Volkstheater: Erniedrigte und Beleidigte

September 16, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Exzellentes Ensemble spielt einen Dostojewski-Exzess

Der genialische Uwe Schmieder spielt einen der drei Wanjas, aber auch den betrogenen, verarmten Gutsbesitzer Ichmenew. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Im gegenüberliegenden Café hat man Sorge sowohl ums Volkstheater als auch um sich selbst. Das Stammpublikum bleibe dort ergo auch da aus, und die Jungen, die wüssten das Traditionslokal nicht zu schätzen: „Die stehen lieber mit der Bierdose vorm Haus.“ So beginnt der Abend zur zweiten Herbstpremiere der Intendanz Kay Voges. Mit erschreckend spärlich besetzten Reihen, und dies durchaus unverdient, denn ein exzellentes Ensemble spielt sich die Seele aus dem Leib.

In Sascha Hawemanns Bühnenfassung und Inszenierung von „Erniedrigte und Beleidigte“ – Dostojewskis Roman reloaded. Der ostdeutsch-jugoslawische Regisseur ergänzt den alten Russen um aktuelle Themen. Klimakrise, Diversität, Gleichstellung, davon war vor 160 Jahren noch nicht die Rede, doch wenn Fürst Walkowski und der Schriftsteller Wanja derlei zur Sprache bringen, gelingt Hawemann die Übung dies nicht als aufgesetzt-modernen Fremdkörper stehen zu lassen. Und apropos, Körper: Dostojewskis Personal nennt er „Splittermenschen“, wozu überaus stimmig passt, dass der Iwan Petrowitsch aka Wanja von den drei Darstellern Frank Genser, Samouil Stoyanov und Uwe Schmieder gestaltet wird (die beiden letzteren auch großartig in „Die Politiker“, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=47410).

Als noch überschwänglich junges, revolutionär mittleres und resigniertes altes Ich, die „Erniedrigte und Beleidigte“ eben erst zu Papier bringen, während sich das Bühnengeschehen darob schon entspinnt, Genser darin auch eingesetzt als nicht-die-hellste-Kerze-am-Kronleuchter Fürstensohn Aljoscha, während Schmieder als zweiten Part den, da vom Fürst betrogenen, verarmten, verhärmten Gutsbesitzer Ichmenew gibt. Der Rest ist schnell erzählt: Wanja liebt Ichmenews Tochter Natascha, Friederike Tiefenbacher, Natascha liebt Wanjas besten Freund Aljoscha, kurz lässt Hawemann sie enthusiasmiert von einer Ménage à Trois träumen. Doch der Fürst hat andere Pläne für seinen Adelsspross, nämlich die Heirat mit der vermögenden Gräfin Katja Fjodorowna, Evi Kehrstephan.

Um die Damenriege zu komplettieren, nimmt sich Wanja des Waisenkindes Nelly, Lavinia Nowak, an, eigentlich des Fürsten Tochter und ihre verstorbene Mutter dessen erstes Opfer bei seinem Jagdsport auf reiche Erbinnen. Kapitalistische Gier und Menschenverachtung, Hawemann zeigt sie als zentrale Krankheiten einer Gesellschaft ohne Utopien. Seine Wanjas sind nicht nur auktoriale Erzähler ihrer Geschichte und gleichzeitig Figuren in dieser, Berichterstatter, Bote und Personage, heißt: allwissend und unwissend in einem, sondern auch Alter Egos des Autors Dostojewski. Wie der Schriftsteller Wanja ums psychische wie physische Überleben kämpft, wie der Epilepsie-Kranke an Krampfanfällen leidet, das gemahnt doch sehr an seinen Schöpfer.

Die drei Wanjas Frank Genser, Samouil Stoyanov und Uwe Schmieder mit Friederike Tiefenbacher und Lavinia Nowak Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Der von Liebesqualen angekränkelte Wanja und Fürst Walkowski: Uwe Schmieder und Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

● In der ersten Hälfte der 1840er-Jahre stand Dostojewski dem Frühsozialismus nahe, was dem damals 28-Jährigen ein Todesurteil, eine Scheinhinrichtung und schließlich Zuchthaus in Sibirien einbrachte. Vier Jahre verbrachte er in Ketten in Omsk, darauf Jahre im Militärdienst in Semipalatinsk. Erst 1857 erhielt er seine Bürgerrechte wieder. Mit 38 Jahren beginnt Dostojewski seine Arbeit als Seismograph des Zeitgeschehens. Getrieben von Geldnot und um „Erniedrigte und Beleidigte“ veröffentlichen zu können, gründen sein Bruder Michail und er die Monatszeitschrift „Wremja“, in der Dostojewski seinen Roman in Fortsetzungen veröffentlicht. Eine Geschichte voll Daseinsdruck, Lebens- und Liebesdruck in St. Petersburg, der Stadt, die alle auffrisst.

Derart zwischen des Autors Kopfgefängnis und den verheißungsvollen Lichtern der Großstadt wechselt das Bühnenbild von Wolf Gutjahr, mal ein weißer Kubus, in dem lautloser Schnee fällt, mal zwei Riesenleuchtbuchstaben: das kyrillische Я, gesprochen als „ja/ich“ und das ж, erste Letter des Wortes Leben. Das dritte Bühnenobjekt, ein ausgehöhltes Kartonkreuz als mit den Romanseiten tapezierte Wohnstatt, Ikonen-geschmückte Kirche, abgründiger Gulag, zitiert Malewitschs „Schwarzes Kreuz“ aus dem Jahr 1923.

Und so beginnt die Aufführung im Schneeschauer, Schmieder wild um sich schreibend, Genser als Flagellant, Stoyanov, der die Christuspose übt – und abwinkt. Als Schmieder mittendrin zum Gutsbesitzer mutiert, bescheidet er die anderen Wanjas: „Ich bin jetzt der Vater, mach‘ du.“ Andreas Beck zieht vorüber als magerer Smith, dies naturgemäß ein Lacher, Nellys Großvater. Als den ihn Tragikomiker Stoyanov entlarvt, liegend im sich schneller drehenden und Schmieders Schreibtempo beschleunigenden Krankenhausbett. Stoyanov diktiert Schmieder die Zeilen, zu denen er befriedigt feststellt: „Das ist wirklich super.“ Während nebenan Wanja-Genser skurrilsinnig am Feindesnamen in Liebesdingen – Aljoscha – fast erstickt. Ja, das Volkstheater um Kay Voges und seinen Regie-Gästen hat eine expressiv eigene Art zu agieren, doch an dieser Stelle hat man entschieden dies erstmal zu mögen …

Friederike Tiefenbacher als Natascha Nikolajewna und Uwe Schmieder als von der Liebe zu Boden gerungener Wanja. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Im roten Kreuz: Friederike Tiefenbacher, Andreas Beck und Evi Kehrstephan als Gräfin Katja Fjodorowna. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Zum russisch-melancholischen Klavier- und Gitarrensound von Multiinstrumentalist Xell. entwickeln sich die Generationen-/Konflikte parallel, Schmieder gegen Tiefenbacher, Beck gegen Nowak, die Spielerinnen und Spieler oft nur Schatten im gleißenden Gegenlicht, die Konzentration ganz auf die Sprache gerichtet. Intensiv ist die Begegnung zwischen Wanja-Schmieder und Nelly-Nowak, der Engel mit der Erinnerung des Schmerzes und Aljoschas nervös tänzelnder Liebesplatzhalter. Nowak, die mit sexualisierten Gesten für die pädophile Kundschaft Nellys Strumpfhose bis zu den Knöcheln abstreift. Ein Symbol für deren Ausbeutung als Kinderprostituierte, wie Hawemann generell mehr auf symbolhafte Handlungen denn auf fein ziselierte Charakterstudien setzt.

Solcherart sucht er scheint’s das Spezielle ins Universelle fortzuschrauben. Mit subtilem Humor, der tyrannische Patriarch, Achtung: doppelter Wortwert, Beck besucht Opferlamm Natascha im roten Kreuz: „Je tugendhafter eine Handlung ist, um so mehr Egoismus steckt dahinter“; dann wieder plakativem Sarkasmus, Aljoscha zu Wanja: „Pseudoschriftsteller! Du kriegst nicht mal eine Inhaltsangabe hin!“ – und Tschingderassabum. Den Slapstick nicht zu vergessen, wenn die drei Wanjas am Rande des Nervenzusammenbruchs balancieren oder sich ein Klavierkonzert Katjas für Aljoscha zum Orgasmusstück  auswächst, Evi Kehrstephan, eine von vier übernommenen Kräften, die allerdings jetzt erst im Volkstheater so richtig angekommen wirkt.

Friederike Tiefenbacher überzeugt als frühsozialistische Heldin, deren Beispiel Katja dazu bewegt, ihr Erbe fürs Gemeinwohl spenden zu wollen, Andreas Beck als ihr Gegenpol des jovialen Reaktionärs, der seinen Sohn für einen Trottel hält und Wanja vorwirft, sich schriftstellerisch nur für Elend, Revoluzzer und den Rand der Gesellschaft zu interessieren, statt ein Loblied auf Urbanisierung und Industrialisierung zu singen. Alldieweil Schmerzensmann Schmieder als von seinen Figuren heimgesuchter Wanja diese nach und nach entgleiten.

Bei der Bubnowa: Friederike Tiefenbacher mit Lavinia Nowak, Samouil Stoyanov als Wanja und Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Führt Klage gegen ihre pädophilen Freier: Lavinia Nowak als des Fürsten Fehltritt Nelly und Frank Genser. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Es mag ein Seitenhieb aufs Was-bisher-Geschah sein, wenn er die Meinungsmacher und Verfasser schlechter Kritiken auffordert, den ersten Stein zu werfen, oder die Saalflüchtlinge, die es auch bei dieser Premiere gibt, rügt, erst „für die erste Reihe links“ zu zahlen, nur um sich dann „rechtschaffen“ aufregen zu können. Zitat Dostojewksi: „Diese Erneuerung des Schmerzes und der dadurch erzielte Genuss waren mir verständlich: diesen Genuss bereiten sich viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergetreten sind und sich der Ungerechtigkeit desselben bewusst sind.“

Mit Dostojewskis Reiseskizze „Winterliche Aufzeichnungen von Sommereindrücken“ über seinen Weltausstellungsbesuch des Londoner Kristallpalasts 1862, ihm ein Turm zu Babel und wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse, als welche er die nach Westen zu immer stärkere Zusammenballung der Industrie ansieht, die eine Aufhäufung von gewaltigen Reichtümern, aber auch von massenhafter Armut mit Kinderarbeit, Prostitution und Alkoholismus und dazu noch eine hemmungslose Zerstörung der Natur mit sich brachte – heute zu lesen als globale Kapitalismuskritik und jener am Glauben ans unendliche Wirtschaftswachstum, endet das Ganze.

David Bowie singt vom Band „Space Oddity“, man hat bildgewaltige, fieberträumerische Szenen gesehen, ein fabelhaftes Ensemble, das mit Verve durch Hawemanns Matrix aus Begehrlichkeiten, Gewalt und Selbst-/Aufgabe turnt. Einem Storytelling, das etwas Straffung vertragen könnte, in das man sich aber ohne Weiteres auch emotional involvieren darf. Der Applaus des bis zum Schluss verbliebenen Publikums war herzlich. Zugegeben, noch hat Kay Voges‘ Rakete nicht abgehoben, aber die Triebwerke sind schon mal gezündet. „And I’m floating in a most peculiar way / And the stars look very different today …“

www.volkstheater.at           Video: www.youtube.com/watch?v=_zPDiCmq4Pw

  1. 9. 2021

TheaterArche: Odyssee 2021

September 11, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume

Eike N.A. Onyambu, Helena May Heber, Roberta Cortese, Bernhardt Jammernegg, Pia Nives Welser, Marc Illich und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Es wäre nicht Jakub Kavin, wenn er nicht wieder etwas Besonderes in petto hätte. Der Theatermacher, der seine TheaterArche als einziger am ersten möglichen Tag nach dem Kulturlockdown zur Premiere des überaus passenden Rückzugsstücks „Hikikomori“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=40634) öffnete, hat mit seinem Team nun die „Odyssee 2021“ erarbeitet. Ein Stationentheater, dessen erste zum Prolog ein jeweils anderer Ort im sechsten Bezirk sein

wird, diesmal war’s der Fritz-Grünbaum-Platz vorm Haus des Meeres, bevor es in die Münzwardeingasse 2 geht. Uraufführung ist heute Abend, www.mottingers-meinung.at war bei der gestrigen Generalprobe. Und so beginnt die Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume. Zu Homer, Dantes „Göttlicher Komödie“, Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und natürlich James Joyces „Ulysses“, hat Kavin, weil ihm das alles zu männlich konnotiert war, als weibliche Gegenstimmen die Autorinnen Marlene Streeruwitz, Miroslava Svolikova, Lydia Mischkulnig, Kathrin Röggla, Theodora Bauer, Margret Kreidl und Sophie Reyer eingeladen, Texte für die „Odyssee 2021“ zu verfassen.

„Mit dem Resultat“, so Kavin im Gespräch über sein nunmehriges „Frauenstück“, „jetzt vier Odyssas, zwei Penelopes und eine Lucia Joyce zu haben, Lucia, die Tochter von James Joyce, eine Tänzerin, die mit 30 als schizophren diagnostiziert wurde und 50 Jahre in diversen psychiatrischen Kliniken zubrachte.“ – „Errrrrrrrrrrrr wiederholt sich. Sch! Schlauch, Schlund, Schlamassel. Der Schlüssel zum Ödipuskomplex.“ (Margret Kreidl)

Sieben Performerinnen und sieben Performer, Roberta Cortese, Max Glatz, Claudio Györgyfalvay, Elisabeth Halikiopoulos, Helena May Heber, Marc Illich, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Eike N.A. Onyambu, Amélie Persché, Pia Nives Welser und Charlotte Zorell, dazu Multiinstrumentalist Ruei-Ran Wu, die meisten davon erstmals im TheaterArche-Engagement, gestalten die Collage. Eine Reise ins Ungewisse, Unbekannte, Untiefe, die sich für jede Zuschauerin, jeden Zuschauer des in drei Gruppen aufgeteilten Publikums anders gestaltet.

Choreografin Pia Nives Welser, hi.: Roberta Cortese und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg im Inferno mit Max Glatz, Manami Okazaki und Charlotte Zorell. Bild: © Jakub Kavin

Roberta Cortese unter Höllentieren: Claudio Györgyfalvay, Max Glatz und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg, Roberta Cortese, Charlotte Zorell und Pia Nives Welser. Bild: © Jakub Kavin

Man selbst strandet zuerst im Irish Pub, die Ausstattung aller Räume ist von Schauspielerin und Bildhauerin Helena May Heber, denn wie stets hat Kavin interdisziplinär tätige Künstlerinnen und Künstler um sich versammelt, strandet im Irish Pub also, wo man aber nicht etwa Leopold Bloom, sondern in Marc Illich und Tom Jost zwei Raskolnikows begegnet, die Serviererin-Prostituierter Sonja, Pia Nives Welser, mit Marc Illich und Claudio Györgyfalvay auch für die Choreografien zuständig, und Barkeeper Johannes Blankenstein bei Wodka und Whiskey vom Totschlag der Pfandleiherin berichten.

Dass dabei auch Russisch gesprochen wird, ist in der TheaterArche Programm, später wird’s noch Monologe in Englisch, Italienisch und Japanisch geben, Eike N.A. Onyambu rappt Amanda Gormans Amtseinführungsrede für Joe Biden: „We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Roberta Cortese klagt im „Inferno“: „ich bin verwirrt gewesen, das kommt doch vor. ich hatte die mitte des lebens erreicht, die mitte des horizonts, den halben weg. oder, wo sonst bin ich hier?“ (Miroslawa Svolikova).

Koloratursopranistin und TheaterArche-Co-Leiterin Manami Okazaki spricht und singt zur AKW-Katastrophe in Fukushima: „Die Natur schlug zu und traf das Kernkraftwerk. 120 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt bin ich aufgebrochen und wusste wohin. In ein Zelt. Und was wird sein?“ (Lydia Mischkulnig). Kavin hat den Begriff Odyssee weit gefasst, vom antiken Inselhopping zur Irrfahrt zu sich selbst zur Rückkehr in ein verseuchtes Land.

Bernhardt Jammernegg als Teiresias. Bild: © Jakub Kavin

Fukushima-Monolog von Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Elisabeth Halikiopoulos im Spiegel-Boudoir. Bild: © Jakub Kavin

Bildhauerin Helena May Heber. Bild: © Jakub Kavin

„Es geht mir um die Heimatsuche, die geografische wie die innere“, sagt er. „Meine Figuren sind Weitgereiste, Wartende, vom Schicksal verwehte, Anti-Heldinnen und -Helden, die fehlgehen, wo immer der Mensch nur irren kann. Das heißt“, unterbricht er sich, „meine Figuren sind es nicht, wir sind ein Produktionskollektiv, bei dem alle in die Rolle das Ihre einbringen. Ich vertraue den Spielerinnen und Spielern den Text an, damit sie ihn mit ihren eigenen Subtexten zum Leben erwecken.“

Derart ist die Performance von der ersten Minute an intensiv, durch die Nähe zum Geschehen auch intim, meint: auf spezielle Weise immersiv, die TheaterArche gewohnt innovativ. Weiter geht’s in den Theatersaal, wo sich im von Tom Jost und Nagy Vilmos gesprochenen „Inferno“ Roberta Cortese und Bernhardt Jammernegg in Höllenqualen winden. TheaterArche, das ist immer auch Körpertheater, hier kriecht ein Ensemble aus Unterweltsfratzen gleich Totentieren auf die Unglücklichen zu. Grausam-poetisch ist das, enigmatisch, aufregend, und so findet man sich in der persönlichen Lieblingsschreckenskammer wieder.

Einem Dostojewski’schen Spiegel-Boudoir mit Elisabeth Halikiopoulos als frech-frivole Molly Bloom, Charlotte Zorell als Reitgerten-bewehrte Domina und Nagy Vilmos mit Beißkorb – pst, mehr soll da nicht verraten sein. Nur so viel, um Sartre zu bemühen: Die Hölle, das sind die anderen …

Die Raskolnikows Marc Illich und Tom Jost parlieren im Irish Pub auch auf Russisch. Bild: © Jakub Kavin

Selbst das Klavier ist gestrandet: Amélie Persché, Nagy Vilmos und Charlotte Zorell. Bild: Jakub Kavin

Als Reitgerten-bewehrte Domina mit einem Stammkunden: Charlotte Zorell mit Nagy Vilmos. Bild: © Jakub Kavin

Endlich Penelope und Odysseus: Helena May Heber und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Die „Odyssee 2021“ dreht sich kaleidoskopisch um die Achse Homer, bei Kavin reimt sich selbst noch Amanda Gorman aufs Gorman-Gilbert-Schema zum „Ulysses“, Homer also, als dessen antiker Odysseus Claudio Györgyfalvay durch das Labyrinth der Räume rennt, gehetzt von Kirke und eigenen Dämonen, einen Ausweg erflehend, doch von Kavins Assoziationsketten in Fesseln geschlagen. Und apropos, schlagen: Im Foyer findet man erneut Helena May Heber, die während der zweimonatigen Spielzeit einen 300-Kilo-Stein zur Muttergöttin meißeln wird, begleitet von Amélie Persché, mit 17 Jahren die jüngste im Ensemble, auf der Bratsche. Zwei Frauen, Homers Penelope und Theodora Bauers Penny: „Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer, immer warten. Ich hasse warten.“

Am Ende, alle versammelt im Theatersaal, gesellt Jakub Kavin zu seinen Protagonistinnen und Protagonisten die Antagonisten: Bernhardt Jammernegg als mittels Kontaktlinsen erblindeter Teiresias im Fake-News-Anzug, Tom Jost als Swidrigailow, Nagy Vilmos als Leopold Bloom und Max Glatz, eben noch Polyphem, als Joyces „Telemach“ Stephen Dedalus. Für Marc Illich als Zukünfigen Odysseus hat Hausautor Thyl Hanscho einen Text geschrieben. So endet nach drei Stunden ein herausforderndes, faszinierendes Theaterereignis, ein Gesamtkunstwerk, dessen Genuss man nur von ganzem Herzen empfehlen kann.

„Zwischen Skylla und Charybdis lassen wir die Ketten zur Brücke werden. Wir befreien die Ungeheuer und damit uns von der Angst in die alten Sprachen zurückzugeraten.“ (Marlene Streeruwitz)

Vorstellungen bis 11. November. Den Spielort des Prologs erfährt man jeweils beim Kauf des Tickets. www.theaterarche.at

TIPP:

Von 11. September bis 11. November findet in der TheaterArche außerdem das Odyssee Festival statt. Zu den 14 Aufführungen zählen: Dione – mit Koloratursopranistin Manami Okazaki präsentiert Scharmien Zandi erstmals alle Elemente des internationalen Kunstprojekts als Opernperformance. Lost My Way von und mit Saskia Norman, Regie: Elisabeth Halikiopoulos. Das Tanztheaterstück Mythos. The Beginning of the End of the Story von Nadja Puttner und Unicorn Art. Das Schauspiel- und Figurentheater Der Sturm, für Kinder ab 6 Jahren, frei nach Shakespeare und inszeniert von Eva Billisich. Stilübungen – Raymond Queneaus Meisterwerk als Theaterstück. Und von 28. bis 30. Oktober Das Dostojewski Experiment, eine szenische Collage der TheaterArche mit großem Ensemble, ein Fest zum 200. Geburtstag des russischen Romanciers.

www.theaterarche.at

  1. 9. 2021

Bronski & Grünberg: Schuld & Sühne

Januar 8, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Aus den Scherzen eine Mördergrube gemacht

Rodion Romanowitsch Raskolnikow hat sehr eigene Rechtfertigungen für den „gerechten“ Mord an jenen Menschen, die er „Laus“ nennt: Charlotte Krenz. Bild: © Philine Hofmann

Als Ansager im Biedermannspulluder, wie Stefan Lasko da anfangs vor dem roten Theatervorhänglein steht, als Bronski-&-Grünberg-Antwort auf Michael Palin, ist vollkommen klar, dass sich hier wieder ein starkes Stück erlaubt wird. Monty Python‘s Staged Punk sozusagen, sind die Bronskisten doch für die Wiener Bühnenwelt, was die Sex Pistols dereinst für die Spikesszene waren – nur weniger sid-vicious denn absurd und grotesk. Diesmal haben, soweit’s Text und Regie betrifft, zwei von drei Prinzipale selbst Hand angelegt, Alexander Pschill und Kaja Dymnicki, alldieweil Julia Edtmeier schauspielert. Worin, das will Lasko ja erklären, im Werk eines berühmten

Russen, wobei geschlagene drei Stunden lang weder an Ausstattung noch Mitwirkenden gespart werde. „Tolstoi!, Tschechow!, Dostojewski!“, klingt’s von diesen aus dem Off, ja, bei jenen Literaten und deren üppigem Personal kann man schon in die Irre gehen, wie Evelyn Hamann im North-Cothelstone-Hall-Sketch, aber tatsächlich wird „Schuld & Sühne“ – die Wiederaufnahme geboten. Frei nach Fjodors Feuilletonroman um den St. Petersburger Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow und dessen seltsamen Rechtfertigungen für den „gerechten“ Mord.

Und weil ein solches Mammutprojekt für das Müllnergassen-Tschocherl, zwar nicht punkto Intellekt und Irrwitz, aber was den Innenraum betrifft, sowieso zu groß ist, hat man sich gleich ins Guckkastenformat verfügt. Hinterm Hangerl nämlich verbirgt sich eine Handdrehbühne, die per Muskelkraft mal Studentenbude, mal das Zimmerchen der Pfandleiherin Aljona Iwanowna, mal Polizeistube ist. En miniature ist en détail eingerichtet, mit Schlüsselbord, Brausekopf, Blumentopf, Wassili Perows Porträt – und original Rasselbockkopf.

Die Axt im Haus hat Charlotte Krenz als Raskolnikow, sie nicht die einzig cross-besetzte, statt tief gefallener Hochschüler nun gescheiterter Schauspieler, den Aljona Iwanowna samt Schwester Lisaweta bereits als düsterer Tagalbtraum heimsuchen, bevor er überhaupt Geschäfte geheuchelt, dann sie hingemeuchelt hat. Krenz gibt den designierten Mörder mit nach rückwärts gegelter Langhaarmatte, sinister, fiebrig und mit selbstgefälligem Wahnsinnsgrinsen unterm ausgefransten Menjou-Bärtchen. Zum Belächeln wär‘ das, würde Krenz ihren Eigendünkler seine ideologischen Überlegungen über privilegierte Herren-Menschen, denen das „erlaubte Verbrechen“ an der „Laus“ als Geburtsrecht zusteht, nicht mit einem Zynismus Richtung Zuschauer raunen lassen, dass einem nicht jenseitig, sondern ganz jetztzeitig wird.

Boris Popovic, Julia Edtmeier, Alexander Jagsch, Charlotte Krenz, Marius Zernatto, Maddalena Hirschal. Bild: © P. Hofmann

Christian Gnad, Maddalena Hirschal, Alexander Jagsch, Marius Zernatto, Charlotte Krenz, Julia Edtmeier. Bild: © P. Hofmann

Das Totschlagargument bekommt am eigenen Leib bald die wucherische Zinseneintreiberin zu spüren, Doris Hindinger, die mit misstrauisch nach unten gezogenen Mundwinkeln die zu versetzenden Habseligkeiten des übelmeinenden Kunden in Empfang nimmt, eine bauernschlaue, ausgefuchste Alte, deren böse Blicke einen, wenn sie’s denn sprichwörtlich könnten, aus dem Leben beförderten. Wunderbar, wie sie bei jedem Türöffnen vorm ausgestopften Wiesel überm Türrahmen zusammenzuckt, als erkenne da ein Frettchen das andere. Der ganze Abend ist rappelvoll mit solcherlei stummfilmischem Slapstick, vollbelegt wie die Bühne, auf der sich – Platz ist in der kleinsten Kulturhütte – gezählte vierzehn Akteurinnen und Akteure tummeln.

Für Bronski-Verhältnisse erstaunlich werktreu haben Pschill und Dymnicki bei dieser Inszenierung gewerkt, freilich streichen sie, schreiben Rollen neu und um, lassen Soundeffekte von einem Speiseeiswagen, Overacting, Faxen- und Fratzenmachen zu, aber im Kern blieb’s beim Buch. Herr-lich ist Alexander Jagsch als Raskolnikows Mutter Pulcheria Alexandrowa, ein baumlanger Vamp mit inzestuösen Anwandlungen, eine Fleisch gewordene freudsche Traumdeutung, das Über-Ich im 180-Grad-Umbau, wenn sie schnippisch anmerkt, ihres Sohnemanns Depressionsanstrich beschmiere sogar die vierte Wand.

Im Bronski & Grünberg lässt das Publikum gern mit sich spielen, da wird aus den Scherzen im Wortsinn eine Mördergrube gemacht, bei dieser russischen Kasperliade, mit der die Bronskisten definitiv ein neues Level erreicht haben. Kim Schlüter gibt mit Kulleraugen die geistig zurückgebliebene, bei Dostojewski ergo kindliche Unschuld symbolisierende Lisaweta, Thomas Weissengruber Pulcheria Alexandrowas Verlobten Luschin als versnobten „Das wird man doch noch sagen dürfen!“-Neureichen, und stellt sich so als Kapitalist gegen den frühsozialistischen Fast-Sohn, und apropos Kapital: in einer Marx-Brothers-Hommage platzt dessen Kammerspiel-Kämmerlein mittlerweile als allen Nähten.

Ermittlungsrichter Porfirij wagt schon einmal ein Siegestänzchen: Florian Carove. Bild: © Philine Hofmann

Die Untoten und ihr Mörder: Doris Hindinger als Pfandleiherin, Kim Schlüter und Charlotte Krenz. Bild: © Philine Hofmann

Julia Edtmeier hat für sich eine Pate-streichelt-(ausgestopfte)-Katze-Szene erfunden. Sie spielt Raskolnikows Freund Rasumichin, ebenfalls erwerbsloser Mime, der gerade ein Engagement als Kindertheaterpferd hat und mit kriminalistischem Spürsinn den Täter um Kopf und Kragen redet, legt er doch Florian Carove als Ermittlungsrichter Porfirij und Marius Zernatto als dessen diensteifrig-dämmlichem Assistenten die heiße Spur zum Schuldigen. Carove gestaltet den Amtsträger mit seinem subtil-psychologischen Katz-und-Maus-Gehabe als eine Art Columbo. Allerdings hat er den Trenchcoat gegen Ballettschuhe getauscht – und seine wortverdrehenden Pirouetten beim Verhören des Verdächtigen sind schlicht spitze.

Maddalena Hirschals Mixcharakter ist irgendwie auch Dunja, jedenfalls Sofja Semjonowna Marmeladowa, als die sie immer aufs Neue betonen muss, bestimmt keine Prostituierte zu sein. Und während Stefan Lasko, auch dies Michael-Palin‘isch, auf bekochwütige, nachbarliche Nervensäge macht, erscheint aus dem Untergrund Claudius von Stolzmann als Marmeladow und räumt aus dem Unterbühnenraum, das Gesicht bald so hochrot wie Caroves tanzangestrengtes, eine komplette Wohnungseinrichtung, Stehlampe, Sitzkissen, Fernseher, auf die und wieder von der Spielfläche – wozu er dem darob nicht wenig irritierten Raskolnikow seine erlogene Lebensbeichte ablegt. Ein furioser Monolog, ein fantastisches Kabinettstück, ein Höhepunkt der Aufführung. Es macht Spaß zu sehen, mit wie viel Lust und Genauigkeit hier gearbeitet wird.

Boris Popovic, Christian Gnad und Patrick Weiss als weitere Hausbewohner, Schaulustige, Jagsch-Verehrer, Beamte ergänzen den Cast. Hindinger und Schlüter haben noch einen Auftritt als blutüberströmte Untote, Edtmeier liest die Reclam-Ausgabe von „Weh dem, der lügt“. Carove zerbricht sich in Zeitlupe den Kopf übers Schädelspalten, was mit Krenz zu Dialogen à la „Ich war in der Tat dort.“ – „Am Tatort?“ führt, bevor Raskolnikows „Anstrengungen im Sinne des allgemein-menschlichen Fortschritts“ gewürdigt werden, und er abgeführt wird. Dabei, im Bronski & Grünberg kann die übliche Lösung nicht die gängige sein, und so enttarnt sich als wahrer Mörder schließlich … weil gleichermaßen Geldschulden bei und daher Hass auf die Pfandleiherin … Großartig!

 

Trailer: vimeo.com/353973287           www.bronski-gruenberg.at

  1. 1. 2020

Ed. Hauswirth im Gespräch

November 17, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Inszeniert am TAG „13 oder Liebt eure Volksvertreter!“

Ed. Hauswirth Bild: dasTAG

Ed. Hauswirth
Bild: dasTAG

Nach seinem Erfolg mit „Der diskrete Charme der smarten Menschen“ setzt Ed. Hauswirth, künstlerischer Leiter des Grazer Theater im Bahnhof, im Wiener TAG seine Untersuchung des Lebensgefühls der Jetztzeit fort. „13 oder Liebt eure Volksvertreter!“ heißt seine neue Produktion, die am 20. November uraufgeführt wird. Im Zentrum steht eine Frau, die sich für eine Karriere in der Politik entschieden hat. Man erfährt von ihrem Aufstieg, ihren vermeintlichen Erfolgen, aber auch von ihrem Missbrauchtwerden durch das Umfeld und ihrem eigenen Einsatz von Missbrauch. Auf ihrem Weg opfert sie alles, was ihr lieb war. Der Abend, dem Filmbilder von Fassbinder, Motive bei Dostojewski und Interviews mit politischen Quereinsteigern zugrunde liegen, wird zur Geschichte einer schleichenden persönlichen Verbiegung bis zum endgültigen Bruch. Es spielen Jens Claßen, Michaela Kaspar, Julian Loidl, Raphael Nicholas, Georg Schubert, Elisabeth Veit und Petra Strasser auf der Leinwand. Ed. Hauswirth im Gespräch:

MM: Sie sind also der eine Mensch, der Mitleid mit Politikern hat?

Ed. Hauswirth: Ja. Weil der erschütterte Glaube an die Politik, das Denken, dass jeder, der in die Politik geht, verdächtig ist, mittelfristig ein Problem für die Gesellschaft sein wird. Nicht jeder, der Politiker wird, ist „der Böse“, es gibt durchaus Menschen, die mit Enthusiasmus an die Aufgabe herangehen, weil sie etwas bewirken wollen.

MM: Sie haben für „13 oder Liebt eure Volksvertreter!“ Interviews mit Politikern geführt. Nicht zum ersten Mal bauen Sie einen Text auf Interviews auf. Ist das Methode?  

Hauswirth: Es ist eine Methode, mit der ich regelmäßig arbeite, aber es ist nicht die einzige. Eine Politikerin hat mir einmal im Zug von Wien nach Graz ihre Geschichte erzählt, da dachte ich, das ist interessant, damit sollte man sich einmal beschäftigen. Also haben wir Interviews mit politischen Quereinsteigern und -aussteigern geführt. Ein Quereinsteiger ist kein Berufspolitiker, er ist nicht aus dem Kader erwachsen, und er kann auch leichter wieder zurück in ein früheres Berufsleben. Ohne goldenen Übergang in den Aufsichtsrat. Diese Menschen fragen sich daher: Will ich das wirklich? Soll ich mir das antun? Was habe ich davon? Das war die Ausgangssituation.

MM: Sind Quereinsteiger freier im Sinne des Parteigehorsams?

Hauswirth: Das ist ein Vorteil. Wenn Abhängigkeiten bestehen – und kadergeschulte Leute sind hundertprozentig abhängig, wenn die wieder in die freie Wildbahn entlassen werden, sind sie hilflos -, ist das immer zum Nachteil des Einzelnen. Quereinsteiger wiederum knabbern vielleicht mehr an Enttäuschungen; viel macht ihnen Eitelkeit zu schaffen, im Sinne von: Wer darf reden? Wer vertritt eine Partei in der Öffentlichkeit? Viele kämpfen mit der Einsamkeit, weil eine Präsenz erwartet wird, unter der die Familie leidet. Es geht um Dislokation und mehr. Der Abend ist aber mehr ein Denkversuch in diesem Feld und nicht eine soziologisch korrekte Beschreibung der Zustände.

MM: Wie würden Sie Ihr Leidensdruckstück nennen?

Hauswirth: Salontragödie mit Humor.

MM: So gefragt, weil das Theater im Bahnhof die gleichnamige TV-Show hatte: Wieviel Show ist Demokratie?

Hauswirth: Demokratie ist Show. Die Gesellschaft will Spektakel sehen, also hat die Politik in den letzten Jahren einen sehr starken Showaspekt bekommen. Wer am lautesten schreit, wer am besten schauspielert, ist der größte Wahlgewinner. Es ist degeneriert, aber der Öffentlichkeitswert ist die eigentliche Währung, mit der bezahlt wird. Wer das nicht kann, kommt nicht vor, bleibt im Hintergrund, hat keine Macht. Die Frage ist heute nicht mehr, wie die Macht ausgeübt wird, sondern wie die Macht performt wird. Deshalb braucht man so viele Agenturen, so viele Berater, um den Politikern ihre Wahrhaftigkeit zu nehmen. Gut ist, wenn eine Person es schafft, in ihrer weltanschaulichen Haltung integer zu sein, und eine Performerin in der Öffentlichkeit. Aber das können wenige.

MM: Das Publikum ist der Wähler. Wie funktioniert Ent-Täuschung da?

Hauswirth: Bezüglich des Stücks? Das werden wir Ende der Woche wissen (er lacht). Ernsthaft, noch einmal, ich glaube nicht, dass Politiker per se Böses wollen. Die legen oft einen langen Weg zurück, um ihre Anliegen von A nach B nach C zu bringen. Ich traue vielen zu, dass sie schweren Herzens Dinge nicht ansprechen, weil man ihnen sagt, dass sie dann nicht gewählt würden. Man könnte ihnen also einmal freundlich begegnen, nicht immer nur mit Kritik. Ein Politiker, der die Wähler an seiner Seite weiß, würde auch viel weniger an Einflussnahme durch die eigene Partei, die Wirtschaft etc. leiden. Dann könnte das Primat der Wirtschaft über die Politik und das Primat der Show über die Wirklichkeit endlich beseitigt werden. Die Gesellschaft ist längst bei Dingen angekommen, die von Philosophen in den 1960er-Jahren als utopisches Ferment wahrgenommen wurden.

MM: Heißt, dem Politiker, der agiert, wie das Krokodil vom Kasperl, dem wird recht gegeben?

Hauswirth: Stimmt. Es ist eine große Kunst, den richtigen Ton zu finden, zwischen der leeren Worthülse und der echten Meinung, für die man dann hoffentlich nicht erschossen wird. Das ist ein schmaler Grat.

MM: Soll das Stück beim Publikum Verständnis für Politiker erzeugen?

Hauswirth: Gute Frage. Ein bisschen schon, ja. Aber nicht beim Politiker als Kategorie. Es wird ein Empathieversuch für die eine von Petra Strasser gespielte Politikerin, die zu sehen sein wird. Im Sinne von: verstehe, was du kennenlernst. Unsere Politikerin wird eine Frau sein, die sehr gut Dominanz ausüben kann, damit muss man sich erst einmal anfreunden.

MM: Sie haben in den Text Motive von Rainer Werner Fassbinder und Fjodor Dostojewski verwoben. Wie und wo passt das?

Hauswirth: Von Dostojewski sind es zwei, drei Textstellen, das Motiv der Depression, das Motiv der Entfremdung, Einsamkeit, Tod, Sehnsucht – das sind Ausgangspunkte des Abends. Er wird aber nicht depressiv sein, weil ich immer Humor brauche. Schwarzen Humor, der ist ja Wien nicht fremd. Dort, wo eine Beziehung zu sich verloren geht, wo Entfremdung stattzufinden beginnt, wenn man immer nur außer sich sein muss, damit man vollkommen funktioniert, gibt’s dahinter Leere, Burnout, Sinnentleerung. Das hat mit Dostojewski und Fassbinder zu tun. Bei Fassbinder haben wir uns mit seinem Film „In einem Jahr mit 13 Monden“ beschäftigt, den er nach dem Selbstmord seines Lebensgefährten gedreht hat. Darin kämpft der Transsexuelle Erwin/Elvira um seine Suche nach Identität: „Ich will so sein, wie ihr mich haben wollt“, „für Liebe gebe ich alles“, selbst eine Geschlechtsumwandlung. Dieses Geliebtwerdenwollen hat mit Liebe nichts mehr zu tun. Das ist nur noch eine Aussage von Liebe. Wir eignen uns aus dem Film ein paar Bilder an, um diesen Komplex zu erzählen.

MM: Sie sagen ständig „wir“ statt „ich“. Wie funktioniert die Arbeit? Sie schwärmen aus und holen die Interviews ein, dann wird gemeinsam ein Text geschrieben?

Hauswirth: In gemeinsamer Autorschaft mit den Schauspielern Jens Claßen, Michaela Kaspar, Julian Loidl, Raphael Nicholas, Georg Schubert, Elisabeth Veit und Petra Strasser und der Dramaturgin Isabelle Uhl. Das ist eine Kollektivarbeit, ich kann ohne Ensemblefeedback nicht arbeiten, ich bin immer so was wie Fußballtrainer oder Jungscharleiter. Unsere Arbeitsprozesse dauern halt länger als sechs Wochen Proben. Wir pirschen uns heran. Wir beginnen bei einer Person, die uns interessiert, von der ausgehend suchen wir weitere. Bei der Transkription der Interviews suchen wir Motive, die sich mit Literatur verbinden lassen, als Inspirationsquelle und Zitat zu den Realmomenten. Am liebsten ist mir, wenn der Zuschauer gar nicht erkennt, was was ist, aber man erkennt’s natürlich mitunter am Duktus, weil es mir wichtig ist, Texte konsistent zu lassen. Es soll auf der Bühne noch den Ton haben, mit dem es einmal gesprochen wurde.

MM: Wie gehen Sie an die Interviews heran?

Hauswirth: Man muss schauen, wo die Ellipse ist, wo die Auslassung ist. Und im Gegensatz zum Journalisten beispielsweise, der genau da dann nachfragt, ist die Auslassung für mich dramaturgisch interessant. Stille ist spürbar und spannend. Man muss jedenfalls sehr respektvoll vorgehen. In Graz erarbeiten wir gerade ein Stück über die Rechte, eine Komödie rechts der Mitte. Da kommst du in die Lage, dass du wohin gehen musst, wo du nicht hin willst. Du darfst aber trotzdem in keinen kritischen Streit mit der Person gehen, damit deren Stimme hörbar wird. Wie sie sich halt selbst erzählt. Da gibt es Wiedererkennungsmerkmale, die gleiche Semantik, Stereotype, die man von Rechtspopulisten aus dem Fernsehen kennt. Aber wenn er über sein Hobby spricht, öffnet er sich, da verteidigt er sich nicht und sagt mehr über seinen Charakter aus als sonst. Und dann serviert er seine biologistischen Grauslichkeiten. Das kann man dann bearbeiten und verarbeiten. Wir wollen ja keine wissenschaftlich haltbare Analyse, sondern einen Zeitbefund abgeben, der zum Denken anregt.

MM: Und die Abgrenzung zum Dokudrama ist?

Hauswirth: Die Fiktion. Wir haben eine Räuberhaltung, wir eignen uns die Quellen an, um daraus etwas zu schaffen, was noch nie da war. Wir benutzen dokumentarische Ästhetik, aber durch die Montage ist es bereits Fiktion.

MM: Wann ist eine Produktion in diesem Sinne, nicht im kommerziellen, für Sie erfolgreich?

Hauswirth: Wenn’s Reagenz zwischen Publikum und Bühne gibt. Wenn unwillkürlich ein chemischer Austausch stattfindet, wenn’s eine Feedbackschleife gibt, dann hat der Abend etwas, das irgendwie echt ist. Das ist ein Erfolgskriterium: wenn das Publikum denkt, ja, das stimmt irgendwie, ja, das beschäftigt uns. Wenn man eine Haltung transportieren kann. Ich glaube ja, dass ein Stück idealer Weise im Publikum stattfinden sollte, statt auf der Bühne. Und natürlich will ich auch, dass es als lustig empfunden wird. Stücke sollten sich ins Herz und ins Hirn schreiben. Mehr verlange ich gar nicht.

MM: Nützt der „Nestroy“ etwas?

Hauswirth: Der Autor sowieso immer. Der Preis, den ich für „Der diskrete Charme der smarten Menschen“ bekommen habe, auch. Er hat mir in der Steiermark Aufmerksamkeit gebracht, da ist so ein steirischer Patriotismus ausgebrochen. Der Nestroy-Preis ist Nutzen und Fluch. Einige Zeit hing er wie ein Schatten über uns, weil wir Erfolgsdruck haben. Diese Phase hat sich gottlob wieder aufgelöst, jetzt gehen wir’s am Freitag an.

MM: Wie soll das Publikum rausgehen? Mit dem festen Vorsatz das nächste Mal zu wählen?

Hauswirth: Unbedingt. Wenn das gelingt, wäre ich schon zufrieden. Wobei ich keine Ahnung habe, ob der Abend das leistet.

MM: Na, ich setze Sie ein bisschen unter Erfolgsdruck.

Hauswirth: Ja, ich spür’ schon …

Trailer: vimeo.com/145797993

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Wien, 17. 11. 2015