brut im Gewerbehaus – Nestervals „Die dunkle Weihnacht im Hause Grimm“

November 18, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Im Nervensanatorium wird die Stille zur Mord-Nacht

Lauter nette Leit: Performer Astôn Matters aka Herr Rainer empfängt die Weihnachtsgäste in seinem Patientenzimmer. Bild: © Alexandra Thompson für Nesterval

Um die frohe Botschaft als erstes zu verkünden: Weil die Tickets in kürzester Zeit weg waren, hat Nesterval von 18. 11. bis 12. 12. neun Zusatztermine hinzugefügt. Die Expertentruppe für immersives Theater, die Vorgänger- produktion „Das Dorf“  ist für den Nestroy-Spezialpreis nominiert (www.mottingers-meinung.at/?p=35311), lädt – auch diesmal in Kooperation mit brut Wien –  ins Gewerbe- haus zum Performance-Abenteuer „Die dunkle Weihnacht im Hause Grimm“.

Eine weitere Episode aus der Geschichte der sagenumwobenen Familiendynastie, deren künstlerischer Teil sich mit Vorliebe dem Zirkus zuwandte, während die eigentlich Porzellanmacher sich im Zweiten Weltkrieg der Herstellung von Waffen widmeten – mittels Einsatz von Zwangsarbeitern, weshalb sich Magda Nesterval bei den Nürnberger Prozessen strafrechtlich verantworten musste. Tochter Martha entriss der Mutter schließlich die Vorstandsposition; ein Großteil des Vermögens ging in den „Nesterval Fonds für karitative Zwecke“ über – doch dann passierten die bis heute ungelösten Todesfälle im Familienhospiz Engel …

Soweit die Historie zur nun vom Ensemble dargebotenen Story. Es ist das Jahr 1954, es ist Weihnachten, und Anstaltsleiterin Oberschwester Martha Nesterval holt Freunde und Förderer des Hauses zum Christfest ins Nesterval’s Sanatorium Grimm. Keine Geringeren als die Gebrüder Jacob und Wilhelm haben für die Einrichtung eine Behandlungsform ausgeklügelt, die den Patientinnen und Patienten ein zu ihren psychischen Störungen passendes Märchen zuteilt – und die Besucher sind nun herzlich aufgefordert, sich mit dieser Therapie vertraut und mit den Pfleglingen bekannt zu machen.

Wie stets auf dem schmalen Grat von Fakt und Fiktion balancierend, geleiten einen 23 Performer, Drag Artists und Schauspieler durch den Abend, wobei das Publikum von Fräulein Stulle aka Martha Nesterval, der freundlichen Schwester Tabea, ist gleich Julia Fuchs, und den Geschwistern Berger, der herrischen Sibille, der hantigen Elsa und dem für die Punsch-Ausschank im Frühstücksraum zuständige Hons (Pamina Puls, Sabine Anders und Lu Ki), empfangen und zwecks Besichtigung per bunten Armbinden in Kleingruppen aufgeteilt wird. Eines der Dinge, die erfährt, wer aufmerksam zuhört, ist, dass die jene Namen nur angstvoll wispernden Patienten die Bergers als „die teuflischen Drei“ titulieren.

Die Insassen des Sanatoriums sind nämlich weit weniger irre, als von ihnen behauptet wird, und wieder einmal haben Herr Finnland und sein aus Autorin Frau Löfberg und Ausstatterin Andrea Konrad bestehendes Leading Team ein Denk-Spiel erdacht, das es zwischen Krippenspiel und dem „Wichteln“ genannten Verteilen kleiner Geschenke zu durchschauen gilt. Sachte und sensibel heißt es nun zu den verstörten Seelen vorzudringen. Des Rätsels Lösung lautet, je mehr man interagiert, Fragen stellt und Schlüsse zieht, desto erkenntnisreicher gestaltet sich die Sache, also ausschwärmen und Informationen einholen, schließlich gibt es für die siegreiche Mann- und Frauschaft ein Präsentpaket zu gewinnen.

Willy Mutzenpachner aka Herr Friedrich flüchtet vor Männern bis auf den Kaminsims. Bild: © Alexandra Thompson für Nesterval

Herr Finnland und Frau Löfberg vor den Weihnachtssocken, in denen die Tätertipps deponiert werden. Bild: © Alexandra Thompson für Nesterval

Nachdem man sich derart durch die Verhaltensregeln studiert hat, vom Personal vorm notorischen Lügner mit dem Gestiefelten-Kater-Syndrom gewarnt und punkto der Selbstmordabsichten des von Andy Reiter verkörperten Herrn Anton beruhigt, vom Pulloverzipfel zuzelnden Helmut des Herrn Walanka zur Krippe geführt und über seine Funktion als König Melchior beim folgenden Spiel in Kenntnis gesetzt wurde, beginnt ebendieses. Aber: ein Schrei, Antons entleibter Körper liegt im Stiegenhaus, ein Schwächeanfall ob der Aufregung beschwichtigt Fräulein Martha.

Doch wer Augen hat zu sehen – um an dieser Stelle die Offenbarung des Johannes zu zitieren. Zur Ablenkung der Gäste dürfen diese nun die Patientenzimmer und Behandlungsräume inspizieren, jedes einzelne mit Röhrenradio oder einstmals als „Psyche“ bezeichneter Spiegelkommode bis in diverse Fifties-Details liebevoll dekoriert, und von den Bewohnern mit rotem Riesenkugelmobile, einem papierenen Schneeflockenwald oder einer Geschenkpaket- pyramide verschönert. Wer – je nach Sichtweise – Glück oder Pech hat, kann aber auch von den Ehrengästen weil Geldgebern, der hochschwangeren Helga und ihrem Ehemann Tomasz Nesterval, abgefangen werden.

Um bei herablassend genäseltem Smalltalk in den schier endlosen Lobgesang über die regelmäßigen Finanzspritzen für ihre Kranken einzustimmen. Längst ist da klar, die feucht-fröhliche Adventstimmung ist eine vorgegaukelte, die Stichworte dazu: Abzocke und Unfreiwilligkeit, und zumal hier einer mit Vergnügen über den anderen tratscht und dessen Geheimnisse ausplaudert, tun sich allmählich gewaltige Abgründe auf. Die bigotte Atmosphäre von Betstuhl, Kruzifix, Heiligenbüste verwandelt sich ins Bedrohliche, das heimelige Licht scheint plötzlich düsterer, was eben noch skurril war, wird spooky, denn was Nesterval im Gewerbehaus veranstalten, ist im Wortsinn ein Psychothriller. In dessen Verlauf es logischerweise nicht bei einer Leiche bleiben kann.

Von Tobsuchtsanfällen und Tränen, von Zoff hinter verschlossenen Türen und Todesahnungen beim Kartenlegen, vom unerlaubten Entwenden einer Akte bis zum Unzucht-Gekreische bei einer Séance, erlebt jeder Zuschauer den Abend so, wie er ihn sich arrangiert. Allemal interessant ist es, Willy Mutzenpachners Herrn Friedrich in der Isolierzelle aufzusuchen, allerdings Achtung: der „Froschkönig“ fürchtet sich vor Männern. Auch eine Begegnung mit dem im Rollstuhl sitzenden Fräulein Adelheid, ist gleich Laura Hermann, mit Johannes Scheutz‘ an den „Sieben Geißlein“ leidenden Herrn Konrad im Arztzimmer und mit dem großen Herz des Ganzen, Romy Hrubeš‘ auralesendem Fräulein Charlotte, sind aufschlussreich. Denn niemand im Sanatorium Grimm ist ohne Schuld, die meisten jenseits von Gut bei Böse, und Katz-und-Maus ihr bevorzugtes Spiel.

Dank des Nebengeschäfts des Herrn Theodor von Bernhard Hablé wird die Spurensuche zwar zumindest kurzzeitig unbeschwerter, doch schon erklingt aus dem Frühstücksraum „Jingle Bells“ als schwermütige Trauermusik. Das ist der Moment, an dem Operation Dunkle Weihnacht beginnt … Bei der Premiere entpuppte sich übrigens Gruppe grün als Meisterdetektive, obwohl Herrn Finnlands Maxime ja die vom Dabeisein ist, das alles ist. „Die dunkle Weihnacht im Hause Grimm“ ist ein Mordsspaß, bei dem einmal hingehen und mitmachen nicht ausreicht, um alle Facetten dieser verrückten Vorführung genießen zu können. Und wenn sie nicht gemeuchelt sind, dann metzeln sie noch heute …

Video: www.youtube.com/watch?v=7t3yirtPOSU           www.nesterval.at           brut-wien.at

  1. 11. 2019

Theater in der Josefstadt: Fräulein Julie

Oktober 7, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sex, Gewalt & Rock’n’Roll

Jan Plewka, Sona MacDonald, Bea Brocks, Florian Teichtmeister Bild: Astrid Knie

Jan Plewka, Sona MacDonald, Bea Brocks, Florian Teichtmeister
Bild: Astrid Knie

Es ist von Anfang an ein Wow! Vorhang hoch, Vogelkäfig, die Musik wummert bedrohlich, das Licht ist sepia. Ein Stummfilm läuft: Jean und Kristine in der Kammer, Mimik und Gestik zur Wirkung überhöht. Auftritt Fräulein Julie – eine Frau Dr. Seltsam. Dann! Jan Plewka. Der Vogel. Des Fräuleins Manns-Bild vom Eingesperrtsein. Ihr Vorstellung von Love Kills. In Federjacke und Mörder-Highheels wie eine Kreatur von John Galliano. The sexiest bird alive. So geht es weiter. Schlag auf Schlag. Mit Oral- und anderem Sex, Selbst- und Fremdverletzung und richtig geiler Musik. Anna Bergmann hat am Theater in der Josefstadt August Strindbergs „Fräulein Julie“ inszeniert.

Das ist: Sehr viel Make-up. Aber hinter den Masken kein Tiefgrund. Psychologische Figurenkonzeption ist Anna Bergmanns Sache in dieser Sache nicht. Dass die Regisseurin für Wien von Matthias Hartmann entdeckt wurde, wundert nicht. Ihr Stil ist ähnlich: Tausend tolle Einzelideen werden nicht zu einem großen Bogen gebunden. Es gibt zu schauen und zu staunen und zu grausen, aber warum Bergmann diese Geschichte erzählt und warum sie sie so erzählt, erklärt sich nicht. Was will sie – nicht Strindberg -, dass die Schauspieler da vorne miteinander verhandeln? Der sonst stets so bühnensichere Florian Teichtmeister wirkt in dieser Produktion seltsam verloren. Bergmanns Arbeit hat Momente, da ist sie wie ein hysterischer Pubertierender, der strampft und schreit, um seinen wasauchimmer Willen durchzusetzen, während Mutti sagt: Ich komme wieder, wenn du dich beruhigt hast.

Der „Sohn der Magd“ schrieb sich mit dem Kammerspiel persönlichen Frust von der Seele. Die Tragödie ist ein Machtspiel, ein Klassenkampf. Mann gegen Frau. Diener gegen Herrin. Beide wollen Normen entfliehen, die Adelige eskapistisch den familiären Verkorksungen durch den Unfug eines Mittsommernachtsexs; der Knecht hat Proletarierträume, er will mit einem Hotel Eigentümer seiner selbst werden. Bei den Wiener Festwochen brachte die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy zusätzlich das Rassenthema ein. Ihr Jean war ein Schwarzer: www.mottingers-meinung.at/?p=4091 Bergmann setzt auf Zeit. Sie hat die Altersangaben des Autors umgedreht, zeigt das Verhältnis eines jüngeren Jeans zu einer älteren Julie, jagt das Stück durch drei Zeitebenen von 1888 bis SM, zwingt Köchin Kristine durch alle Epochen zu einer Existenz als Julie-Klon. Ein choreografiertes Korsett. Kristine-Darstellerin Bea Brocks bleibt entsprechend unauffällig. Im Interview mit dem Standard sagte Bergmann: „Ich habe mich entschieden, das Thema zuzuspitzen“. Dazu hätt’s mehr gebraucht als kalte, nackte Leiber.

Bleibt: Sona MacDonald, die sich als Titelantiheldin entleibt. Nicht wörtlich, in dieser Inszenierung wird aus Jean ein biblischer Johannes, aber als eine, die Strindbergs Wort von der Anstrengung, die er der Julie-Darstellerin ansehen will, verinnerlicht hat. Sie ist depressive Alkoholikerin und Ritzerin, Herbstzeitlose und Lustsubjekt. „Hab‘ ich gelacht?“, ist keine Frage, sondern ihre Feststellung zu den, ihre Festschreibung der Dinge. Sie ist bösartig intensiv bis zum finalen Shootout. Da heißt es Kopf um Kopf, Finger um Finger. Sie treibt Teichtmeister von devot zu süffisant. Bergmann, dazu ein Bravo, ringt Strindbergs Text freiwillige Komik ab. Weil hier alle den Verstand verlieren, sind bald alle wunderbar vom Wahnsinn umzingelt. „Scheiß‘ dich nicht an“, sagt Jean nach dem Koitus zu Julie. Bleibt: Jan Plewka mit der Musik von Hannes Gwisdek. Mehr vom Selig-Frontmann hätte man hören wollen. Im Duett mit Sona MacDonald ist klar, Freisein heißt Singen. Plewka soll ja, hat’s gemunkelt, mal eine Julie-ähnliche Phase durchlebt haben, vielleicht daher das abgründige Verständnis … Bleibt: Eine Inszenierung, die einen erst vom Stuhl fegt, wie ein scharfer Schaps. Die man mag, sogar gierig säuft, weil sie süffig runterbrennt. Leider folgt aufs Trunkensein Ernüchterung, post-Klarer Katzenjammer, schal und mau.

www.josefstadt.org

Sona MacDonald im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=15131

Jan Plewka gibt am 16. Oktober ein Wien-Konzert im Werk X: Infos werk-x.at

Wien, 7. 10. 2015

Theater in der Josefstadt: SonaMacDonald im Gespräch

Oktober 5, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

„Fräulein Julie“ als Borderlinerin

Sona MacDonald als Julie, Florian Teichtmeister als Jean Bild: Astrid Knie

Sona MacDonald als Julie, Florian Teichtmeister als Jean
Bild: Astrid Knie

Am 6. Oktober hat am Theater in der Josefstadt August Strindbergs „Fräulein Julie“ Premiere. Das Kammerspiel handelt von der adeligen Julie und ihrem Diener Jean und ihrem Verhalten und Verhältnis während einer Mittsommernacht und am darauffolgenden Morgen. Julie versucht, ihrem durch gesellschaftliche Normen geprägten Dasein zu entfliehen und etwas Spaß zu haben, indem sie auf dem jährlichen Fest mit der Dienerschaft tanzt. Während der Nacht entwickelt sich das anfängliche Flirten zwischen Julie und Jean zu einer vollendeten Liebesbeziehung. Doch während sie die Herrin ist, ist er der Mann – und so bleibt am Ende … der Tod.

Zu erwarten ist eine Inszenierung der anderen Art, führt doch die weder um Worte noch um Taten verlegene Anna Bergmann Regie. Die Süddeutsche Zeitung nennt sie „das explodierende Fräuleinwunder des deutschen Theaterbetriebs“; 2013 präsentierte sie ihre unkonventionelle Ibsen-Arbeit „Die Frau vom Meer“ an der Burg. Sona MacDonald spielt die Julie, Florian Teichtmeister den Jean. Als Jeans Verlobte Kristine ist Bea Brocks zu sehen. Hannes Gwisdek und Selig-Sänger Jan Plewka machen Musik. Sona MacDonald im Gespräch:

MM: Erste Bilder zeigen, dies wird ein anderes „Fräulein Julie“, als man’s kennt. Es geht sehr viel um Selbstverletzung.

Sona MacDonald: Das ist wie eine Überschrift in dieser Arbeit. Ja, Julie verletzt sich. Wir spielen, was nicht im Stück steht: Sie will sich Schmerz zufügen. Das hat psychologisch bedingte Ursachen und ich bin sehr aufgeregt, diese zu untersuchen.

MM: Ist sie verrückt?

MacDonald: Sie hat etwas von einer Borderlinerin. Sie ist manisch-depressiv. Das ist eine Form der Verrücktheit. Sie ist nicht völlig außer sich, aber sie ist immer wieder völlig „außer sich“.

MM: Das Stück ist ein Macht-Spiel, ein Klassen-Kampf. Wer hat bei Ihnen das Sagen? Ihre Julie oder Florian Teichtmeisters Jean?

MacDonald: Sie stellt etwas an und kriegt es zurück. Es ist ein Kampf der Geschlechter, ein Kampf innerhalb der Hierarchien. In der Sexualität gibt es keine Demokratie, da verschmelzen Diener und Herrin im Unheil, in einer gegenseitigen Nötigung. In unserer Inszenierung hat sie vor dem Beischlaf die Hand oben, da muss er machen, was sie will. Danach gewinnt er an Boden. Florian ist ein wunderbarer Partner, um das zu spielen: Es ist etwas aufgebrochen, es ist etwas zerstört und man ist sich nicht mehr klar, wie mit dem anderen umgehen. Sie geht also weg. Sie entschwindet. Wohin, wird man sehen …

MM: Strindberg wird oft als Frauenfeind beschrieben. Schließen Sie sich dem an?

MacDonald: Ich glaube, dass Strindberg überfordert war, als die Ideen der Gleichberechtigung aufkamen. Er beschreibt die Figur der Mutter der Julie als Frauenrechtlerin – und, dass schon Julies Vater nicht damit klar kam. Ich glaube, dass er sich da spiegelt. Er wollte geliebt werden: Bitte, liebe Frau, sei für mich da und hinterfrage nicht immer alles! Ich wette, die Kämpfe, die wir auf der Bühne haben, fanden in seinem Leben statt. Er war ein junger Mann, als er die Julie schrieb, lebte in Scheidung, da muss es zugegangen sein: Liebe bis aufs Messer!

MM: Jean und Julie klingt ja eigentlich auch mehr nach Truffaut, als nach Skandinavien 😉

MacDonald: Jean heißt Johannes – und die Johannesnacht, die Mittsommernacht, in der die Dinge eskalieren, so lass’ ich mir von Regisseurin Anna Bergmann sagen, ist eine, in der die Frauen in Skandinavien wild werden. Sexuell aktiv werden. Es ist die längste helle Nacht des Jahres. Ein Schnittpunkt, nach dem es wieder dunkel wird in den Leben.

MM: Anna Bergmann hat die Altersangaben umgedreht. Im Stück wird Julies Alter mit 25 angegeben, das von Jean mit 30. Sie sind Jahrgang 1961, Florian Teichtmeister Jahrgang 1979. Was gewinnt die Produktion daraus?

MacDonald: Etwas Trauriges, etwas sehr Tragisches. Als man mich besetzte, dachte ich zuerst: Ein Irrtum? Aber Anna bleibt dabei: Julie ist ein übrig gebliebenes Mädchen. Vielleicht war ihr nie jemand gut genug, vielleicht hat sie viele abgewiesen. Sie hat sich halt nie selbstständig gemacht.

MM: Ist das ein Thema für die Frauen heute?

MacDonald: Anna Bergmann stürzt sich und uns nicht einfach ins Moderne hinein. Wir gehen durch die Epochen, wir fangen sozusagen 1888 an und enden 2015.

MM: Sieht man das? Ich meine beispielsweise kostümlich?

MacDonald: Total! Auch im Bühnenbild. Die Kostümbildnerin Lane Schäfer kleidet auch die Band „Käptn Peng und die Tentakel von Delphi“ ein. Da gibt es einiges zum Schauen.

MM: Käptn Peng ist ein Projekt von Johannes Gwisdek, Corinna Harfouchs Sohn, der für die Produktion die Musik macht. Es singt Jan Plewka – den Kanarienvogel. Das wird der männlichste Kanarienvogel, den man jemals gehört hat.

MacDonald (sie lacht): Er personifiziert für Julie tatsächlich das männliche Prinzip. Sie wird auch, ich werde auch mit Jan Plewka singen. Die Musik ist rockig, wie sie Plewkas Stimme entgegenkommt. Ich finde sie sehr mystisch, bedrohlich auch. Für mich ist es gesanglich ein ganz neuer Stil.

MM: Apropos, Gesang: Sie sind am Burgtheater in „Spatz und Engel“ als Marlene Dietrich zu Gast. Am 26.  November folgt an den Kammerspielen „Blue Moon – Eine Hommage an Billie Holiday“, dafür müssen Sie sich wieder einen anderen Klang aneignen.

MacDonald: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich das spielen und singen könnte. Torsten Fischer hat mich gefragt, er hat eine Idee dahinter, er will damit auf Ferguson reagieren, das Rassenthema aufgreifen. Ich werde in keiner Weise versuchen, etwas zu imitieren, sondern versuchen, mich anzunähern. Billie Holiday wurde gezwungen, sich heller zu malen. Das ist eines der Dinge, die wir ans Licht bringen wollen. Da werden sich viele wundern. Ich finde das sehr spannend.

MM: Ein toller Theaterherbst.

MacDonald: Mit zwei Rollen, an die ich nie im Leben gedacht hätte. Meistens suche ich mir Dinge aus, die mir zu nahe sind. Jetzt ist es anders. Mal sehen. Ich bin sehr beschenkt dieses Jahr.

www.josefstadt.org

Trailer: https://youtu.be/11Isruja3rQ

Wien, 5. 10. 2015

Josefstadt: Die Geschichte vom Fräulein Pollinger

Mai 19, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Klang aus der Zukunft

Matthias Franz Stein (Eugen Reithofer), Raphaela Möst (Agnes Pollinger) Bild: © Moritz Schell

Matthias Franz Stein (Eugen Reithofer), Raphaela Möst (Agnes Pollinger)
Bild: © Moritz Schell

Während andernorts überlegt werden muss, einen großartigen, experimentellen Spielort zu schließen, hat das Theater in der Josefstadt ein viel gravierenderes Problem: Es hat einen wunderbar intimen Raum unterm Dach – den es nur leider als Probebühne braucht. Welch schöne Produktionen hat man hier schon gesehen. Vom „Firlinger“ mit Martin Zauner bis zu „In der Psychiatrie ist es nicht so schön“ von Stefan Geszti, in der Hauptrolle Raphael Schuchter. Nun ist für die Probebühne Ödön von Horváths posthum erschienener Romanerstling „Die Geschichte vom Fräulein Pollinger“ adaptiert worden. Das heißt: „Sechsundreißig Stunden“, so der ursprüngliche Titel des Werks. Raphaela Möst spielt die arbeitslose Schneiderin Agnes Pollinger, der in den eineinhalb Tagen allerlei – fast hin bis zur Prostitution, tatsächlich verliert sie aber „nur“ ihre liebenswerte Naivität – passiert; Matthias Franz Stein alle ihr auf ihrem Weg begegnenden Männer: Eugen Reithofer, Herr Kastner, AML, Harry Priegler, locker, sarkastisch, ausgezeichnet.

Ja, „… wenn diese Schweinerei in Sarajewo nicht passiert wäre.“ Dann wäre das Leben anno 1928 nicht so sch***eiden. So ist der Seelengleichklang von Agnes und Eugen Arbeitslosigkeit. Die Weltenuhr tickt jetzt nach kaufmännischen Regeln, und wessen Sekundenzeiger hinterher hinkt, der muss für ein Wienerschnitzel mit Gurkensalat schon ein paar erotische Fotos schießen lassen. Regisseur Fabian Alder hat den Abend mit viel Verve im „Improvisatorischen“ gelassen. Irgendwo zwischen Erzählung – diese in 20er-Jahre-Mikrophone – und Dialog. Die feine Folie des Originals spannt sich über den Abend, aber natürlich werden die unzähligen kleinen Horváth’schen Boshaftigkeiten ausgereizt (vor allem Stein als Künstlerkarikatur, der sein „drogensüchtiges“ Model über der Kloschüssel arrangiert: „Jetzt ist es verstörend.“) Man hört Radiostimmen, dramatische Filmmusik, dazwischen, meint man, schnarrt schon der Klang der gar nicht so fernen Zukunft. Hetzerisch, verworren, verwerflich.

Zum Erfolg des Abends tragen nicht nur die beiden Schauspieler bei, sondern auch die Musiker Roman Britschgi und Oliver Roth, die von Gitarre über Querflöte bis Kontrabass alles spielen können, als Textvorleser, Geräuschkulisse (z.B. als Fernschreiber oder Schreibmaschine) und Vidiwallträger herhalten müssen. Und sich mit Stein ein Bier teilen. Das alles in leicht Schweizerisch. Original-originell. Gibt’s die beiden als Kabarettduo zu buchen?

Das Ende? Ein junger Autor darf kurz optimistisch sein. Auch Habenichtse können wenigstens einander haben. Oder doch nicht? Wie erfreulich, dass dem Allüberallthema Erster Weltkrieg einmal bedeutungsunschwer begegnet wird. Hätten sich die Menschen in schlimmsten Zeiten nicht verliebt, wir wären nicht auf dieser Welt.

www.josefstadt.org

Wien, 19. 5. 2014

Peter Handke am Schauspielhaus Graz

Februar 3, 2014 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

„Immer noch Sturm“ als Februar-Premiere

Immer noch Sturm Bild: Lupi Spuma

Immer noch Sturm
Bild: Lupi Spuma

Am 13. Februar kommt „Immer noch Sturm“ von Peter Handke auf der Hauptbühne zur Premiere. Regisseur Michael Simon (zuletzt Elfriede Jelineks „Rechnitz. Der Würgeengel“) lässt neben den SchauspielerInnen vierzehn SpielerInnen mit slowenischen Wurzeln und Sprache in seiner Inszenierung mitwirken. Zum Stück: Unter dem Apfelbaum seiner Ahnen, der wie diese fest im Jaunfeld verwurzelt ist, nimmt der Dichter Peter Handke eine Familienaufstellung vor. Anhand der zum Teil fiktionalisierten Biografien seiner Mutter, der ihrer Eltern und Geschwister, die der slowenischen Minderheit in Kärnten angehörten, wird ein bewegtes Zeitalter Kärntner Geschichte lebendig – vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Ich-Erzähler ist um Verstehen und Aneignung der Lebenswelt seiner Vorfahren bemüht, die wider Willen eine tragische Entwicklung erfährt. Als Spielleiter vermag er Zeiten und Perspektiven zu wechseln: mal ist er nur Beobachter, mal mischt er sich als Familienmitglied mit Fragen und Kommentaren ein. „Meine Vorfahren nähern sich von allen Seiten.“ Mit Julius Feldmeier, Kaspar Locher, Christoph Rothenbuchner, Seyneb Saleh, Birgit Stöger, Jan Thümer;
Matej Bunderla, Tanja Čertov, Stefan Czvitkovich, Heide Gaidoschik, Max Gallob, Judith Grandits, Ivanka Gruber, Ludwig Gruber, Petra Kohlenprath, Tomaž Kovačič, Andreas Kueß, Damijan Smrećnik, Stipe Subasic und Lara Vuković.

„Zugabe“ zu „Immer noch Sturm“: Die historische Deutung der Widerstandbewegung der Kärntner PartisanInnen während des Zweiten Weltkrieges ist ein thematischer Schwerpunkt in Peter Handkes Stück „Immer noch Sturm“. Die österreichische Schriftstellerin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Maja Haderlap hat in ihrem Roman „Engel des Vergessens die Problematik der SlowenInnen in Kärnten behandelt. Für die „Zugabe“ liest sie am 25. Februar Ausschnitte aus ihrem Werk zum Thema. Nach dem großen Interesse an der Ausstellung zu „Thalerhof“ im Schauspielhaus Graz wird auch Michael Simons Handke-Inszenierung von einer thematischen Fotoausstellung zum Widerstand der Kärntner Slowenen gegen das NS-Regime begleitet. Die Ausstellung im Foyer und Salon im 1.Rang kann eine Stunde vor allen Vorstellungen auf der Hauptbühne besichtigt werden.

Auf der Probebühne inszeniert Alexandra Liedtke August Strindbergs Traumspiel „Fräulein Julie“. Die Premiere findet am 1. Februar statt. Zum Stück: Der Graf ist verreist, in der Scheune tanzen die Angestellten, die Küche haben der Diener Jean und die Köchin Kristin für sich. Aber das Fräulein Julie stört die Zweisamkeit der Verlobten. Die schöne Grafentochter will Jean, den Diener. Doch der Liebesrausch währt nur kurze Zeit und am nächsten Morgen sind die Rollen vertauscht – Jean ist der Überlegene, der die Tochter seines Herrn zur Gedemütigten macht und erweist sich als eiskalt kalkulierender Aufsteiger und was als Romanze begann, endet in einer blutigen Selbstvernichtung. Mit Tabea Bettin, Pia Luise Händler und Local Hero Thomas Frank.

Europa 14/18 – Die neue Reihe auf der Ebene 3

Kaum ein Krieg, der auch die Literatur der Zeit derart beeinflusst und so viel Dichtung hervorgebracht hat wie der Erste Weltkrieg: Klassiker der Weltliteratur sind darunter, wie die Werke Remarques, Hemingways oder Stefan Zweigs. Das Schaffen der Dichter und Dramatiker des Expressionismus, die die Zeit im und um den „Großen Krieg“ beschrieben, war sogar titelgebend für eine ganze künstlerische Strömung. Einerseits wurden mittels Kriegsberichten, Briefen von der Front, Erzählungen und Geschichten aus dem Schützengraben die zuhause Gebliebenen aus erster Hand über Gefahren, Leid und Leben im Feld informiert, oft aber auch emotionalisiert und mobilisiert. Andererseits war der Krieg in den Texten nicht zum Kampf eingezogener Zeitgenossen Thema, hier wurde er aus größerer Distanz beäugt, kritisch reflektiert, fand die allgemeine Stimmungslage Niederschlag. In der Reihe Europa 14/18 präsentieren SchauspielerInnen des Ensembles 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in loser Folge Literatur zu, über und aus der Zeit von 1914 bis 1918.

Krieg der Sterne: Ein Abend mit Fragmenten aus der Feldpost von August Stramm »Die Erde spritzt, als ob sie Reigen tanzt und dazwischen Rübenstücke und allerlei Gegenstände aufpeitscht. Man kann das gar nicht beschreiben, gar keinem klar machen, weil niemand es sich vorstellen kann, weil man es selber nicht glaubt, trotzdem man mitten im Erleben steckt.« August Stramm (1874 bis 1915), deutscher Schriftsteller und Postbeamter, war führender Dichter im expressionistischen Kreis um H. Waldens Zeitschrift Der Sturm. Seine Texte bestechen durch eine radikale Verdichtung und Transformation der Sprache. Von & mit Pia Luise Händler und Gästen am 26. Februar. Valentin, Ganghofer und die laute Zeit: Sketche, Couplets, Gedichte von Karl Valentin und Ludwig Ganghofer. Die einen schrieben von Zuhause aus, die anderen berichteten aus dem Schützengraben. Mit Steffi Krautz & Franz Josef Strohmeier am 20. März.

www.schauspielhaus-graz.com

Wien, 3. 2. 2014