Monsieur Claude und sein großes Fest

Juli 26, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Trilogie der Toleranz-Witzchen

Oh, wie schön ist Frankreich: Claude (Christian Clavier) zeigt den Multikulti-Schwiegereltern in stolzer Gastgeberlaune die Sehenswürdigkeiten. Bild: © Filmladen Filmverleih

Aller guten Dinge sind … Was vor acht Jahren als bissige französische Komödie begann, darf sich ab 21. Juli stolz eine Trilogie nennen: Die Monsieur-Claude-Reihe. 2014 war’s, als Claude Verneuil in „Monsieur Claude und seine Töchter“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=10247) erstmals die Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil ihn – nach einem Araber, einem Juden und einem Chinesen – die jüngste Tochter nun zum Schwiegerpapa eines Afrikaners machte. Dieser ein Christ. Immerhin.

„Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?“ (dt.: Was haben wir dem lieben Gott getan?) war denn auch der Originaltitel, gefolgt 2019 von „Monsieur Claude 2“. Nun kommt mit „Monsieur Claude und sein großes Fest“ der Hattrick des Humorkrachers, der ebendiesen ausschließlich aus den Differenzen von Menschen verschiedenster Kulturen destilliert, einem Lächerlich-Machen von Klischees und Vorurteilen, wie’s auch das Rezept der berühmten Asterix-Hefte ist – in die Rolle des gallischen Kriegers war Christian Clavier schon geschlüpft, bevor er als Grantscherm der Grande Nation die Funken sprühen ließ.

Clavier als erzkonservativer, erzkatholischer Monsieur Claude, ein Spießbürger, wie er im Buche steht, nach außen mit weltmännischem Getue, in Wahrheit engstirnig. Und an keiner Stelle vermittelt Regisseur und Drehbuchautor Philippe de Chauveron die Illusion, dass so einer von seiner Voreingenommenheit je geheilt werden könne. Man tut Clavier nicht zu viel der Ehre an, wenn man behauptet, er hätte Monsieur Claude mehr und mehr zu einer molièresken Figur entwickelt.

Sage nun niemand etwas von wegen Aufguss. Die Filme ziehen ihren Zauber aus dem Charme der Darstellerinnen und Darsteller, die einem längst ans Herz gewachsen sind, samt dem des idyllischen Loire-Städtchens Chinon, dazu die wie am Schnürchen ablaufenden Gags, und immer noch ertappt man sich schmunzelnd dabei, das eine oder andere Ressentiment auch schon gehegt zu haben. Wer ist frei von Schuld? In „Monsieur Claude 3“ keiner. Die Tenor des dritten Teils lautet nämlich: Denken in rassistischen Kategorien ist kein Privileg der Weißen.

Man erinnere sich: Um seinen Schwiegersöhnen inklusive seiner Töchter das Auswandern in ihre „Ursprungsländer“ und seiner Frau Marie – liebreizend wie eh und je: Chantal Lauby – viel Herzeleid zu ersparen, brachte Monsieur Claude die Viererbande in Chinon unter: Chao (Frédéric Chau) wurde der neue Bankdirektor, Rachid (Medi Sadoun) eröffnete eine Anwaltskanzlei, für Charles (Noom Diawara) fand sich ein Engagement am Stadttheater – David (Ary Abittan) mit seinen hirnverbrannten Geschäftsideen ist sowieso nicht zu helfen.

Pascal N’Zonzi, Bing Yin, Christian Clavier, Daniel Russo und Abbes Zahmani. Bild: © Filmladen Filmverleih

Farida Ouchani, Nanou Garcia, Li Heling, Chantal Lauby und Salimata Kamate. Bild: © Filmladen Filmverleih

Élodie Fontan, Émilie Caen, Alice David und Frédérique Bel. Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Noom Diawara, Ary Abittan, Medi Sadoun und Frédéric Chau. Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Nun aber begegnet Claude der Verwandtschaft auf Schritt und Tritt. Er fühlt sich zwischen Shabbat-Feiern, Grillfesten, Theaterpremieren und Ségolènes Vernissagen hin und her geworfen, die Dauerdepressive hat sich aufs Malen von Schlachthausgemälden verlegt. Charles als schwarzer Jesus scheint ihm ebenso widersinnig, wie ein Gartenkrieg zwischen David und Rachid, des einen Apfelbaum macht des anderen Petersilie platt, Rachid: „Wir sind nicht in Palästina! Hier hast du nichts zu annektieren!“ Nur, dass es in der Ehe von Ségolène und Chao kriselt, hält ihn aufrecht, wittert Claude doch seine Chance, das Töchterchen mit dem deutschen Kunstsammler Helmut Schäfer (Jochen Hägele) zu verkuppeln, den er für den perfekten Schwiegersohn hält.

Andernorts hat man andere Pläne. Bei Verneuils steht der 40. Hochzeitstag ins Haus, und Isabelle (Frédérique Bel), Ségolène (Émilie Caen), Laure (Élodie Fontan) und Odile (neu: die aparte Alice David statt Julia Piaton) wollen das Rubin-Jubiläum mit der ganzen, wirklich der ganzen Familie feiern. Ein Auftrag an die Ehemänner, ihre Eltern nach Chinon zu befördern. Weshalb sich alsbald André Koffi (Pascal N’Zonzi) nebst Gemahlin Madeleine (Salimata Kamate) im schmucken Häuschen einfinden, und war die Konfrontation der beiden Papas schon bisher der Clou, treiben es die Kombattanten mit ihren Toleranz-Witzchen jetzt endgültig auf die Spitze.

Diese Auseinandersetzung nur geschlagen von jener Claudes mit Chaos Vater Dhong Ling (Bing Yin). In einer launigen Rückblende erfährt man, dass die Verneuils beim Peking-Besuch aus Versehen bei einem anderen Ehepaar gelandet sind – zunächst ohne das zu merken. Vater Dhongs Retourkutsche für Claude ist nun bei jeder Gelegenheit ein „Entschuldigung, wer sind Sie? Ihr Weiße seht für uns alle gleich aus.“ Mutter Xhu Ling (Li Helin) hat ihr Alkoholproblem von zu Hause mitgebracht. Davids Eltern Isaac und Sarah Benichou (Daniel Russo und Nanou Garcia) liegen im Dauerclinch wegen eines Brotes – nicht fragen, anschauen.

Die Toleranz-Geplagten: Chantal Lauby und Christian Clavier. Bild: © Filmladen Filmverleih

Besuch aus Afrika: Noom Diawara, Pascal N’Zonzi und Salimata Kamate. Bild: © Filmladen Filmverleih

Christian Clavier, Alice David und Chantal Lauby. Bild: © Filmladen Filmverleih

Wölkchen am Liebeshimmel: Frédéric Chau und Émilie Caen. Bild: © Filmladen Filmverleih

Rachids Mutter Moktaria Benassem (Farida Ouchani) erduldet mehr oder minder still leidend Ehemann Mohamed (Abbes Zahmani), der sich – © Rachid – für den „arabischen Kurt Cobain“ hält, und der, da Schwiegertochter Isabelle ihm einen Gig versprochen hat, die alte Punk-Rock-Band zusammentrommelt. Tatsächlich ist es der krönende Abschluss des Films, wenn Abbes Zahmani, Back Vocals Medi Sadoun, auf dem Fest seinen Song „Sang pour Sang“ singt. Die Versöhnung eines Vaters mit dem Sohn, dessen Geburt er bislang für das Ende seiner Musikerkarriere verantwortlich machte.

Viel mehr brauchten sich die Macher für „Monsieur Claude 3“ nicht auszudenken, es reicht, diese Überfülle an Charakteren aufeinanderprallen zu lassen, um gutgemachtes Mainstream-Kino zu präsentieren, wobei Philippe de Chauveron das Kunststück gelingt, all seinen fast zwanzig Schauspielerinnen und Schauspielern Platz zur Entfaltung zu geben. Was das supersympathische Ensemble mit geballter komödiantischer Power und viel Spiellaune auch zu nutzen weiß.

Klar, dass der israelische Ex-Militär mit dem algerischen Altrocker ein Problem hat, oder der Ivorer dem Chinesen misstraut, weil sich Dhong lange Zeit taub fürs Französische stellt. Einzig die Frauen sind hier völlig vorurteilsfrei, und da sie durch die Bank die Hosen anhaben, macht man sich schließlich auf zu geschlechtergetrennten zweiten Polterabenden, an denen beiden Gruppen die gleiche Demütigung zuteilwird: Altersdiskriminierung.

Vive la différence! Auch „Monsieur Claude und sein großes Fest“ verjuxt Vorurteile mehr, als dass er sie vorführt und entlarvt. Doch die überspitze Stereotypisierung von allen und jedem bewirkt, dass sich das Gerede von „uns“ und „denen“ wie von selbst ad absurdum führt, bis sich aus der Kakophonie der Stimmen der einende gute Ton erhebt: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen …

monsieurclaude.de

20. 7. 2022

Hamakom: Roland Schimmelpfennigs „100 Songs“

September 28, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Happy End ist eine aufgefangene Kaffeetasse

Gottfried Neuner, Sofia Falzberger, Sören Kneidl, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf und Tobias Voigt mit der Toten-Statisterie. Bild: © Marcel Köhler

„Songs Of Love and Death“ hieß vor Jahren das Debütalbum der bombastischen Symphonic-Metal-Band Beyond the Black, und auch wenn deren Dämonentanz im Theater Nestroyhof Hamakom nicht vorkommt, so ist dieser Danse macabre doch exakt Form und Inhalt von Roland Schimmelpfennigs „100 Songs“. Nach dem gesundheitsbedingten Rückzug von Frederic Lion hat die nunmehrige künstlerische Gesamtleiterin des Hauses,

Regisseurin Ingrid Lang, den Text als österreichische Erstaufführung inszeniert. Also sprach Schimmelpfennig über Nietzsches Apokatastasis. Denn des Philosophen zyklisches Geschichtsbild vom verlorenen hin zu einem Zustand der „Allaussöhnung“ und Einheit aller Wesen, wird die kommenden zwei Stunden bestimmend sein – die Gottesfrage sowieso. Auftreten in Schimmelpfennigs szenischer Versuchsanordnung Sofia Falzberger, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf, Sören Kneidl, Gottfried Neuner und Tobias Voigt als vom Autor sogenannte „Gruppe von Frauen und Männern“. Beobachter, Boten, Betroffene, Passanten, Passagiere, gar Erzähler aus dem Totenreich? Ratlos sind sie, da alles „zu kompliziert“, „erschreckend einfach“, „erschreckend kompliziert“ scheint. „Zu weit weg von allem, was man denken kann.“

Schimmelpfennig hat sein Stück im Gedenken an die Madrider Zuganschläge verfasst, Ingrid Lang holt es nach dem Attentat vom 2. November 2020 nach Wien. Das Thema dieser Jukebox der kollektiven Erinnerung ist: der Terror. Die Sprachlosigkeit im Angesicht des Unsagbaren, das betretene Schweigen, die Fantasie des Theaters, über den Tod mit der prallen Wucht des Lebens zu berichten. Zug fährt ein, Trillerpfeife schrillt, im Radio läuft „Bette Davis Eyes“ von Kim Carnes, Sally, der Serviererin im Bahnhofscafé, fällt eine Kaffeetasse zu Boden – und dann: noch mehr Songs, von Iggy Pops „The Passenger“ über „Upside down“ von Diana Ross zur „Road to Nowhere“ der Talking Heads.

„Es war, als ob hunderte Songs gleichzeitig liefen, Tausende von Songs, Millionen, Milliarden“, sagt Tobias Voigt, er und das Ensemble der vielstimmige Chor eines Requiems, eine Pop-Kakophonie aus Liedern, in denen ein paar Minuten ein ganzes Leben besingen. Im zerrissenen Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch entwerfen Schimmelpfennigs Figuren Biografien, Beziehungsprobleme, beiläufige tragikomische Tragödien in Endlosschleife, und dies so banal, dass es besonders ist. Immer wieder von Neuem rekapitulieren sie ihre Sehnsüchte und Schwächen während der Vor-Katastrophen-Frist von 8.51 und 8.55 Uhr. Vier Minuten, und die sogenannte Zivilisation in Flammen, und die Zeit ihre Protagonistin.

Eben noch war Gottfried Neuner der Mann am Fenster gegenüber den Gleisen, schon ist er ein Verletzter auf dem Bahnsteig. Sofia Falzberger singt im Wortsinn den Sirenen-Gesang. Zwischen der zutiefst gläubigen Stripperin/ Ana Grigalashvili, dem Mann aus Kabul/ Sören Kneidl, der Fremdgeherin/ Katharina von Harsdorf, dem Verwaltungsbeamten in den besten Jahren/ Sofia Falzberger und Tobias Voigt als 16-jähriger Friseur-Azubi mit Katie Melua in den Kopfhörern sind die Gendergrenzen gesprengt wie die Waggons. Die Atmosphäre ist: Gefangen im Bardo.

Bild: © Marcel Köhler

Bild: © Marcel Köhler

Bild: © Marcel Köhler

Bild: © Marcel Köhler

Schön die getanzt-gefightete Szene, in der das studentische Liebespaar mit dem in Trennung befindlichen Ehepaar korrespondiert. Eine Frau verpasst die Abfahrt um Sekunden. Was rettet einem das Leben? Der Zufall, die Suche nach den Allergietabletten, Zuspätkommen, die Schicksalsmelodie? Und wieder ist es 8.55 Uhr. Zerfetzte Kopfdialoge, Gedanken-Gänge, Spiegelungen und Selbstgespräche, Trillerpfeifen-Alarm, das Leben, weiß der empathische Soziologe Schimmelpfennig, ist stets nur ein Vielleicht. Gottfried Neuner als Pfarrer, der zum Begräbnis eines 6-Jährigen unterwegs ist, wird in den Raum stellen, ob Gottes An- oder Abwesenheit für den Menschen günstiger ist.

Neuner ist es auch, der die Pferdemetapher aufbringt, mit Sleipnir, Odins achtbeinigem Kampfross; Kneidl, „dunkelhäutig“ und mit Vollbart, liest über Buraq, ein Reittier mit Frauenantlitz, das der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed für seine Himmelfahrt überbrachte; der Pfarrer sieht in den Wolken die apokalyptischen Reiter. Ist das rote Pferd der Krieg oder die Liebe, das schwarze mit der Waage die Teuerung oder die Gerechtigkeit? Das weiße jedenfalls Jesus Christus und das fahle der Tod … Schimmelpfennigs zwischen Traum und Traumata schwebende Auslassungen sind so surreal wie die Sinnfrage, wie das Sterben an sich.

Und immer noch ist in all den ans Publikum gerichteten Paradoxien nicht klar, wer aus dem Figurenreigen der/die SelbstmordattentäterIn sein mag. In Schimmelpfennigs brutaler, vom Ensemble mit Verve auf die Spielfläche gebrachter, galgenhumorig-poetischer Playlist, ist eine oder einer die Vorstellung des und der anderen. Macht. Erregung. Angst? Erregung. Macht. Angst! Diese Topografie des Allzu-Unmenschlichen, dazu die von den Österreich-Touristen Voigt und von Harsdorf brennend ausgebreitete Landkarte, könnte auch nur der Polt einer Profiler-Fernsehserie sein. Eine Totenreich-Statisterie stellt jene St.-Jakobs-Lichter auf, die vor zwei Jahren den Desider-Friedmann-Platz zum Mahnmal machten.

Im vollbesetzten Hamakom singen Sofia Falzberger, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf, Sören Kneidl, Gottfried Neuner und Tobias Voigt „Don’t Dream It’s Over“ von Crowded House, hey now, hey now, eine Polonaise wär‘ ein Superschluss, beschließt man: Und Erwin fasst der Heidi von hinten an die  … Schulter … Im letzten Moment fängt Gottfried Neuner als „Mann mit der Sporttasche“ die Katharina von Harsdorfs Sally entglittene Kaffeetasse – „gerade nochmal gutgegangen“ und Happy End! Oder? Sie werden einander nur durch zwei Glasscheiben begegnen. Splitter, Scherben, der tolldreiste Gesellschafts- ein grausiger Totentanz, die „100 Songs“, Schimmelpfennigs Wunschkonzert zum Weltuntergang, jedenfalls ein Sog auf diesem Verschiebebahnhof von Gestern, Heute und Morgen. Bis 29. Oktober. Eine Empfehlung.

www.hamakom.at

  1. 9. 2021

Festspielhaus St. Pölten streamt: Cirque Éloize

April 10, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Cirkopolis – von wegen grauer Büroalltag!

Cirque Eloize: Cirkopolis. Bild: Fotocollage. © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Waghalsige Sprünge, versierter Seiltanz und verblüffende Reifenakrobatik … Seit gestern streamt das Festspielhaus St. Pölten eine Filmaufzeichnung des multimedialen Zirkus-Klassikers „Cirkopolis“. Bis 16. April ist die Produktion der renommierten kanadischen Compagnie Cirque Éloize auf www.festspielhaus.at kostenlos zu sehen. Für die Performances der Compagnie vereint deren künstlerischer Leiter Jeannot Painchaud die Welt des Zirkus stets

geschickt mit Kunstformen wie Film und Theater und schafft Raum für innovative Kreationen, die sich atmo- sphärisch zwischen Fantasie und Realität ansiedeln. Für „Cirkopolis“ engagierte Painchaud das Enfant Terrible des zeitgenössischen kanadischen Tanzes, Dave St-Pierre, der bereits 2008 die Choreografie für die Éloize-Show „iD“ erarbeitete. Nun zeichnet er erstmals bei einer Zirkusproduktion auch für die Inszenierung verantwortlich. Und so mischen sich in dieser 9. Show des Cirque Éloize einmal mehr Tanz, Körpertheater und Artistik.

Inspiriert von Fritz Langs Stummfilmklassiker „Metropolis“ entsteht mithilfe von Videoprojektionen und den Bühnenbildern von Robert Massicotte ein futuristisch anmutender Großstadtmoloch, eine außergewöhnliche Szenerie für die akrobatischen Höchstleistungen der Artistinnen und Artisten, die die Grenzen des Menschenmöglichen immer wieder aufs Neue ausloten. Die kalte, graue Stadt bildet die Bühne für zwölf multitalentierte Künstlerinnen und Künstler, die mit ihren Bällen, Reifen, Diabolos und ihrer Poesie diese drohende Kulisse zurückzudrängen versuchen.

Samuel Charlton, Reuben Hosler. Bild: © 2012 Prod. Neuvart/Valérie Remise

Angelica Bongiovonni. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Myriam Deraîche und Ensemble. Bild: © 2012 Prod. Neuvart/Valérie Remise

Bald entsteht eine Gegenwelt, die das Publikum aufs Hochseil der Hoffnung befördert. Doch bis es soweit ist, sieht man Clown und Teeterboarder Ashley Carr durch den Unterbauch einer Fabrik hetzen, hinein in ein Kontrollzimmer voller Schalttafeln – wo er von Müdigkeit übermannt einschläft. Das Leben ein Traum. Unschwer lassen sich gewisse Lang’sche Charaktere ausmachen, Carr albträumt sich ins Halbdunkel, er sitzt an einem mit Aktenbergen überfüllten Schreibtisch, hinter ihm fällt der Blick auf die Fassaden der Maschinenstadt. Schon scheint er der „Mittler“ zwischen den Gesellschaften, der Freder …

Cirque Éloize, das ist mehr als aneinandergereihte Zirkusnummern, das ist eine erzählte Geschichte, und mutmaßlich seit Charly Chaplins „Modern Times“ wurde der Begriff Tretmühle nicht mehr so anschaulich dargestellt. Carr ist ganz klar das schwarze Schaf, der Minderleister, während rund um ihn die martialische Männlichkeit tobt. Samuel Charlton und Reuben Hosler, deren Hand-auf-Hand-Akrobatik im Heben und Schleudern des kleineren Hosler etwas Gewaltsames, Grausames, doch auch für Charlton einen Master-Blaster-Moment des sich gegenseitig Ausgeliefertseins hat.

Aerialist Ugo Laffolay, der an den Strapaten dem Wärter der Herzmaschine Grot gleicht, der von schwindelnder Hochhaushöhe Richtung Katakomben saust, und sich erst kurz vor Aufprall fängt. Schließlich Frédéric Lemieux-Cormier, ein Éloize-Urgestein, seit Geburt ein Zirkuskind, weil seine Mutter Kostümdesignerin beim Cirque du Soleil war, hier die personifizierte Industrialisierung, der Eisenfresser mit dem Rhönrad, sein Auftritt quasi ein Sinnbild dafür, dass der Mensch längst für die Maschine arbeitet, nicht umgekehrt – doch bei der kraftvollen Darbietung und bei dem Bizeps sind die Schreibfräuleins hin und weg, und freilich will jede mal anfassen.

Frédéric Lemieux-Cormier und Ensemble. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Clown Ashley Carr hat ein Rendezvous mit Marias Kleid. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Ashley Carr und Ensemble bei der Aktenjonglage. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Lauren Herley, Yann Leblanc und Angelica Bongiovonni. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Da vergessen die Kolleginnen und Kollegen sogar kurz auf die Bürobattle, das ganze Ensemble zum Chitterbug in einer Aktenjonglage, die den armen Ashley Carr aus der Fasson bringt, der Tanz so 1930er-Jahre wie die knappen Trikots à la Zwickelerlass der Damen – Cirque Éloize, das ist stets ein Gesamtkunstwerk, jede Show nach einem einmaligen Konzept, und in der Aufzeichnung der Applaus eines Live-Publikums zu hören.

Zu den grauen Herren gesellt sich eine Frau im purpurroten Kleid, nicht Momo, sondern wenn man’s so sehen will Maria, Angelica Bongiovonni, seit dem Alter von sieben Jahren, und damit war sie damals die jüngste, auf dem Trapez, nun eine Tänzerin mit dem Cyr-Rad, ihr Erscheinen ein verspielter Augenblick der Sehnsucht. Liebe liegt in der Luft, Romantik über den Werkshallen, und wieder eine lyrische Szene, Maria, diesmal Kontorsionistin und Trapeztänzerin Myriam Deraîche als Engel der Arbeiter.

Betörend schön, in jeder Bedeutung des Wortes fantastisch ist das alles. Von wegen langweiliger Büroalltag! Und nach kurzer Einkehr mit einem melancholischen Ashley Carr, der sich ein Rendezvous mit Maria, heißt: mit ihrem an einer Kleiderstange hängenden Kleid, imaginiert, wird’s wieder dynamisch und athletisch. Zwar verhilft das Diabolische, das Diabolo im Gegensatz zu Fritz Lang hier ausschließlich Dominique Bouchard zur Meisterschaft, doch wo die gute, da auch die Maschinen-Maria:

Lauren Herley, Maude Arseneault. Bild: © 2012 Prod. Neuvart/Valérie Remise

Lauren Herley. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Maude Arseneault und Mikaël Bruyère-L’Abbé. Bild: © 2012 Productions Neuvart/Valérie Remise

Am Cord lisse, am „glatten Seil“ schlängelt sich Lauren Herley als Versuchung schlechthin im grauumwölkten Himmel, wem fiele da nicht der Tanz der sieben Todsünden ein; Maude Arseneault zeigt an der Mât chinois Mikaël Bruyère-L’Abbé sein Ende der Fahnenstange – samt feministischem Kick in die Kronjuwelen. Jahaha, Humor ist für den mitgenommenen Mikaël, wenn man trotzdem lacht, im ausgelassenen Spiel des Éloize-Ensembles kommt der Spaß keinesfalls zu kurz – nun aber kommt es zur Konfrontation der Marias, will die einzig wirkliche doch Joh Fredersens dunkles Herz mit ihrer unbändigen Lebenslust bezwingen.

Als Lohn materialisiert sich eine verwandte Seele, „Freder“ Yann Leblanc auf dem Cyr-Rad, und zu zweit, welch ein Kunststück, man kann sich nicht entsinnen schon einmal zwei Artisten auf dem Gerät gesehen zu haben, kreiseln sie glückselig in den Sonnenuntergang. Der Mensch emanzipiert sich und behauptet seinen Zauber und seine Freiheit … Zum Grande Finale erwacht Ashley Carr zwischen Aktenschrank und Stempel, ein böses Erwachen?, nein!, denn die Crew ist mit Champagner da, und endlich kann der Clown am Schleuderbrett beweisen, dass er kein Schreibstubenhocker mehr ist.

Mit „Cirkopolis“ stellt Cirque Éloize einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis, dass sich Zirkus zu einer wahrhaftigen Kunstform entwickelt hat. Unter den zahlreichen Online- und Streaming-Angeboten, die dieser Tage erhältlich sind, ist „Cirkopolis“ auf der Wunschliste der Produktionen, die man noch einmal live sehen möchte ganz oben. Bis das möglich ist: Schalten Sie den Bildschirm ein, sehen und staunen Sie!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=mfvFgab5oPA&t=9s        www.cirque-eloize.com      www.festspielhaus.at        Zur Filmaufzeichnung: www.festspielhaus.at/de/stories/stream_cirque-eloize-cirkopolis           www.youtube.com/watch?v=Sll-EzzNc7g

  1. 4. 2021

Vincent Cassel in „Alles außer gewöhnlich“

Dezember 26, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Was heißt das schon – normal?

Malik und Bruno helfen Valentin vom Minivan auf die Koppel zur Pferdetherapie: Reda Kateb, Marco Locatelli und Vincent Cassel. Bild: © Prokino Filmverleih

Szene eins, und Action: Ein Mädchen hetzt durch eine Fußgängerzone, stößt dabei Passanten nieder, hinter ihr Männer – sie wird gejagt, die Menschenmenge denkt das Schlimmste und will sich den Verfolgern wütend in den Weg stellen. Da bekommt Malik die junge Frau zu fassen, und in seiner Umarmung beruhigt sie sich von all den Eindrücken, die aus dem lauten Draußen in ihr stilles Inneres eingebrochen sind. Émilie ist Autistin.

Szene zwei, und Action: Bruno durchmisst im Laufschritt eine Metrostation, fällt hastig ins dortige Polizeirevier ein, um einen jungen Mann auszulösen. Der hat, nicht zum ersten Mal, im Zug die Notbremse gezogen, mitten in der Stoßzeit, und bei der Festnahme auch noch um sich gebissen. Die Beamten sind verärgert, wollen eine saftige Geldstrafe kassieren, doch Bruno ist ein gewiefter Um-den-Finger-Wickler, und so bekommt er seinen Schützling bald frei – Joseph, er ist Autist.

Es wird ziemlich viel gerannt in „Alles außer gewöhnlich“, dem neuen Spielfilm des „Ziemlich beste Freunde“- Erfolgsduos Éric Toledano und Olivier Nakache, der am Christtag in den Kinos anläuft. Das liegt daran, dass andauernd Krisensituationen zu bewältigen sind, größere und kleine Katastrophen, und immer sofort, schnell, stante pede. Vor allem Bruno ist einer, der immer in Eile ist, und doch stets Zeit für andere findet. Für seine Pfleglinge und deren verzweifelte Familien, für überforderte Ärzte und seine nicht minder strapazierten Mitstreiter.

Vincent Cassel spielt Bruno, Reda Kateb den Malik, beide Begründer von privaten Organisationen, die jenseits aller Konventionen und behördlicher Protokolle, ja diese in der Regel sogar austricksend, jugendliche Autisten betreuen. Auch schwere Fälle, die sie aus staatlichen Einrichtungen, Psychiatrien, in denen sie weggesperrt, fixiert, sediert waren, zurück in eine Art Alltag holen. Für viele sind Brunos „Stimme der Gerechten“ und Maliks „L’escale“, „Die Zwischenlandung“, die letzte Rettung, Hoffnung und Zuflucht, Brunos Antwort auf jede Bitte, die an ihn herangetragen wird: „Ich finde eine Lösung!“ Cassel zeigt diese Bürde mit der schönen Geste heiterer Unerbittlichkeit, die Überlastung als Brunos Lebenselexier, seinen Dauereinsatz als Preis und Lohn zugleich.

Mit Joseph fing für Bruno alles an: Benjamin Lesieur und Vincent Cassel. Bild: © Prokino Filmverleih

Bei der „Stimme der Gerechten“: Vincent Cassels Bruno mit einem von dessen Schützlingen. Bild: © Prokino Filmverleih

Gemeinsam mit Dylan (Bryan Mialoundama) nähert sich Valentin den Pferden: Marco Locatelli. Bild: © Prokino Filmverleih

Malik und Dylan gehen mit den Kids eislaufen: Reda Kateb, Émilie und Bryan Mialoundama. Bild: © Prokino Filmverleih

Denn selbstverständlich machen Toledano und Nakache aus dem Autismus kein Drama. Die Meister dessen, was französische Filmkritiker als Sozialkomödie etikettiert haben, durchweben die Geschichte sehr subtil mit tragikomödiantischem Humor und Szenen feiner Poesie. Auf Spaß beim gemeinsamen Eislaufen folgt ein gebrochenes Nasenbein, auf eine Tanzchoreografie die Frage „Darf ich meine Mutter hauen?“. Die Regisseure und Drehbuchautoren mixen Sozialthriller-Spannung mit Buddy-Film mit Love- und wie schon bei Philippe und Driss einer True-Story: Bereits in den 1990er-Jahren haben die zwei Stéphane Benhamou und Daoud Tatou und deren Vereine „Le Silence des Justes“ und „Le Relais Île-de-France“ kennengelernt, und aus der aus dieser Begegnung entstandenen Doku „Man müsste einen Spielfilm daraus machen“ wurde nun einer.

„Alles außer gewöhnlich“ folgt seinen Protagonisten auch diesmal wie mit der Dokukamera, ohne viel erklärt zu bekommen, wird der Betrachter ins Geschehen gestoßen, was da gerade abgeht, entschlüsselt sich einem nach und nach. Von den kaleidoskopisch sich drehenden Episoden rücken Toledano und Nakache einige in den Vordergrund. Etwa die von Joseph, jenes einstmals von jeder Institution abgelehnte Kind, das Brunos erster „Fall“ wurde, und dem er nun, zum Techniktüftler herangewachsen, einen Arbeitsplatz in einer Reparaturwerkstatt zu schaffen versucht. Oder die von Valentin, der bei Problemen mit dem Kopf gegen die Wand donnert, so dass er einen Schutzhelm wie fürs Sparringboxen tragen muss.

Benjamin Lesieur hat die Figur des Joseph übernommen, ihn, wie viele der Mitwirkenden, fanden die Filmemacher in der Künstlerkolonie „Turbulences“, die mit Menschen zusammenarbeitet, die autistische Verhaltenszüge oder besondere Kommunikationsstörungen aufweisen. Im Gespräch erzählt Toledano, man hätte sich von Benjamin Verhaltensweisen abgeschaut, die Weise, wie er anderen gern den Kopf auf die Schulter legt, was übrigens Josephs Kollegin Brigitte zutiefst verstört, seine in Endlosschleife wiederholten Sätze „Ich bin unschuldig!“ und „Wir haben es fast geschafft!“ – der zum Leitmotiv zwischen Joseph und Bruno wird, jedes Mal, wenn er die Notbremse eine Station näher zum Ausstiegsziel zieht.

Marco Locatelli hat für die Rolle des Valentin vorgesprochen, ohne irgendjemanden einzuweihen. Toledano: „Er kam zum Casting und sagte: ,Ich habe einen kleinen Bruder, der Autist ist, wenn ich in diesem Film mitspiele, könnte mir das vielleicht helfen, ihm näherzukommen, ihn zu lieben.‘“ Und da sowohl Daoud Tatou in der Realität als auch Malik auf der Leinwand ihr Team aus Jugendlichen in sogenannten sozialen Brennpunkten rekrutieren, sind auch diese echt. Dylan, den Malik als Betreuer mit Valentin zusammenspannt, verkörpert Bryan Mialoundama, nominiert für einen César in der Kategorie „Bester Nachwuchsdarsteller“ und nach einer Schlägerei im November in Untersuchungshaft.

Auch diese beiden sind ziemlich beste Freunde: Vincent Cassel als Jude Bruno und Reda Kateb als Muslim Malik. Bild: © Prokino Filmverleih

Wie der unkontrollierbare Valentin und der unangepasste Dylan bei der Pferdetherapie zueinander finden, gegenseitig Vertrauen fassen, die Systemsprenger fast so etwas wie Freunde werden, wie man dem Augenblick entgegenfiebert, in dem Valentin endlich seinen Helm abnehmen darf, gehört zu den berührendsten Momenten des Films, ist ein Fingerzeig auf die Sinnlosigkeit der Frage nach dem, was „normal“ ist, und auf die zu bergende, überbordende Lebensenergie

der Kids in den Banlieues. Und dann ist da noch Valentins Logopädin Ludivine, Lyna Khoudri, in die sich Dylan unsterblich verliebt. Wie zwischen diesen die Hautfarbe kein Thema ist, so macht „Alles außer gewöhnlich“ auch um die Religion kein Aufheben. Wie nebenbei sieht man Brunos Kippa und Zizit, wie nebenbei nennt sich Malik einen praktizierenden Muslim, Kneitsch sitzt neben Hijab, man isst mal Challa, mal Couscous. So einfach kann’s sein. So liebenswert, weil authentisch.

Alldieweil sitzen Bruno zwei Kontrollbeamte der Inspection Générale des Affaires Sociales, Frédéric Pierrot und Suliane Brahim von der Comédie française, zwecks Schließung seines ohne Genehmigung agierenden Vereins im Nacken, heißt: im Büro. Ihre Interviews mit Josephs Mutter, Hélène Vincent, oder Valentins Ärztin, Catherine Mouchet, die Schlüsse, die sie daraus ziehen, und ihr Report, der perfide erst im Abspann und dann langsam, Wort für Wort, enthüllt wird, lässt einen erst vor Zorn Zähneknirschen, dann vor Angst Nägelkauen. Auch mit den Inspektoren redet Bruno voll Engelsgeduld mit Engelszungen, Cassels verschmitzter Charme adelt die ganze Sache, macht sie „leicht“, nicht zuletzt durch die skurrilen Dating-Desaster, die Shidduchs, zu denen ihn Freund und Wirt Menachem, Alban Ivanov, beharrlich schickt.

Ein Lichtblick ist da erst Mme Diabatés, gespielt von Fatou-Clo, Tochter, Manda Touré, die unverblümt ihr Interesse an Bruno äußert, als sie ihre Mutter begleitet, um den kleinen Bruder abzuholen. Der, ist Mme Diabaté überzeugt, verhext wurde, weshalb sie zur Aufhebung des Fluchs noch ihr letztes Geld nach Dakar sendet … Cassel als Bruno, der Besonnene, und Kateb als Malik, der Aufbrausende, wenn er seinen Problemkids Bildung, Benehmen und Pünktlichkeit beibringen will, sind ein ebenso geniales Gespann, wie die Schöpfer ihrer Charaktere, Toledano und Nakache.

Ihr Weihnachtsmärchen von den guten Menschen überzeugt nicht nur durch Vermeidung rührseliger Behinderten-Klischees, sondern vor allem mit einer gnadenlosen Gesellschaftskritik, die dem Feel-Good-Movie wie ein Subtext unterlegt ist. Zum Ende wartet nämlich nicht nur der IGAS-Endbericht, die Ereignisse spitzen sich insgesamt zu, als Dylan vors Haus rauchen geht und Valentin aus seinem Zimmer Richtung Stadtautobahn abhaut. Wie zu Beginn wird jetzt gerannt, alle preschen nach allen Seiten auseinander, ein Aufruhr, den die Polizei naturgemäß für verdächtig halten muss – weshalb sie flugs alle dunkelhäutigen Helfer verhaftet …

 

www.alles-ausser-gewoehnlich-derfilm.de

  1. 12. 2019

Theater Nestroyhof Hamakom: Zu ebener Erde und im tiefen Keller

Dezember 12, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Freizeitgesellschaft für alle Workaholics

Der französische Sozialist Paul Lafargue mit seiner Ehefrau und Karl-Marx-Tochter Laura beim Tango de la mort: Hubsi Kramar und Jaschka Lämmert. Bild: © Marcel Koehler, 2019

Während das Publikum noch zwischen vorweihnachtlichem Negroni oder doch dem klassischen Glas Rotwein schwankt, sich vielleicht auch über den ausgesprochen zuvorkommenden Service freut, laufen auf den Videowänden schon erste Filme schwer schuftender Menschen. Traditionell im Dezember hat sich das Theater Nestroyhof Hamakom wieder in Sam’s Bar verwandelt, und einer deren freundlicher Keeper ist selbstverständlich Schauspieler Florian Haslinger.

Der einem beginnend mit Zitaten von Oscar Wilde über Sully Prudhomme, seines Zeichens französischer Lyriker und Philosoph und erster Literaturnobelpreisträger, bis Boris Becker Sinn und Zweck des Abends beibringt. „Zu ebener Erde und im tiefen Keller“ heißt die von Hausherr Frederic Lion erdachte Inszenierung, eine Gegenüberstellung des Prinzips Arbeit mit der Abscheu vor ebendieser, ein buchstäbliches Gegeneinander-Ausspielen von Adam Smiths Schrift „Wohlstand der Nationen“ aus dem Jahr 1776 versus Paul Lafargues Spottpamphlet „Das Recht auf Faulheit“ von 1880. Zwei visionäre Texte – und auch zwei fantastisch verstaubte Sackgassen, deren Abschreiten einen durch die gesamte Architektur des Hamakom führt.

Wobei bei dieser performativen Bildbeschreibung dem Kapitalismus nur das Parterresein, dem Kommunismus hingegen nur noch die Katakomben bestimmt sind. Und so erklimmt Haslinger als sozusagen Adam Smith die Bühne, und versucht als deklarierter „Vater der Nationalökonomie“ wie ein Evangelist des Liberalismus und per Balken- und anderen Grafiken seine Theorien zu erklären. Die da wären, den Ursprung allen Wohlstands in der menschlichen Arbeit zu sehen, weshalb durch Anheizen der Produktivität auch dieser ansteigen werde. Heiß und kalt überläuft es einen, wenn der schottische Aufklärer vorrechnet, wie ein Hackler kaum mehr als eine Nadel pro Tag fertigen könne, aber bei Arbeitsteilung … und ruckzuck ist der Wettbewerbler bei schwindelerregenden 48.000 Stück und schnell steigen einem nicht nur die Grausbirn‘ auf, sondern auch Fließbandbilder, die eintönig vorbeirasenden „Modern Times“.

Das Schlagwort von der „unsichtbaren Hand“ hat Smith postuliert, und während Darsteller Haslinger gerade ausführt, der Mensch sei seinem Wesen nach träge, denn „der Mensch trödelt gewöhnlich ein wenig“, versagt der freien Marktwirtschaft die Technik, stockfinster wird’s im Saal, bis eine Handvoll mit Stirnlampen ausgerüstete Performerinnen und Performer die Zuschauer aus der misslichen Lage erlöst. Sie sind aus dem Augustin-Team, sind über dessen 11% K.Theater zur Kultur gekommen und schreiben wie das Ehepaar Traude und Rudi Lehner für die Rubrik „KulturPASSage“, oder wie Christian Sturm im „Dichter Innenteil“. Es ist tatsächlich der schönste Teil der Aufführung, nach dieser mit den Augustin-Akteuren ins Gespräch zu kommen, ein Gedankenaustausch über Lebenspläne und Werdegänge und die Umleitungen, auf die man geschickt wird.

Geld regiert die Welt: Florian Haslinger erklärt Adam Smiths ökonomische Theorien. Bild: © Peter Katlein

Die Lafargues vor dem gemeinsamen Selbstmord: Jaschka Lämmert und Hubsi Kramar. Bild: © Peter Katlein

Laura Lafargue mit der Grammophonstimme ihres Mannes: Jaschka Lämmert. Bild: © Marcel Koehler, 2019

Der Kommunist im Keller: Hubsi Kramar als Paul Lafague auf der Publikums-Borschtsch-Tafel. Bild: © Peter Katlein

Zuvor freilich geht’s vom Jugendstilsaal in den Backsteinkeller, an hoher, langer Tafel wird Borschtsch serviert, der Alkohol braucht schließlich eine Unterlage, also Eintopf schlürfen und aufmerksam lauschen. Wenn Hubsi Kramar und Jaschka Lämmert als Paul Lafargue und dessen Ehefrau und Karl-Marx-Tochter Laura seine Ideen exemplifizieren, die mitwirkenden Augustinerinnen und Augustiner in diesen Szenen das Salz in der Suppe. Wunderbar, wie sie zu Lukas Goldschmidts Akkordeonklängen den Tango als Totentanz schwofen, Kramar und Lämmert ohnedies auf Leiche geschminkt, denn die Lafargues werden sich mittels Selbstmords von dieser Welt verabschieden. In einer hinterlassenen Notiz steht zu lesen: „Gesund an Körper und Geist, töte ich mich selbst, bevor das unerbittliche Alter mir eine nach der anderen alle Vergnügungen und Freuden des Daseins genommen und mich meiner körperlichen und geistigen Kräfte beraubt hat …“

Auf dem Höhepunkt derselben allerdings ist Kramars Lafargue kämpferisch, der französische Sozialist und Konsumkritiker, der Schwiegervaters Marxismus in seiner Heimat zur Parteigründung verhalf, der auf Kuba geborene, „Mulatte“ geschimpfte Manifesthalter, der die kapitalistische Ideologisierung des Begriffs Arbeitsmoral ablehnte, als dessen Grundübel er die Überproduktion sah. Es hat etwas Bemerkenswertes, wenn der Mitstreiter der Ersten Internationalen vor dem aufgepinseltem Antlitz des „bärtigen und sauertöpfischen Gottes“ – meint er den Allmächtigen oder den Arbeiterbewegten? – die Bergpredigt Christi zitiert: Sehet die Lilien auf dem Felde … Es wirkt absonderlich, wenn Laura/Lämmert am Grammophon Frauenrollen runterkurbelt, die Qualwahl zwischen entweder naturverbunden-gesunde Gebärmaschine oder hohlwangig-ausgelaugte Fabrikarbeiterin.

„O jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie!“, so Lafargue in seinem „Recht auf Faulheit“, und ist der philosophischen Auseinandersetzung im Hamakom eins vorzuhalten, dann dass einem Frederic Lion die weibliche Perspektive vorenthält. Ob nun Laura Lafarge tatsächlich keine eigenständige Meinung hatte oder ihr keine zugebilligt wurde, auch Marxisten sind Machos, so ist Wien doch die Stadt des Erdarbeiterinnenaufstands, der ersten Frauendemonstration in Österreich, der am 23. August 1848 in der sogenannten „Praterschlacht“ blutig endete.

Traditionell im Dezember wird der Jugendstil-Theatersaal umfunktioniert zu Sam’s Bar, wo’s außer Programm auch Cocktails und Snacks gibt. Bild: © Nick Mangafas

Sagt Lion darauf angesprochen, politische Theaterabende können nicht jede rundum glücklich machen, so fordert alldieweil Kramar als grau gepuderter Untoter Lafargue den Drei-Stunden-Tag und Zeit für flotten Müßiggang für des Tages Rest, und weil Smith davor die Leistungsstärke der Maschine gelobt hat, fällt einem zum Computerzeitalter ein, dass vor allem wichtig, dass die Workstation werktätig ist, der Mensch an der Tastatur hastet schon irgendwie hinterher.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, sagen die Bibel und August Bebel, sagen Adolf Hitler und die Stalin-Verfassung, wer’s aber tut, belohnt sich mit von eben jener Wirtschaft, die er mit seiner Arbeitskraft befeuert, künstlich erzeugten Konsumbedürfnissen. Hinauf und zurück in Sam’s Bar, wo zwischenzeitlich die Titanic wie der Teufel an die Wand gemalt worden ist, ein Symbol für den gemeinsamen Schiffbruch aller Klassen, und man fragt sich, wie eine Lafargue’sche Freizeitgesellschaft der Smith’schen Workaholics funktionieren kann, prognostizieren Zukunftsforscher doch erstere, bei gleichzeitiger unternehmerischer Erwartung, der Arbeitnehmer möge via Neuer Medien twentyfourseven erreichbar und einsatzbereit sein.

Derart gibt einem „Zu ebener Erde und im tiefen Keller“ zu denken, die Nestroy-Paraphrase im Nestroyhof, die Localposse, in der auch der Volksdichter zeigt, wie schnell ein Schiff sinken und man von der Beletage im Souterrain landen kann.

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  1. 12. 2019