Albertina: Jakob, Franz und Rudolf von Alt

November 6, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Eine Künstlerfamilie und ihre meisterlichen Aquarelle

Rudolf von Alt: Blick in die Alservorstadt, 1872. © Albertina, Wien

Die Albertina zeigt ab 9. November die Ausstellung „Jakob, Franz und Rudolf von Alt“. Die Werke der Künstlerfamilie Alt zählen zu den Meisterleistungen österreichischer Aquarell- malerei. Sie haben ihren Ausgangspunkt im Wiener Biedermeier und begleiten den großen Bogen der Kultur- geschichte bis hin zur Kunst um das Jahr 1900. Ihre Themen sind Architektur und Landschaft, vor allem das Leben in der Stadt und die Schönheit der Natur.

Jakob Alt: Die Blaue Grotte auf der Insel Capri (Guckkastenblatt), um 1835/36. © Albertina, Wien

Franz Alt: Das Alte Kärntnertortheater, 1873. © Albertina, Wien

Zur Malerfamilie Alt gehören Jakob Alt (17891872) sowie seine beiden Söhne Rudolf (18121905) und Franz (18211914). Jakob Alt kam 1810 von Frankfurt am Main nach Wien. Mit druckgrafischen Serien von Stadtansichten und Landschaften sorgte er für das Auskommen seiner Familie. Rudolf Alt im hohen Alter nobilitiert und damit ab 1897 Rudolf von Alt und sein jüngerer Bruder Franz erlernten die Aquarellmalerei bei ihrem Vater. Daraus entwickelte sich die Zusammenarbeit als gleichwertige Partner.

Beide Brüder gelangten in der Aquarellmalerei zu höchster Virtuosität und Ausdruckskraft. Franz genoss zwar zu Lebzeiten vor allem in der adeligen Gesellschaft Wiens größte Anerkennung, konnte aber die künstlerische Reife seines älteren Bruders nie erreichen. Rudolf folgte einem langen Lebens und Schaffensweg, der ihn bis in das beginnende 20. Jahrhundert zu immer neuen Lösungen und Bravourleistungen in der Aquarellmalerei führte.

Die Ausstellung zeigt hauseigene Schätze, die den hohen Stellenwert der Malerfamilie Alt für die Kunst des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll belegen.

Zu sehen bis 29. 1. 2023.

www.albertina.at

6. 11. 2022

Albertina modern: The Face. Avedon bis Newton

Juli 31, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Starfotografen fotografieren Stars

Franz Hubmann: Marc Chagall (1887-1985), 1957, Abzug 1999 | Albertina, Wien – Schenkung Sammlung Helmut Klewan © Franz Hubmann / brandstaetter images / picturedesk.com

Die Ausstellung „The Face“ in der Albertina modern zeigt ausgewählte Werke zeitgenössischer Porträtfotografie aus der Sammlung der Albertina. Die Fotografien von internationalen und nationalen Künstlerinnen und Künstlern zeigen, wie facettenreich das Thema Porträt sein kann: Der Bogen reicht von eindringlichen Bildnisstudien berühmter Persönlichkeiten über Porträtaufnahmen von Kunstschaffenden in ihren Ateliers bis hin zu Arbeiten, die sich mittels serieller Aufnahmen eingehend mit den Porträtierten und ihrem Lebensumfeld auseinandersetzen.

Über die gezeigten Fotografien werden Themen wie kulturelle Identität, persönliche Beziehungen, diverse Lebenswelten aber auch Fragen der Herkunft und des eigenen Ichs verhandelt. Mit Werken unter anderem von Nancy Lee Katz, Richard Avedon, Gottfried Helnwein, Chuck Close und Franz Hubmann.

Zu sehen bis 6. November.

www.albertina.at

27. 7. 2022

Gottfried Helnwein: Michael Jackson, Köln, 1988 | Albertina, Wien © Gottfried Helnwein / Bildrecht, Wien 2022

Gottfried Helnwein: Elton John, München, 1992 | Albertina, Wien © Gottfried Helnwein / Bildrecht, Wien 2022

Gottfried Helnwein: Mick Jagger, London, 1982 | Albertina, Wien © Gottfried Helnwein / Bildrecht, Wien 2022

 

Kammerspiele: Was ihr wollt

April 28, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Weil ich ein Mädchen bin …

Helden in Strumpfhosen: Markus Kofler, Matthias Franz Stein, Alexander Strömer, Dominic Oley, Tamim Fatal, Ljubiša Lupo Grujčić. Bild: © M. Schell

Wer hätte gedacht, dass sich im Josefstädter Ensemble derart viele herrliche Dragqueens verstecken? Auf die man noch dazu nur neidisch sein kann, weil – nackte Männerbrust hin oder her – wow, gibt es da sexy Beine zu sehen … In den Kammerspielen der Josefstadt zeigt Regisseur Torsten Fischer Shakespeares „Was ihr wollt“ in (bis auf Maria Bill als melan- cholischem Clown) männlicher Besetzung. Der Kniff passt zum britischen Barden, durfte doch zu dessen Lebzeiten keine Frau auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stehen. Fischers gemeinsam mit Herbert Schäfer erstellte modernisierte Textfassung sprüht nur so vor Bonmots und Pointen.

Ist an den passenden Stellen derb, an den richtigen elegisch. Die Darsteller scheuen mitunter auch vor tief aus der Klamottenkiste geholtem Klamauk nicht zurück, und sind in ihrem Spiel in dieser irrwitzig wortwitzigen Romantic Comedy dergestalt stark, dass selbst ein gutgetrimmter Dreitagebart der Illusion keinen Schaden zufügen kann. Und wenn’s die Helden in Strumpfhosen gar zu bunt treiben, unterbricht die Bill als Botin aus einem weniger leichten Leben in den hochemotionalsten Momenten und singt Astor Piazzola.

„Rinascerò“ nach dem mit Tamim Fattal und Ljubiša Lupo Grujčić mehrsprachig erlittenem Schiffbruch, „Los Pájaros Perdidos“ wenn Herzen brechen, „Oblivion“ hat sie selbst übersetzt. Tango Argentino, Tango Nuevo, Musik vom Rio de la Plata, die hier Krzysztof Dobrek am Akkordeon und der Geiger Aliosha Biz alternierend mit Nikolai Tunkowitsch interpretieren. Allein diese Augenblicke sind den Besuch der Vorstellung wert und wurden vom gestrigen Publikum auch mit Szenenapplaus bedankt.

Die Handlung ist tatsächlich sehr geschlechterfixiert: In Illyrien schmachtet Herzog Orsino nach der Hand der Gräfin Olivia, die sich jedoch in der Trauer um den hingeschiedenen Vater und Bruder ergeht. Da stranden die Zwillinge Viola und Sebastian an der Küste, allerdings im jeweiligen Glauben das andere Geschwister sei ertrunken. Viola verkleidet sich als Jüngling „Cesario“ und tritt in die Dienste Orsinos. Beauftragt mit dessen Liebeswerben entbrennt Olivia für den „jungen Mann“.

Rehrl, Niedermair und von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Ach, armer Rehrl! – Ich kannte ihn: Mit Clownin Maria Bill. Bild: © Moritz Schell

Dick und Doof: Robert Joseph Bartl und Matthias Franz Stein. Bild: © M. Schell

Alldieweil versuchen Olivias Onkel und Trunkenbold Sir Toby und Kammerkätzchen Maria den um Olivia werbenden, reichen, aber dümmlichen Sir Andrew auszusackeln; der Olivia besitzen und die Schluckspechte ausmerzen wollende Haushofmeister Malvolio wird per Intrige zum Narren gemacht, Stichwort: Komm‘ im gelben Höschen, dann zeig ich dir mein Möschen. Sebastian erscheint. Orsino und Olivia fighten um den schönen Knaben, der sich zum Glück als zwei vom jeweils angemessenen Sexus entpuppt. Ende gut, Torsten Fischer, denn der Regisseur demontiert die altväterische Ordnung. Immerhin Sir Toby heiratet Maria. Das alles ereignet sich auf der reinweißen Bühne der Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos. Vorne gibt es einen Spalt für freiwillige und unfreiwillige Abgänge.

Julian Valerio Rehrl spielt niemals travestiehaft, sondern subtil Viola/“Cesario“ und Sebastian, als zweiterer ein burschikoser Haudrauf, als erstere von einer Delikatheit und Zartheit, die nicht nur den Herzog verwirrt. Als solcher bleibt Claudius von Stolzmann hinter seinen Möglichkeiten, die blass geschminkten Gesichter müssen ja nicht in ebensolches Agieren ausarten, mag aber auch sein, dass man von seinem fulminanten Mackie Messer immer noch in der Weise eingenommen ist, dass jede andere Rolle dagegen bis auf Weiteres …

Claudius von Stolzmann, Julian Valerio Rehrl. Bild: © M. Schell

Die Schiffbrüchigen, Mi.: Rehrl als Viola. Bild: © Moritz Schell

Martin Niedermair als liebestrunkene Olivia. Bild: © Moritz Schell

Dominic Oley als verhöhnter Malvolio. Bild: © Moritz Schell

Martin Niedermair ist ganz großartig als beständig am Rande der Hysterie wankende Olivia, die Lady ein Fashion Victim im schwarzen Reifrock und mit extravaganten Hüten – und in Strapsen hinreißend! Alexander Strömer gibt lustvoll die rachsüchtige Kammerzofe Maria (im Rockabilly-Kleid), die mit Sir Toby, Sir Andrew und Ljubiša Lupo Grujčić als Diener Fabian jenen sinistren Plan gegen Malvolio schmiedet. Wobei Robert Joseph Bartl als nie nüchterner Sir Toby und Matthias Franz Stein als „Ich will nach Hause“ wimmernder Sir Andrew als Doubles von Laurel und Hardy – inklusive Saloontänzchen zu „Jerusalema“ – auftreten: Zwei Herren dick und doof. „Er liebt Verkleidungen und Rollenspiele“, sagt Sir Toby über Sir Andrew. Na dann.

Fischer versteht es, Shakespeare zu aktualisieren, ohne sich zu weit von ihm zu entfernen und doch überkommene Geschlechterrollen aufzuzeigen. Bisexualität auszuleben ist in dieser Welt kaum mehr kontroversiell, dagegen kann man als Mann immer noch misogyne Frauenbilder propagieren. Ein Beispiel: Nicht einmal die frauenfeindliche Tirade des Herzogs  – „Frauen haben kleinere Herzen als Männer“ – kann Violas Gefühle trüben. Allein für Orsino dauert es etwas länger, sich diese einzugestehen, muss er sich doch damit abfinden, sich vermeintlich in einen Mann verliebt zu haben.

Alexander Strömer als Kammerzofe Maria, Bartl und Stein. Bild: © M.Schell

Szenenapplaus: Die Bill singt Astor Piazzolla. Bild: © Moritz Schell

Mit gefälschtem Brief getäuscht: Dominic Oley als Malvolio. Bild: © Moritz Schell

Wer darf wen wie berühren? Was darf wer zu wem sagen? „Ich glaub, du musst mal wieder flachgelegt werden“, meint Sir Toby zu Nichte Olivia – das klingt von einem an den anderen männlichen Schauspieler adressiert schon ganz anders. Zu all diesen Irrungen und Wirrungen gehört ebenso Markus Koflers Seemann Antonio, der Sebastian rettete und bei Fischer als Flüchtlingsschlepper auftritt. Anno 2022 haben Liebeschwüre, Umgarnungen und Küsse zwischen Männern einen anderen, Vienna-Pride-Subtext als vielleicht ums Jahr 1600.

„Ich konnt‘ Euch so nicht lassen: mein Verlangen, / Scharf wie geschliffner Stahl, hat mich gespornt, / Und nicht bloß Trieb zu Euch / Auch Kümmernis, wie Eure Reise ginge … / Bei diesen Gründen / Der Furcht ist meine will’ge Liebe Euch / So eher nachgeeilt!“, so Antonio. Bleibt als einziger Vertreter toxischer Männlichkeit Dominic Oley als moralinsaurer, alsbald um Contenance ringender Malvolio, als der sich Oley jede nur denkbare Blöße gibt. Und immer wieder fällt, von verschiedenen Figuren gesagt, ein: Macht doch, was ihr wollt. Fazit: Das Publikum, darunter zwei Reihen ukrainischer Schülerinnen und Schüler, lachte bis beinah das Zwerchfell barst. Empfehlung: Schauen Sie sich das an!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=QI9FYFf0bQQ           www.josefstadt.org

28. 4. 2022

Belvedere: Face to Face. Marc Quinn meets Franz Xaver Messerschmidt

Februar 28, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Von der Faszination grotesk verzerrter Charakterköpfe

Marc Quinn, Emotional Detox II, 1995 (copyright Marc Quinn Studio) and Franz Xaver Messerschmidt, Character Head No.33, 1777/1783 (copyright Belvedere, Wien). Image courtesy of Marc Quinn studio

Ein Dialog zwischen zeitgenössischer Kunst und bedeutenden Werken aus der Sammlung des Museums: Das Belvedere stellt die WerkserieEmotional Detox“ des britischen Künstlers Marc Quinn den berühmten „Charakterköpfen“ des barocken Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt gegenüber. Messerschmidts Arbeit inspiriert Quinn seit Langem – der direkte Einfluss der „Charakterköpfe“ auf die Entstehung vonEmotional Detox“ ist nun im Oberen Belvedere zu sehen, wo die beiden Werkgruppen erstmals miteinander gezeigt werden.

Marc Quinns acht lebensgroße skulpturale Selbstporträts entstanden in einer herausfordernden Phase im Leben des Künstlers, als er Anfang der 1990er-Jahre die körperlichen und seelischen Qualen eines Alkoholentzugs überwinden musste. In dieser Zeit betrachtete er regelmäßig die Messerschmidt-Skulptur „Der starke Geruch“ im Victoria and Albert Museum in London. Die ausdrucksstarke Darstellung aus dem 18. Jahrhundert inspirierte Quinn, seine eigene Erfahrung in der Serie „Emotional Detox“ auszudrücken. Die Verwendung der Materialien Blei und Wachs, die Spuren des Herstellungsprozesses und die expressive Darstellung kehren das innere Empfinden nach außen. Der Dämon, der dem Gemarterten an die Gurgel geht, ist er selbst. Die Hände des Bildhauers würgen und knuffen sein Abbild, boxen in sein Gesicht, pressen den Schädel. Die bis zur Taille reichende Büste ist stückhaft, roh, durchlöchert. Die Hände haben sich von den Armen gelöst und ein sadistisches Eigenleben begonnen. Der Bildhauer legt Hand an (sich selbst).

Marc Quinn: „Seit Beginn meiner Beschäftigung mit Kunst fesseln mich Franz Xaver Messerschmidts Skulpturen und seine unglaubliche Fähigkeit, Gefühle darzustellen. Mit diesen Werken gelang es Messerschmidt, die strengen Regeln der Hofkunst des 18. Jahrhunderts zu durchbrechen und lebensnahe Themen menschlicher Existenz darzustellen, die uns auch heute noch – 200 Jahre später – ansprechen. Als ich Anfang der 1990er-Jahre gezwungen war, meinen hedonistischen Lebensstil zu ändern, spendeten mir die ,Charakterköpfe‘ viel Trost. Ein Jahr lang konnte ich nicht arbeiten, erst durch Messerschmidts Werke fand ich wieder zur Kunst zurück. Sie brachten mich dazu, die Serie ,Emotional Detox‘ zu schaffen. Beide nun gemeinsam in den großartigen Räumen des Oberen Belvedere ausgestellt zu sehen, ist für mich die Erfüllung eines Traums.“

Marc Quinn, Fear of Fear, 1994. © Marc Quinn Studio. Image courtesy of Marc Quinn studio

Marc Quinn, Emotional Detox: The Seven Deadly Sins IV, 1995. © Marc Quinn Studio. Image courtesy of Marc Quinn studio

Marc Quinn, Emotional Detox: The Seven Deadly Sins VI, 1995. © Marc Quinn Studio. Image courtesy of Marc Quinn studio

Der Anspruch, den flüchtigen Ausdruck von Emotion in Mimik und Gestik festzuhalten und mit den Mitteln der Bildhauerei zu fassen, verbindet Marc Quinn und Franz Xaver Messerschmidt über die Zeiten hinweg. Beide Künstler arbeiten mit Blei, einem Material, das für seine Toxizität und seine Rolle in dem sagenumwobenen alchimistischen Vorgang, der in einem Prozess der Verwandlung zu Gold führt, essenziell ist. Die autobiografischen Arbeiten beider Künstler thematisieren zutiefst persönliche Lebenseinschnitte und zeigen ergreifende Selbstinszenierungen. Die Ausstellung „Face to Face“ ist die erste gemeinsame Präsentation der Werke von Franz Xaver Messerschmidt und Marc Quinn.

Franz Xaver Messerschmidt schuf die Werkgruppe der „Charakterköpfe“ in seinen letzten Lebensjahren von 1770/71 bis 1783, die er zurückgezogen und enttäuscht vom Wiener Kunstbetrieb in Bratislava verbrachte. Die zum Teil ins Groteske verzerrten Gesichter geben bis heute Rätsel auf. Ihre deskriptiven Titel erhalten die Köpfe erst von der Nachwelt. Was den Künstler zu diesen Darstellungen motiviert hat, wird bis heute heftig diskutiert. Das Belvedere besitzt mit 16 Originalen den größten Bestand an Messerschmidts „Charakterköpfen“, von denen bis heute eine große Faszination ausgeht. Durch ihre von jeder Generation neu erfahrene Aktualität laden sie zu einer Gegenüberstellung mit zeitgenössischen Positionen ein.

Franz Xaver Messerschmidt, Ein düstrer finstrer Mann, 1770/1783. © Belvedere, Wien. Image courtesy of Marc Quinn studio

Franz Xaver Messerschmidt, Ein Erhängter, 1771/1783. © Belvedere, Wien. Image courtesy of Marc Quinn studio

Franz Xaver Messerschmidt, Ein Schalksnarr, 1777/1783. © Belvedere, Wien. Image courtesy of Marc Quinn studio

Marc Quinn, 1964 in London geboren, ist einer der ausdrucksstärksten Künstler seiner Generation. Seine Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen erforschen das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur sowie den menschlichen Körper und die Wahrnehmung von Schönheit. Sein Werk nimmt häufig Bezug auf die Kunstgeschichte – von modernen Meistern bis zur Antike. Quinn wurde 1991 mit seiner „Skulptur Self“ bekannt, einem Abguss des Kopfes des Künstlers aus fünfeinhalb Litern seines eigenen gefrorenen Blutes. Während sich ein Großteil seiner frühen Arbeiten auf die Erforschung des Selbst konzentrierte, war Quinn bald fasziniert davon, die Erfahrungen anderer zu reflektieren – Werte, Wahrnehmung und die Bruchlinien der Gesellschaft infrage zu stellen.

Andere von der Kritik gefeierte Werke sind „Alison Lapper Pregnant“ (2005), ausgestellt auf dem Fourth Plinth des Londoner Trafalgar Square; „Planet“ (2008), eine monumentale Darstellung des Sohnes des Künstlers als Baby, dauerhaft installiert in Gardens by the Bay, Singapur; „Breath“ (2012), eine monumentale Nachbildung von „Alison Lapper Pregnant“, die für die Eröffnungszeremonie der Paralympics 2012 in London in Auftrag gegeben wurde, und „Self Conscious Gene“ (2019), eine 3,5 Meter hohe Bronzeskulptur des „Zombie Boy“ Rick Genest, die im Science Museum in London permanent ausgestellt ist. Quinns Werke sind in Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten, darunter Tate, London, Metropolitan Museum New York, Guggenheim, Venedig, Stedelijk Museum, Amsterdam und Centre Pompidou, Paris.

Zu sehen bis 3. Juli

www.belvedere.at

28. 2. 2022

Jürgen Pettinger: Franz. Schwul unterm Hakenkreuz

Januar 9, 2022 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Für den „Warmen“ kein Pardon

Er ist ein vollständig haltloser, seinen widernatürlichen Trieben gegenüber machtloser Verbrecher, bei dem von Freiheitsstrafen kein erzieherischer oder abschreckender Erfolg mehr zu erwarten ist. (Der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde beim Landesgericht Wien als Sondergericht, 16. Oktober 1943)

Am 13. April 1943 gab der für derlei Spitzeldienste von der Polizei abgerichtete Ferdinand Jezek, Deckname: Jussuf, bei seiner Einvernahme durch Kriminalinspektor Karl Seiringer zu Protokoll, in seiner Wohnung mit einem Burschen Sex gehabt und diesen dafür bezahlt zu haben. Schon am nächsten Tag wurde Franz Doms in der elterlichen Wohnung festgenommen. Er sollte nie mehr das Licht der Freiheit erblicken, denn an Franz Doms wollte das Dritte Reich ein Exempel statuieren.

Die Nationalsozialisten hatten von Beginn ihres Terrorregimes an die systematische Verfolgung von Homosexuellen intensiviert. Von 1932 bis 1943 gab es laut Statistischem Reichsamt mehr als 52.800 Verurteilungen. Die „Sondermaßnahmen“ für die Delinquenten reichten von der „freiwillig beantragen“ chemischen

Kastration über das medizinische Experiment, der operativen Einpflanzung einer künstlichen Sexualdrüse, bis zur Deportation in ein Konzentrationslager, wo die Häftlinge mit einem rosa Winkel gekennzeichnet und gezielt ermordet wurden. Opfernamen gibt es viele, bekannt ist kaum einer. Autor Jürgen Pettinger erzählt in seinem Recherche-Roman „Franz. Schwul unterm Hakenkreuz“ stellvertretend für diese vielen vom Schicksal des Franz Doms. Schon für ein Radiofeature arbeitete er sich durch die Vernehmungsprotokolle und andere Dokumente, nun in Buchform hat er die vergilbten Strafakte der NS-Zeit mit Leben erfüllt – nichts ist erfunden und doch fiktional. Das ermöglicht nicht nur einen differenzierten Blick auf Franz Doms als Menschen jenseits der bürokratischen Kälte des Amtsdeutsch, sondern zeichnet auch ein Sittenbild jener finsteren Tage.

Am 10. November 1943 wurde Franz Doms vom Richter eines Wiener Sondergerichts zum Tode verurteilt. In ihm kulminierten alle Ressentiments, die die Nationalsozialisten gegen Schwule hatten: er galt als Jugendverderber, hemmungsloser Sexualstraftäter, Erpresser und Dieb. Pettinger geht der Frage nach, wer dieser junge Mann war, der auf einem erhalten gebliebenen Gestapo-Foto den Hut so verwegen auf dem Kopf trägt und dabei stolz und ernst in die Kamera schaut. War er ein naiver 21-Jähriger oder ein Strizzi? Verstand er sich als homosexuell?

Pettingers Arbeit ist als Plädoyer für – nein, das Wort Toleranz wird an dieser Stelle nicht gemocht -, als Plädoyer für Aufgeschlossenheit und Vorurteilslosigkeit, für Humanität zu lesen. Sie ist ein Niemals-Vergessen in einer Aktualität, in der Menschen nach wie vor wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Religion und ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Weiß man, dass die Roten Khmer alle Brillenträger exekutierten, weiß man, es kann jede und jeden treffen.

Besonders eindrücklich gelingen Pettinger die Schilderungen aus dem Todestrakt, ein stiller Hades, in dem jedes Geräusch ein Leben besiegelt. „Das Klirren der Springerkette verursacht Franz neuerlich Gänsehaut, der Delinquent wird abgeführt. Das fehlende Klappern seiner Pantoffel (diese mussten vor der Hinrichtung ausgezogen werden, Anm.) auf dem Steinboden macht die Szene für die Zuhörer nicht weniger bedrückend. ,Mach es gut‘, ruft einer aus einer anderen Zelle … Die dumpfen Aufschläge des schweren Eisenmessers hallen am Abend immer bis in den letzten Winkel jeder Zelle. Wumms! Wie ein Uhrwerk, alle zwei Minuten ein Schlag.“ Soweit Pettingers Schreibstil: schnörkellos sachlich, unter die Haut fahrend plastisch und auf anrührende Art intim.

Rund um Franz gruppiert Pettinger ein Panoptikum an Nachbarn, Freiern, Gestapo-Männern, Kriminalbeamten, der illustren Runde im Gasthaus Emminger, heute das Gasthaus Hansy. Er stellt das Wiener Denunziantentum, den Bassenatratsch, die Neidgesellschaft, denn Franz verdient mit seinen Gefälligkeiten gut, zur Schau. Lichtgestalt ist die ältere Schwester Josefine, ein politischer Kopf, der die Auswirkungen des „Anschluss“ mit Argusaugen verfolgt: „die brennenden Synagogen, die beschmierten und eingeschlagenen Schaufenster, die allgemeine Gleichgültigkeit darüber, die Schadenfreude und die Niedertracht.“

Bild: © Wiener Stadt- und Landesbibliothek

Sie sieht die Gefahr, in der Franz schwebt: „Als Franz eines Tages wieder nach einer langen Nacht betrunken nach Hause gekommen war, platzte Josefine der Kragen und sie sagte ihm geradeheraus auf den Kopf zu, dass er ein Strichjunge sei.“ Der Kapitänsgattin Amalie Winkler, „die an Franz immer schon einen Narren gefressen hatte“, und der wohlwollenden Hausbesorgerin vom Handelskai 208 stehen die missgünstigen Marie Vecs aus der Nachbarwohnung und der Schlosser Eduard Poly aus dem Stock darunter gegenüber, zweiterer „bei der Partei“.

Ihre Aussagen über den „Taugenichts“, dessen Schwester ihn im Streit beschuldige „ein Warmer“ zu sein, ihre Angabe Franz hätte laut „Der Hitler kann mich am Arsch lecken!“ gerufen, bringen „den Unzüchtler“ ins Hotel Métropole. „,Wir machen jetzt ein bisschen Schädelgymnastik!‘, sagte der Beamte, schaltete das übertriebene Grinsen in seinem Gesicht aus und fügte eindringlich hinzu: ,Das ist gut für Ihr Gedächtnis, Herr Doms.‘“ Erschütternd ist dieser Eifer mit dem die NS-Justiz das „homosexuelle Milieu“ verfolgte. Diese Stimmung aus Angst und Erpressung, die das schwule Leben prägte. Jederzeit konnte man auf Verdacht festgenommen werden, immer mit dem Ziel, weitere Personen zu identifizieren und – siehe Jussuf – zu verraten.

Mit der Aussicht auf Folter war es für die Polizei ein leichtes, jede Form von queerer Solidarität im Keim zu ersticken. Schwules Leben fand im Untergrund statt, mit Decknamen und Maskeraden, geheimen Codes und Doppelleben. Eine fein skizzierte Figur ist nicht zuletzt deshalb der Kriminalkommissar Seiringer, mit dem sich nackt in der Dampfkammer im einschlägig bekannten Römischen Bad, man habe ja schon immer gemunkelt, dass der Seiringer „einer von denen“ sei, eine nicht unkomische Szene ergibt. Oder Gefängnispfarrer Köck, der am Ende dafür sorgen wird, dass Franz nicht anonym verscharrt, sondern im Familiengrab auf dem Zentralfriedhof beigesetzt wird. Die „Politischen“ aus der Zelle daneben, die beiden zumindest etwas Trostspender heißen Stefan Rambausch und Leopold Hadáček, sie werden am selben Abend wie Franz enthauptet.

Und dann ist da eine Liebe, mit der man hofft und bangt, obwohl deren Ausgang bekannt ist. Kurt, „der Schlurf“, der Stricher, der tagsüber bei einer Wurfbude im Prater jobbt. Franz ist vom ersten Moment an hin und weg von der Weltläufigkeit seines neuen Freundes. Einmal werden die beiden gemeinsam inhaftiert. „Wiederholungstäter“ Franz, der nie einen anderen denunzierte, um sich selbst zu retten, saß insgesamt drei Mal ein. Pettinger zeigt einen grauenhaften Gefängnisalltag voll Krankheiten, Krätze, Läusen, Strafen mit dem Ochsenziemer, Mitgefangene, die von den „Unzüchtlern“ sexuelle Handreichungen fordern oder ihnen andernfalls Prügel androhen. „Aus ist es mit dem Liebesglück!“, feixen die Justizwachebeamten, die um Franz‘ und Kurts Situation wissen.

Bild: © WSTLA, Landesgericht für Strafsachen, A11; 2398/1943

Hände, die sich berühren: Entwurf für das Denkmal im Resselpark. Bild: © Marc Quinn

Einmal noch zum Begräbnis der sich zu Tode gegrämt habenden Mutter wird Franz freigelassen. Wo Kurt ist, weiß er nicht, und so beginnt Franz den Geliebten zu suchen. Bis dieser mit seinem typisch schelmischen Lächeln vor ihm steht: „Josefine war an seiner statt zu dem Wurfstand gegangen und hatte Kurt dort einfach angesprochen. Danach hatten sich die beiden mehrfach getroffen und den Plan geschmiedet. Franz wünschte sich schon lange, dass sie sich eines Tages kennen lernen würden. Davon, dass ausgerechnet seine Schwester den ersten Schritt in diese Richtung machen würde, hätte er aber nie und nimmer zu träumen gewagt.“ Josefine hatte die sexuelle Orientierung ihres Bruders als wichtigen Teil seiner selbst angenommen: „Es ist also besser, ihr trefft euch mit meinem Wissen, als ihr tut es heimlich“, sagt sie.

„Franz. Schwul unterm Hakenkreuz“ ist als Auftrag zu verstehen, sich mit der queeren Geschichte in Österreich zu beschäftigen. Weil sich so vieles im Geheimen ereignen musste, ist die Quellenlage dünn. Doch es gibt Bestrebungen, dieses wichtige Vorhaben anzugehen. Im Resselpark wird ein Denkmal für die homosexuellen Opfer des Dritten Reichs entstehen. Die Skulptur des britischen Künstlers Marc Quinn wird vier Hände, zwei von Männern, zwei von Frauen, darstellen, die einander berühren wollen – ein Moment einfachsten und elementar zwischenmenschlichen Kontakts. Realisiert werden sollte der Entwurf bereits 2021. Covid-19 kam dazwischen …

Zum Ende. Das Urteil wird vollstreckt. „Ein Vorhang wird beiseitegeschoben und im Laufschritt geht es in den angrenzenden waschküchenähnlichen Hinrichtungsraum. Franz wird auf den Bauch gelegt und mit Ledergurten auf einer Holzbank fixiert. Nicht fest, er merkt es kaum. Und schon hallt durch das Gerichtszimmer und durch die Korridore und Stiegen des E-Traktes der dumpfe Schlag des niedersausenden Fallbeils.“

Um 18 Uhr 41 Minuten 18 Sekunden meldet dieser (der Scharfrichter, Anm.) den Vollzug des Todesurteils. Das Verhalten des Scharfrichters und seiner Gehilfen war in keiner Beziehung zu beanstanden. Der Leichnam wurde in den bereitgestellten Sarg gelegt. (Landesgericht Wien, Vollstreckungshaft Franz Doms, 7. Februar 1944)

Über den Autor: Jürgen Pettinger, geboren 1976 in Linz, hat Wirtschaft & Management in Innsbruck studiert und als Redakteur und Moderator von Tirol heute im ORF-Landesstudio Tirol gearbeitet. 2012 wechselte er ins ORF-Zentrum Wien. Er moderiert die ZIB18, die ZIB Flashes, ZIB Nacht und gestaltet regelmäßig TV- und Radio-Reportagen. Für das Ö1-Radiofeature „Mit einem Warmen kein Pardon. Der Fall Franz Doms“ wurde er mit dem Prof. Claus Gatterer-Preis und dem deutschen dokKa-Preis geehrt. Gemeinsam mit ORF-Wettermoderatorin Eser Akbaba schrieb er das ebenfalls bei Kremayr & Scheriau erschienene Buch „Sie şprechen ja Deutsch!“

Kremayr & Scheriau, Jürgen Pettinger: „Franz. Schwul unterm Hakenkreuz“, Recherche-Roman, 192 Seiten.

www.kremayr-scheriau.at

  1. 1. 2022