in Tochter Anna Freuds Schlafzimmer wurden von Restauratorinnen befundet und geben Zeugnis von den Raumnutzungen zu Freuds Zeiten. Ausgewählte Fotos, die Edmund Engelman 1938 heimlich und unter Einsatz von Mut und technischem Geschick vom Interieur der unter Gestapo-Observation stehenden Berggasse 19 machen konnte, geben den Besucherinnen und Besuchern Aufschluss über die originale Einrichtung und die Anordnung der Praxisräume vor der Flucht 1938.
Die Privaträume der Familie sind der Ausstellungsidee folgend Freuds Leben als Familienvater und seinem Werdegang als junger Arzt und Neurologe gewidmet. Objekte wie frühe Krankenhausdokumente und medizinische Instrumente, aber auch sein Reisenecessaire, Geschenke an die spätere Ehefrau Martha und weitere persönliche Gegenstände geben Auskunft über das Familienleben. Die Traumdeutung steht im Zentrum des ehemaligenSchlafzimmers der Freuds –Hörstationen ermöglichen dort eine Begegnung mit Sigmund Freuds Träumen, gelesen von Birgit Minichmayr und Philippe Sands. Auch originale Möbel gelangen in den Privaträumen erstmals zur Aufstellung: So konnte als Dauerleihgabe des Freud Museum London eine Kommode gewonnen werden, die im sogenannten „Herrenzimmer“ mit demzugehörigen Intarsientisch einen Teil des originalen historischen Ensembles bildet.
Auch über die gewaltbehaftete Geschichte nach Freuds Vertreibung durch die Etablierung von „Judensammelwohnungen“ wird berichtet – insgesamt 76 Personen mussten im Haus Berggasse 19 auf ihre endgültige Deportation in Vernichtungslager warten. In seinen täglichen Aufzeichnungen notiert Freud am 14. März 1938:„Hitler in Wien“, diesem Eintrag folgt schon am darauffolgenden Tag „Kontrolle in Verlag und Haus“ und nur eine Woche später am 22. März: „Anna bei Gestapo“. Heute vermutet man, dass erst die Festnahme seiner jüngsten Tochter Anna und die bangen Stunden des Wartens auf ihre unversehrte Rückkehr, Freud dazu bewogen haben, seine Heimat zu verlassen – um wie er in der Sprache des Exils schreiben wird „to die in freedom“.
Der gelungenen Flucht Freuds und seinem engsten Familienkreis ins Londoner Exil, seinem Bruder Alexander und dem Schicksal seiner Schwestern Rosa, Marie, Pauline und Adolfine, ihrer Ermordung in den national- sozialistischen Vernichtungslagern Theresienstadt und Treblinka, ist eine eigene Sektion auf der Galerie des Foyers gewidmet, die über das neue Treppenhaus erreicht wird. Die Galerie gibt nicht nur den Blick auf jenen Kabinenkoffer frei, in dem Besitztümer der Familie Freud ins Exil verfrachtet wurden, sondern ebenfalls hinunter auf die Berggasse, die Freud am 4. Juni 1938 nach 47 Jahren für immer verließ.

Granatmedaillon mit Fotos der Kinder Freuds. Bild: Günter König/Sigmund Freud Privatstiftung

Verborgene Gedanken Visueller Natur. Bild: Hertha Hurnaus/Sigmund Freud Privatstiftung

Juwelierschachtel mit Widmung von Sigmund Freud an Martha. Bild: Günter König/Sigmund Freud Privatstiftung

Arzttasche Sigmund Freuds. Bild: Günter König/Sigmund Freud Privatstiftung
Berggasse 19 – ein Ort des Gedenkens: Zum einen ist diese Adresse „Ursprungsort der Psychoanalyse“, an dem Freud die menschliche Psyche und das Unbewusste erforschte und so den Menschen eine neue Selbstsicht eröffnete, die bis heute ihren Niederschlag in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft findet. Gleichermaßen fungiert dieser Ort als Mahnmal und Gedenkstätte für den Verlust von Kultur und Menschlichkeit unter dem Terrorregime des Nationalsozialismus: Angesichts der historischen Verantwortung Österreichs und Wiens dient die Berggasse 19 dem Gedenken und der Erinnerung an all die vertriebenen und ermordeten Österreicherinnen und Österreicher.
30. 8. 2020